Die Situation auf der irischen Insel ist verfahren. Nach dem Brexit wurde die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland zur EU-Außengrenze. Sie ist aber nach wie vor offen. Denn um den Frieden nicht zu gefährden, hat man beim Aushandeln des Brexits die Zoll- und Personenkontrollen in die Irische See verlegt. Das bedeutet de facto, dass die EU-Grenze durch das Vereinigte Königreich (UK) verläuft und Nordirland vom Rest der Nation trennt. Kein Wunder, dass Anfang 2021 mehrere Graffiti in den Fährhäfen von Larne und Belfast auftauchten: "All Irish Sea border staff are targets" (Alle irischen Zollmitarbeiter sind Angriffsziele). Aus Angst vor Anschlägen werden die Kontrollen nun sehr lax gehandhabt.
Stephan Arras
Ende März bis Mitte April gab es dann in Derry, Belfast und anderen Orten Nordirlands gewalttätige Zusammenstöße. Auch bei uns in Dublin war die Sorge groß, dass die Lage eskaliert. Anders als früher gingen aber nicht die üblichen Lager aufeinander los, also die katholischen Nationalisten, die für den Anschluss an Irland sind, und die protestantischen Unionisten, die dagegen sind. Diesmal waren es vorwiegend Straßenschlachten zwischen jungen Leuten und der Polizei.
Soweit man das herausfinden konnte, waren die Gründe vielschichtig und haben nicht nur mit der Grenzfrage zu tun. Einer der Auslöser: Bei der Beerdigung eines früheren IRA-Anführers wurden sämtliche Covid-19-Regeln missachtet, was straffrei blieb – das verärgerte Unionisten. Ein anderer: Die Polizei war sehr erfolgreich im Kampf gegen den Drogenhandel. Zudem spielt eine Rolle, dass viele junge Menschen unter der Covid-19-bedingten Schließung sämtlicher Jugendzentren leiden.
Kirchen rufen zu Besonnenheit auf
Die religiöse Frage des Konfliktes ist meiner Einschätzung nach in den Hintergrund getreten. Die leitenden katholischen und protestantischen Geistlichen Irlands haben am 12. April ein viel beachtetes Papier veröffentlicht, in dem sie zu besonnenem Handeln aufrufen: Alle Verantwortlichen in Nordirland müssten ihrer Verantwortung für das Gemeinwohl in der Europäischen Union und im Vereinigten Königreich gerecht werden. Derzeit ist es friedlich im Land, aber wirkliche Fortschritte sind nicht erkennbar.
Konflikt und Versöhnung in Nordirland
Seit 20 Jahren herrscht Frieden in Nordirland. Doch jetzt kommt der Brexit. Ein kleines Land am Scheideweg: Bleibt es zwischen Protestanten und Katholiken friedlich? Oder bricht der Konflikt wieder auf?