30.11.2010

Es ist vollbracht ­- den politischen Worten folgen pädagogische Taten. Schulen im Saarland lehren mit Beginn des neuen Halbjahrs Anstand und Benehmen. Der Saarbrücker Kultusminister Jürgen Schreier, der schon vor Monaten erklärt hatte: "Das Ende der Unhöflichkeit ist überfällig", darf sich seinen Zielen ein paar Schritte näher sehen. Schluss mit den Spätfolgen eines Zeitgeistes, der "Autorität und Respekt unter Generalverdacht" stelle und Tugenden wie Höflichkeit, Ordnung und Pünktlichkeit negativ besetzt habe. Nun werden "Benimm-Bausteine" im Unterricht eingebaut, also je nach Anlass die Verhaltensweisen der Schüler besprochen und Alternativen eingeübt.

Die Stilwende an der Saar hat Sympathisanten an der Weser. Auch das Bundesland Bremen ist beim Höflichkeitsunterricht ganz vorn dabei. In einem Bremer Schulzentrum erproben Schüler und Lehrer ­ wenn auch noch ohne offizielle Anweisung des Bildungssenators ­ einen Benimm-Unterricht. Sollte das Projekt erfolgreich sein, werden sich andere Schulen daran wohl ein Beispiel nehmen. Bildungssenator Wilfried Lemke jedenfalls nutzt seine öffentlichen Auftritte, um das Thema stark zu machen.

Ist die Wiederentdeckung von Etikette und Höflichkeit eine neue Variante von Spießertum? Oder nur die längst überfällige Anpassung an den Zeitgeist? Es kann doch kein Zufall sein, dass Oberstufenschüler im Unterricht mit Krawatte gesichtet werden und fröhliche junge Menschen zu Hause ein weißes Tischtuch auflegen. Das erstaunt höchstens diejenigen, die in alter 68er-Tradition unter gesellschaftlichen Formen etwas zutiefst Reaktionäres verstehen und prompt tiefe Sorge simulieren. Erleiden wir einen Backlash?

Das deutsche Dogma: Benimm muss von Herzen kommen -­ sonst zählt es nicht!

Natürlich nicht. Im Gegenteil: Man ist ja dankbar über jede Geste der Zuvorkommenheit, die man einander zuteil werden lässt. Und nichts ist geheimnisloser und schwerer zu ertragen als der überkommene Zwang zu unverblümter "Offenheit" und "Ehrlichkeit". Man müsste vielmehr von Fortschritt reden, vom längst überfälligen Bemühen also, endlich dort anzukommen, wo man in der globalen Welt schon seit längerem ist: bei Stil und Haltung anstelle provinzieller Direktheit und Taktlosigkeit. Auch und gerade die Begegnung mit anderen Kulturen fordert mehr, nicht weniger verlässliche Regeln, braucht mehr, nicht weniger unmissverständliche Gesten der Verständigung. Das verträgt sich nicht mit dem deutschen Klischee, dem zufolge hinter jeder Regel der Geist der Reaktion lauert.

Insofern wäre die Botschaft von der Rückkehr der Umgangsformen uneingeschränkt zu begrüßen. Stünden diesem Befund nur nicht alltägliche Erfahrungen entgegen. Und die klingen eher nach dem alten Lied: Wir geben nichts auf Äußerlichkeiten, die nicht ganz tief vom Herzen kommen. Weshalb der Taxifahrer meint, sich fürs Trinkgeld nicht bedanken zu müssen, und der Rempler ­ nicht sein Opfer! ­ "Entschuldigung!" fordert, ganz so, als habe er ein Recht darauf. Das verstehe, wer wolle: Deutschland ist eines der spendefreudigsten Länder der Welt, wenn es irgendwo eine Katastrophe gibt ­ aber mit den Kleinigkeiten menschlicher Zuwendungen, die das Leben angenehmer machen, geizt es.

Zumal in deutschen Großstädten kann die menschliche Begegnung rasch zum Kraftakt werden, der ständig vom Scheitern bedroht ist. Wir sind zu viele und einander ständig im Weg. Selbst auf kleinstem Raum, im Fitnessstudio oder im Aufzug, entfällt die geringste Maßnahme zur sozialen Entspannung wie das Grüßen oder die freundliche Zurkenntnisnahme. Wir ersparen uns weder die Entblößung der weniger ansehnlichen Körperteile noch den offenen Mund beim Kaugummikauen. Jeder Großstadtbewohner beherrscht das Lamento über aggressive Fahrradfahrer, unwilliges Servicepersonal und laut artikulierende Telefonierer, weshalb man es auch gleich einstellen könnte. Immerhin gibt es das eine oder andere Anzeichen des Etikettenwandels. Zum Beispiel flöten dem Anrufer auf jeder Hotline die Worte entgegen: "Was kann ich für Sie tun?" ­ ein an und für sich hoffnungsvoller Ansatz, wenn er auch oft und schnell in ein "Das weiß ich jetzt auch nicht" mündet.

