Ist Weihnachten ein gutes Thema für Schriftsteller?
An Weihnachten kommen die Menschen zusammen, dabei gibt es viel zu erzählen – nicht nur, weil es Konflikte gibt. Ich interessiere mich für Weihnachten und das Fest, weil ich verstehen möchte, warum Weihnachten so aufgeladen und für viele so problematisch ist.
David Wagner
Wie ist das für Sie?
Als Kind fand ich Weihnachten großartig. Später habe ich es gehasst und bin vor den in meiner jugendlichen Sicht verlogenen Feierlichkeiten geflohen oder einfach nicht mehr zu meinen Eltern gefahren. Als ich Vater wurde, selbst Familie hatte, fing Weihnachten auch für mich wieder an. Und vieles wurde wieder so gemacht, wie ich es als Kind erlebt hatte. Das ist wohl die Weihnachtstradition.
"Sie wollte zeigen, was sie erreicht hat"
Sie haben gerade in der edition chrismon das Buch "Alle Jahre wieder" veröffentlicht: Ein Gespräch eines Vaters mit seiner erwachsenen Tochter. Der Vater fragt: Kommst du an Weihnachten zu mir? Die klassische Frage eines Patchworkvaters. Auch Sie haben eine erwachsene Tochter und sind mit der Mutter nicht mehr zusammen.
Klar, das ist Material aus meinem Leben: Patchwork in mehreren Generationen.
Der Vater im Buch schwelgt in Erinnerungen an Weihnachten in seiner Kindheit in Bonn vor 40, 50 Jahren. Sie sind auch in der Bonner Republik aufgewachsen. Wie wurde damals in Ihrer Familie gefeiert?
Es war eine klassische bürgerliche Heiligabend-Inszenierung mit großem Tannenbaum, herausgeputzten Kindern und Kirchgang vor der Bescherung. Ganz wichtig war, dass musiziert wurde, wir Kinder mussten auf unseren Instrumenten vorspielen, Weihnachtslieder wurden gesungen, gemeinsam. Und es gab viele Geschenke, was für Kinder ja wichtig ist, jeder schenkte jedem was.
Sie sagen, da wurde etwas inszeniert. Für wen?
Für sich selbst, die Familie wollte sich zeigen, was sie aufführen kann und sich bestätigen, eine Weihnachtsfamilie wie aus dem Fotoalbum zu sein. Später habe ich verstanden, dass meine Mutter das große Weihnachtstheater auch für ihre Eltern aufgeführt hat. Die waren immer dabei. Sie wollte ihnen zeigen, was sie erreicht hatte. Für meine Mutter, Jahrgang 1937, wird es wohl auch eine Kompensation für ihre eigenen mageren Kriegs- und Nachkriegsweihnachten gewesen sein.
Ich kenne auch so eine gewisse Konkurrenz unter Nachbarn …
… wer hat den schönsten Baum, das beste Essen? Familien zeigen und geben an mit dem, was sie haben und können. Dazu gehört selbstverständlich auch das opulente Essen, das sich mit den Jahren steigerte, ich erinnere mich an Heringssalat, Krabbencocktail, gebeizten Lachs, schließlich Jakobsmuscheln.
Der Lachs war das Zeichen für sozialen Aufstieg. Wie wurde er bei Ihnen zubereitet?
Ich erinnere mich an meine kindliche Verwunderung, dass dieser Fisch quasi roh gegessen wurde. Katholisch gesehen ist Heiligabend ja ein Fastentag, deshalb sollte es kein Fleisch geben – was mir in der Vorfreude auf die Geschenke aber egal war.
Sind Sie katholisch?
Ich stamme aus einer evangelischen Familie, bin genetisch aber zum Teil katholisch. Vor dem Krieg hatte meine katholische Großmutter einige Fehlgeburten, ein weiteres Kind starb früh. Der Priester sagte zu ihr, Gott bestrafe sie so für ihre Sünden. Dieser Schwachsinn hat meinen Großvater so aufgeregt, dass beide evangelisch wurden. Typisch katholisch war, dass unter unserem Tannenbaum immer eine Krippe stand.
