Anfänge - Jetzt ist die Mutter unter Beschuss
Jetzt ist die Mutter unter Beschuss
Privat
Jetzt ist die Mutter unter Beschuss
Die Tochter lebt in Berlin, die Mutter in Charkiw. Telefonate voller Sorge. Und unerwarteter Stärke.
Privat
06.04.2022

Valeriya Maryuschenko, 56:

Wenn ich erzähle, kommen mir schon wieder die Tränen. Ich mache mir solche Sorgen um meine Mutter Nina in Charkiw. Sie ist 85, schlecht zu Fuß, hat hohen Blutdruck – und keine Tabletten mehr. Charkiw wird massiv beschossen.*

Wir in Berlin, also mein 33-jähriger Sohn, seine Lebensgefährtin und ich, bekommen von Freunden Tag und Nacht Anrufe, Fotos und Videos von zerbombten und brennenden Gebäuden, von verletzten und toten Menschen. Und jetzt mitten in all dem Irrsinn meine Mutter Nina, ohne uns. Geboren ist sie 1937, bereits als Kind hat sie einen Krieg erlebt, sie wurde mit ihrer Familie nach Sibirien evakuiert.

Kurz nach Beginn der Angriffe am 24. Februar hat eine Nachbarin im Hochhaus meine Mutter abgeholt und in den Keller eines Nachbarhauses begleitet. Es war schrecklich, erzählte sie mir, dort hatten sich Frauen und Kinder in Panik versammelt, es gab keine Toilette, sie sind wohl einfach in andere Kellerräume gegangen, wenn sie ganz dringend mussten, es gab Müll und Ratten.

Das Bersten der Fenster hörte ich in Berlin durchs Telefon

Meine Mutter hat bei unseren Telefonaten nicht einmal geweint. Sie ist unglaublich! Sie hat im Keller mit den ­Kindern gespielt, und sie hat die jungen Mütter, die vor Entsetzen und aus Angst um ihre Kinder geweint und geschrien haben, beruhigt und getröstet. Ich würde meine Mutter so gern in den Arm nehmen! Aber wahrscheinlich würde eher sie mich beruhigen . . .

Weil ihre Rücken- und Gelenkschmerzen kaum mehr erträglich waren, ist sie nach einer zweiten Nacht zurück in ihre Wohnung im siebten Stock. Sie wollte sich hinlegen können und duschen. Sie hatte sich so entschieden, und ich akzeptierte das. Sie ist viel stärker, als ich sie je ­kannte. ­Früher war sie oft ängstlich und immer ein bisschen ­depressiv. Wir reden jetzt anders miteinander, respekt­voller, authentischer. Wir versuchen, wahrhaftiger zu sein.

Als die Bomben in der Nähe einschlugen und die ­Fens­ter barsten, konnte ich das alles in Berlin hören. Ich sagte ihr, sie soll an den sichersten Ort in der Wohnung gehen. Sie hat sich dann im Bad versteckt. Ihre Stimme war zittrig, aber sie war nicht in Panik.

Inzwischen wurde der Wohnblock in Schutt und Asche gebombt. Ein Bekannter der Familie hat meine Mutter gerade noch rechtzeitig raus und zu ihrer Schwester gebracht, sie lebt in einem anderen Stadtteil. Das Zentrum von Charkiw existiert eigentlich gar nicht mehr, überall Trümmer, Rauch und Entsetzen.

Manchmal kann ich Nina stundenlang nicht erreichen, das ist so schrecklich. Ich frage mich dann, ob sie noch lebt, ob ich sie jemals finde und beerdigen kann. Und jedes Mal, wenn ich mit ihr reden kann, denke ich: Das ist vielleicht das letzte Mal. Das macht mich unendlich traurig, hilflos und auch wütend.

Ich suche nach Möglichkeiten, sie zu evakuieren, aber das Risiko ist zu hoch, es wird auch auf die Flüchtlings­kolonnen geschossen. Das darf doch nicht wahr sein! Und die Züge sind heillos überfüllt. Und meine Mutter sagt ganz klar, sie wolle jetzt auf keinen Fall einer Mutter mit Kind einen Platz im Zug wegnehmen.

Sie leben weiter in der zerbombten Wohnung

Jetzt wurde auch das Haus meiner Tante schwer beschädigt. Es hat keine Fenster mehr, es gibt kein Wasser, keinen Strom. Toilette draußen. Aber sie leben weiter in der zerbombten Wohnung. Ein Bekannter bringt Wasser von den Transportern mit. Aber wenn geschossen wird, kommen die nicht.

Natürlich engagiere ich mich hier in Berlin, versorge die am Bahnhof ankommenden Flüchtlinge medizinisch, ich bin ja Kinderärztin, und bei uns daheim nehmen wir ­immer wieder Menschen für ein paar Tage auf. So wie einen Dreieinhalbjährigen mit seiner Mutter – er hat fünf Tage lang nur brennende Panzer gemalt, erst ganz zuletzt einen Regenbogen. Jetzt habe ich für meine Gäste eine Familie in Hannover gefunden.

Ich möchte meine Mutter so gern sehen, sie spüren, möchte mich auch bei ihr entschuldigen, falls ich manchmal unfair war. Jetzt in dieser Zeit relativieren sich doch ­alle Schwierigkeiten. Und ich sehne mich nach der Möglich­keit, mich mit der Nina auszutauschen, die ich irgend­wie neu kennenlernen durfte.

Protokoll: Beate Blaha

* Mittlerweile hat es die Mutter per Zug in ein Dorf im derzeit vergleichsweise sicheren Westen der Ukraine geschafft

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