Alles wie gehabt im Land der Deutschen, die schon aus Tradition Ehrlichkeit und Herzensgüte mit Taktlosigkeit und schlechten Manieren verwechseln? Und die sich gern damit entschuldigen, dass ein Volk, das in seiner Geschichte derart viele Verbeugungen, "untertänigste Diener", Führergrüße, Knickse und Handküsse hat veranstalten müssen, ja wohl ein gewisses Recht auf ungeschminkte Wahrhaftigkeit hat? Schließlich wollen wir nicht untertänig wirken.

Es gibt sie tatsächlich noch, die Leute, die Höflichkeit für reaktionär halten. Viele andere aber, womöglich insbesondere Jüngere, denen die globale Welt vertrauter ist als den Älteren, haben längst erkannt, dass die deutsche Direktheit nicht überall als Tugend gilt ­ und dass das Leben ohne mäßigende Akte der Vermittlung ziemlich anstrengend ist.

Klar kann das Leben nicht mehr nach jenen Geboten allein bewältigt werden, von denen schon die Alten sungen. Aber dass es, wenn alles Überkommene über Bord gegangen ist, auch ganz schön rat- und orientierungslos zugeht, liegt auf der Hand. Die These vom autonomen Individuum, das alles selbst gestaltet ­ ganz ohne Rekurs auf Gott, Vaterland oder wenigstens eine klitzekleine gesellschaftliche Konvention ­, überfordert die Einzelnen und höhlt Gesellschaftlichkeit aus, weil Geselligkeit nur als Spiel nach Regeln denkbar ist und Kommunikation nur funktioniert, wenn ihre Parameter bekannt sind.

Dass die Beziehungslosigkeit der Menschen zunimmt, ist bekannt. Ob die Lösung indes in einer "neuen Moral" liegt, die sich "Werten" verpflichtet fühlt wie Gemeinsinn und Charakterstärke, in Tugenden also, die mehr sind als das bloße Einhalten von Konventionen? Vermutlich nicht. Denn die Forderung nach einer neuen Moral anstelle einer bloßen "Straßenverkehrsordnung" entspricht der deutschen Tradition protestantischer Innerlichkeit. Die aber fordert dem Bürger sogleich positive Gefühle anderen Menschen gegenüber ab, wo es doch vollauf genügte, gutes Benehmen zu zeigen. Doch hierzulande begnügen wir uns nicht mit ein paar schlichten Verhaltensregeln für den alltäglichen Umgang. Wir ziehen die radikale Lösung vor: die Menschenliebe.

Über Gewohnheiten schleichen sich die Tugenden ins Verhalten

Als ob man immer lieben könnte, mit wem man Umgang haben muss! Lautet nicht die viel dringlichere Frage, ganz pragmatisch und gefühlsfern: Wie ertragen wir einander? Wie leben wir, selbst bei mürrischer Grundstimmung, kommod nebeneinander her, ohne einander mit Gefühlen zu belästigen, seien sie positiv oder negativ? Und schließlich: Setzt nicht der Ruf nach den Tugenden die ganze Läuterung des Individuums voraus, also wieder einmal den "neuen Menschen"?

Bleiben wir pragmatisch. Sosehr die Floskeln untertänigster Dienstbarkeit manchmal nerven, die aus den USA mittlerweile bei uns angekommen sind ­ es bleibt doch die Hoffnung, dass auf diese Floskel irgendwann eine tiefere Einsicht folgt. Denn das mechanische Einüben in das Gute trägt seine Belohnung in sich selbst. Oder, um mit Immanuel Kant zu sprechen: Auch das, was man ohne innere Überzeugung tut, weil es opportun ist, kann zur Gewohnheit werden und damit tugendhaft sein ­ weil es die Tugend "wenigstens beliebt" mache.

Was wäre schon rein äußerlich an Geste und Floskel? Die Amerikaner, oft als hemdsärmelig gescholten, kennen viele Nuancen, die Distanz zu wahren. Auch die britische Art, schon nach dem zweiten Satz zum Vornamen überzugehen, ist nicht zu verwechseln mit einem spontanen Distanzverlust oder dem ritualisierten deutschen Übergang vom formellen Sie zum vertraulichen Du. Höflich auch dies: Menschen anderer Länder schätzen es weniger als wir, statt des Wetters die allgemeine politische Lage zu erörtern oder sich mit Beziehungsknatsch und anderen persönlichen Dramen zu entschuldigen, wenn was nicht so klappt, wie es soll.

Umgangsformen sind im internationalen Rahmen so etwas wie eine Lingua franca, eine internationale Sprache. Sie dienen der vorsichtigen Näherung, dem Abtasten der Absichten des anderen, der Geselligkeit und schließlich einem der ältesten Spiele nach Regeln, dem Flirt, in dem die Kunst der Annäherung auf die Spitze getrieben wird.

Höflichkeit macht ­ locker. Sie entlastet vom Unmöglichen. Wir können nicht jeden Menschen lieben, wohl aber mit ihm friedfertig umgehen. Höflichkeit ist ein Integrationsangebot, nicht zuletzt an Fremde, die sich den hier Lebenden hinzugesellen. Höflichkeitsformen lassen die Gefühle frei, aber nur dort, wo sie hingehören: im Privatbereich. Das Schöne ist: Wer sich auf Regeln verlassen kann, muss nicht vorschnell mit Reglementierungen anfangen. Weder bei sich selbst noch bei anderen.