"Lichtzeichen für die Soldaten"
Aus welcher Zeit stammt diese bürgerliche Vorstellung von Weihnachten?
Es gab sie schon – wo es Bürgertum gab – im 18. Jahrhundert, verstärkt hat es sich im 19. Jahrhundert. Der Weihnachtsbaum hat sich interessanterweise erst nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 überall im neuen Deutschen Reich durchgesetzt, die preußische Propaganda hatte ihn zum Lichtzeichen für die Soldaten erklärt, die Weihnachten im Felde verbringen mussten.
Mit dem Tannenbaum gegen die Franzosen?
Ja, der Weihnachtsbaum galt als urdeutsch, protestantisch, ja als Symbol des Deutschtums. Katholiken hatten bis dahin eher keine Weihnachtsbäume in ihren Stuben. Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben diese Unterschiede sich aber fast verloren. Auch Katholiken verschickten irgendwann Weihnachtskarten, auf denen die Familie sich um den leuchtenden Baum herum versammelt.
Diese bürgerliche Kleinfamilie, die dann auch besonders heil sein musste?
Ja, die heile Familie versammelt sich zum Fest im Wohnzimmer, dass die bürgerliche Wohnkultur auch erst erfinden musste. Ich erinnere mich an Weihnachtsgeschichten meiner Großmutter, die von einem Wohnzimmer in ihrem Haus erzählte, das sie und ihre Geschwister überhaupt nur an Fest- und Weihnachtstagen betreten durften.
Warum halten wir auch an dieser Inszenierung der heilen Familie so fest? Wir wissen doch, dass Familien auch ihre abgründigen Seiten haben.
Maria, Josef und das Kind in der Krippe liefern uns das Bild der Familie schlechthin. Einer Kleinfamilie, die ironischerweise ja auch eine Art Patchworkfamilie ist. Über Jahrhunderte nutzte die Kirche dieses Bild auch dazu, um das Ideal der Kleinfamilie durchzusetzen – verständlich, die Institution Kirche muss die Macht von Großfamilien oder Clans fürchten, die sich viel schwerer in eine Gemeinde integrieren lassen. Die Kirchengemeinde soll Gemeinschaft stiften, nicht der familiäre Großverband oder unklare Familienstrukturen, in denen am Ende gar nicht klar ist, wer zu wem gehört.
Mehr über Weihnachten im Webinar mit David Wagner und Johann Hinrich Claussen
Jede zweite Ehe wird geschieden, die Familienformen werden vielfältiger.
Heute könnte eigentlich jeder selbst entscheiden, wer und wo seine Familie ist und wie er oder sie Weihnachten feiern möchte. Ob mit Freunden, mit Partnern, Ex-Partnerinnen, mit eigenen Kindern oder dazugekommenen Kindern. Es ist doch nicht schlimm, wenn Kinder zwei- oder dreimal Weihnachten feiern, weil sie mehrere Familien haben. Es muss halt nur verhandelt werden.
Die Verhandlungen gab es früher ja auch: Welche Oma wird wann besucht?
Kommen die Schwiegereltern? Und die anderen Großeltern werden aufs nächste Jahr vertröstet … an Weihnachten kristallisiert sich immer wieder neu heraus, wer und wo die eigene Familie eigentlich ist.
"Familien werden durch Geschichten zusammengehalten"
"Familien sind Erzählungen, Fiktionen, die sich die Familienmitglieder so lang auftischen, bis alle dran glauben", sagt der Vater in Ihrem Buch. Was meinen Sie damit?
