Dabei brauchen Schüler Raum für Eigenheit!
30.11.2010

In jedem Schulschlüssel steckt ein elektronischer Chip, jeder Schlüssel ist exakt einem Lehrer zugeordnet. Schlüssel Nummer eins: Amedick, Schlüssel Nummer zwei: Arnold, Schlüssel Nummer drei: Bechold und so weiter. Mannshohe Sensoren an den Eingangspforten der Schule sind mit einem internen Computersystem verbunden. Im Computerüberwachungsraum kann man feststellen, welcher Lehrer (sprich Schulschlüssel) sich im Gebäude befindet und welcher nicht. Sinn des Ganzen, so wird auffällig oft betont, sei nicht etwa die Kontrolle der Lehrerarbeitszeit. Nein, Sinn des Ganzen sei der vollelektronische Selbstabschließungsmechanismus. Sobald nämlich der letzte Lehrer (sprich Schulschlüssel) die Schule verlasse, verriegelten sich die Eingangstüren automatisch und die Lichter gingen aus.

Kinder sind ratlos, wenn man einmal nicht erfüllen soll, sondern entdecken darf.

Auf einer meiner Lesungen landete ich in einer Schule, in der dieses Schlüsselsystem tatsächlich existiert. Angesichts dieser Auswüchse, dachte ich, hatte ich wohl damals die richtige Entscheidung getroffen, der Schule endgültig den Rücken zu kehren. Dieses absurde Selbstabschließungssystem sagt mehr über das System Schule aus, als man denkt. Sechs Jahre ist meine Flucht aus der Schule inzwischen her. Und was hat sich verbessert? Nichts. Im Gegenteil. Immer noch habe ich engen Kontakt zu einigen Lehrern und höre Klagen über verquere Zustände. Und immer noch bin ich oft selber in Schulen, bei Lesungen und Schreibwerkstätten: Als ich einmal die Schüler zum "automatischen Schreiben" animierte - es gibt keine Regeln, keinen Zensor, keine Einschränkungen, nur der Stift darf keine Sekunde still stehen -, fragte mich eine Schülerin: Ja, was sollen wir denn schreiben? Die Schüler denken immer noch ausschließlich in der Soll-Kategorie; sie sind nur Erfüllungstäter der Lehrplanerwartungen; sie haben verlernt, dass etwas Eigenes entstehen kann, wenn man einmal nicht erfüllen soll, sondern entdecken darf.

Der Weg der Schule führt in die völlig falsche Richtung: Es gelten Standards. Der einzelne Schüler tritt dahinter zurück, denn alle Schüler sollen die vorgeschriebenen Unterrichtsinhalte "können" und "wissen". Schulen könnten auch andere Prioritäten setzen: Sie könnten den Schülern helfen, ihre individuellen Talente, Interessen und Fähigkeiten zu entdecken. Das geht sicherlich nicht ohne ein "Basiswissen"; aber dass immer mehr sogenannte "Vergleichsarbeiten" wie Pilze aus dem Boden sprießen, dass bis zum Abitur alle über die exakt gleiche Messlatte springen müssen, das ist schon lange nicht mehr nachvollziehbar.

Da gibt es doch die bekannte Karikatur: Ein Affe, eine Giraffe und ein Fisch bekommen die Anweisung, so schnell wie möglich einen Baum hochzuklettern. Diese Karikatur, die komischerweise auch in Schulbüchern auftaucht, trifft mit ihrer Kritik ins Herz des Schulsystems: Alle Schüler werden über einen Kamm geschoren, müssen am Ende haargenau dasselbe können, kommen im Idealfall aus der Schulmühle heraus mit identischem Wissen, egal, ob sie für das jeweilige Fach nun Affe oder Fisch sind.

Ein Schüler, der Mathe nur höchst widerwillig über sich ergehen lässt, wird mit dem Basiswissen Mathematik, das bis zur neunten Klasse gelegt wird, locker durchs Leben kommen, denn er wird kein Ingenieur werden. Wer aber Mathematik liebt, wird gelangweilt, wenn man Rücksicht auf die anderen nimmt, die man mit durchschleifen muss. Wenn man sich anschaut, wie viel Unterrichtszeit auf diese Weise draufgeht, überfällt einen das kalte Grausen. Ich musste einmal eine elfte Klasse unterrichten, Französisch, und schon in der ersten Schulstunde ließ eine Schülerin die Bemerkung einfließen: Übrigens, Herr Orths, wir alle wählen Französisch geschlossen ab, am Ende der elf.

Mir blieb nichts übrig, als eine Art Waffenstillstand mit den Schülern zu schließen

Da stand ich nun: Was sollte ich tun?