Ich glaube, dass Familien durch die Geschichten zusammengehalten werden, die Familienmitglieder sich gegenseitig erzählen: Weißt du noch … und dann hat … Wer sich nicht mehr trifft und sich nichts mehr erzählt, verliert den Familienzusammenhalt. Weihnachten bietet die gute Gelegenheit, sich alle möglichen Familiengeschichten zu erzählen, sie zu vergleichen, anzupassen und zu aktualisieren. Zieht ein Kind aus, kommt eine neue Geschichte dazu.
Entkommt man Weihnachten, wenn man verreist?
Ich glaube, man hat sein Weihnachten immer dabei. Auch Erzählungen von Weihnachtsfrust und Weihnachtsflucht enden meist damit, dass schließlich doch eine Art Weihnachtsfest gefeiert wird.
Der Vater im Buch und auch der Autor haben mal Heiligabend auf dem Flughafen von Schanghai verbracht. Wie war das?
Wenn ich mich richtig erinnere, war ich über Wechat mit einer Freundin verbunden, die in Thüringen eine klassische Weihnacht feierte – aber vielleicht habe ich mir das auch ausgedacht. Ein großer leerer Flughafen in Asien kann an Heiligabend auch wie ein riesiger Stall wirken, nur Ochs und Esel fehlten. Im Flugzeug kam dann tatsächlich ein als Weihnachtsmann verkleideter chinesischer Steward in roter Kutte und mit angeklebtem weißem Bart – und ich war gerührt.
Hat Weihnachten mit der Sehnsucht nach Trost und Geborgenheit zu tun?
Auf jeden Fall. Wir feiern Weihnachten nicht zufällig rund um den kürzesten Tag des Jahres. Persönlich würde ich ohne so ein Fest mit der Familie die dunkle Jahreszeit gar nicht überstehen.
Nils Husmann über das erste Weihnachtsfest ohne Eltern
Die Vorstellung, das Fest müsste perfekt und harmonisch sein, stresst viele. Wie entkommt man dem?
Versuchen, sich dem Druck entziehen, dass alles genau so oder so und wie im kitschigsten Weihnachtsfilm ablaufen müsste. In dem Buch erzähle ich zum Beispiel von einer improvisierten Bescherung mit der Tochter auf einer verschneiten Parkbank. Das war auch mal schön.
"Vielleicht weniger Kleinfamilienfeiern"
Kann man den Stress reduzieren, wenn man Weihnachten auf seinen Kern reduziert?
Was wäre denn der Kern? Die Geburt Jesu Christi? Oder dass wir uns beschenken? Vielleicht bräuchte es einfach weniger Weihnachtsüberforderung. Vielleicht weniger Kleinfamilienfeiern, sondern größere, lockere Weihnachtspartys, wie sie in anderen Ländern üblich sind.
Aber Kinder sind Traditionalisten. Für Trennungskinder kann das schon ganz schön doof sein, wenn sie erst zur einen Familie müssen, dann zur anderen. Die erleben die Brüche gerade an Weihnachten besonders stark.
Aber diese Brüche sind doch auch ein Gewinn, ja, von "Bruch" zu sprechen, impliziert ungerechterweise, dass es eine heile Familie geben müsste. Gesellschaftliche Realität ist aber doch, dass viele Kinder es gar nicht anders kennen: Sie haben zwei oder zweieinhalb Familien, die sich überlagern. Die Tochter im Buch hat ein starkes weihnachtliches Traditionsbewusstsein – und ist trotzdem Anhängerin eines fluiden Weihnachtskonzepts mit flexiblen Formen. Ich kann nur sagen, mir gefällt das.
Wie feiern Sie dieses Jahr Weihnachten?
Wahrscheinlich am zweiten Weihnachtsfeiertag mit Tochter, Nichte, Onkel und Tante. Und ein paar Freunden. Oder doch in der Türkei? Mal sehen.
Was steht auf Ihrem Wunschzettel?
Dass die Tochter kommt und wir ein paar schöne Tage haben.