Mir blieb nichts übrig, als eine Art Waffenstillstand mit den Schülern zu schließen: Ihr tut mir nichts, ich tu euch nichts; ich lege die von euch zu überspringende Messlatte erheblich tiefer, ihr springt aber bitte schön wenigstens darüber. So haben wir allesamt sinnlos Schule gespielt, uns an die Regeln gehalten und die Zeit mehr oder weniger totgeschlagen. Mir machte es keinen Spaß, den Schülern machte es keinen Spaß, gelernt hat niemand etwas.

Solche Geschichten können Lehrer heute immer noch tausendfach erzählen. Das alles ist Resultat allgegenwärtiger Regeln, Standards und mangelnder Beweglichkeit. Und jede Vereinheitlichung erstickt das individuelle Interesse, die verschiedenen Möglichkeiten, die aus dem Einzelnen erwachsen. Auch die fächerunabhängigen Kompetenzen der Lehrer haben kaum Platz in der Schule. Ein mir bestens bekannter Lehrer, Latein, Religion, Philosophie, ist Fan des schottischen Fußballs. Wenn er über Celtic und Rangers, über Katholizismus und Protestantismus redet, über die schottische Gesellschaftsstruktur, die sich anhand dieser beiden Fußballclubs darstellen lässt, dann sprühen seine Augen. Ich dagegen kenne mich, was Schottland betrifft, fast überhaupt nicht aus. In der Schule wäre nun ich der Englischlehrer und er der Lateinlehrer; und obwohl er tausendmal qualifizierter wäre, eine Landeskundeeinheit über Schottland zu halten als ich, würde er diese Einheit nicht halten dürfen, stattdessen müsste ich mich mühsam einarbeiten in den Schottland-Stoff. Und warum? Weil ich den Englischschein habe und er nicht.

The license to teach

The license to teach: Schein-Schule, festgelegt, starr, unflexibel. Wir müssen den Vorgegebenheiten folgen und können kaum variieren. Wo kann da noch etwas spontan entstehen und ein Funke überspringen?

Infolge der bürokratischen Standards können Schüler ihren eigenen Interessen nur noch in der Freizeit nachgehen. Halt! Nein! Jetzt auch nicht mehr. Denn längst ist das Damoklesschwert des achtjährigen Gymnasiums auf uns herabgesaust. Es geht um - das ist jetzt genauso zynisch, wie es klingt - schnelle Verwert- und Vermarktbarkeit des Schülermaterials. Was die Schüler in neun Jahren zum Teil nur schwer lernten, müssen sie nun in acht Jahren lernen. Das bedeutet, dass sie nachmittags pauken müssen, am Wochenende, ja, nachts sogar. Was letztlich dazu führt, dass wir Wissensmaschinen züchten, die zwar in der Lage sind, schnell und sicher kurzfristig abrufbares Wissen wiederzukäuen, aber nicht mehr in der Lage sind, herauszufinden, was sie eigentlich wollen im Leben, worum es geht, wofür ihr Herz schlägt. So entsteht eine lebensunerfahrene Elite, die später vielleicht den Weg unseres Landes bestimmen wird, während am anderen Rand des Schulsystems, nämlich an den Hauptschulen, genau die Probleme entstehen, für deren Lösung solchen Eliten jede Lebenserfahrung fehlen wird.

Ich möchte eine Lanze brechen für die Kinder, die Jugendlichen, die mit Lernmüll Verstopften und Verseuchten. Ich möchte dafür plädieren, dass wir ihnen nicht die Zeit fürs Träumen nehmen, fürs Herumspinnen, fürs In-den-Tag-hinein-Leben. Dass wir ihnen Zeit geben für das In-sich-Hineinhorchen, denn wenn dazu keine Zeit bleibt, dann bleibt auch keine Zeit mehr fürs Entdecken und Ausbilden ureigenster Interessen. Wir Menschen haben Eigenheiten, und die sollten gefördert werden, weil ihre Grundlage etwas ganz Wesentliches ist: echte Identifikation mit dem, was man tut. Alles, was als "Hobby" sein Schattendasein fristet, alles, was mit Kreativität, Spontaneität, Fantasie zu tun hat, alles, was sich Standards entzieht, weil es nicht bewertet, nicht in Raster gepackt werden kann, all das ist eigentlich die Grundlage für die von der Gesellschaft eingeforderte Innovationsfähigkeit, bekommt aber in der Schule nicht den kontrollfreien Spielraum, den es bräuchte.

Stattdessen versperrt sich das System immer weiter dem Bedürfnis der Schüler und schließt sich in sich selbst ein. Die eingangs beschriebene computergestützte Selbstabschließung ist nicht nur eine Absurdität, die man belächeln kann, sondern ein wunderbares Bild für die heutige Schule, die sich selbst ver- und abgeschlossen hat und bei vielen Beteiligten Engegefühle erzeugt. Ich hoffe, dass sie endlich den Schlüssel findet, sich denen zu öffnen, um die es geht: den Schülern.