Ist Gott ein Mann im Ohr, den man mit Psychologie wegmachen kann?
Ein Plädoyer wider den zeitgeistigen Atheismus
Thomas Rabsch
30.11.2010

Der Streit um Gott ist entbrannt. Der Biologe Richard Dawkins, Professor an der britischen Oxford University, verkündet, an Gott zu glauben sei entweder lächerlich, böswillig oder Zeichen einer Geistesstörung. "Der Gotteswahn" nennt er sein missionarisches Pamphlet.

Charles Darwin als die "heilige Schrift" 

Wahn ist aus psychiatrischer Sicht die Unfähigkeit, die Wirklichkeit unter wechselnden Perspektiven zu sehen. Das mag bei Gruppen christlicher und anderer Fundamentalisten ähnlich sein, die allein die Perspektive ihrer heiligen Schriften für wahr halten. Doch merkwürdigerweise hat Richard Dawkins nicht nur die gleiche Schwarz-Weiß-Sicht von der Welt wie seine fundamentalistischen Lieblingsgegner. Er ist genauso wie sie unfähig zu einem Perspektivwechsel. Für ihn sind die "heiligen Schriften" die 150 Jahre alten Texte von Charles Darwin, und er ist nicht in der Lage, seine evolutionsbiologische Perspektive im Sinne moderner Wissenschaftstheorie als eine unter vielen zu sehen.

Bekanntlich ist der Mensch unter chemischer Perspektive nur etwa 60 Cent wert, da er weitgehend aus Wasser besteht. Diese Perspektive ist nicht falsch, aber zum Beispiel für eine Diskussion über die Würde des Menschen nur wenig nützlich. Natürlich hat Richard Dawkins recht, dass man biologische Forschung so betreiben muss, als gäbe es Gott nicht. Doch wird es kabarettreif, wenn man nun plötzlich wähnt, die evolutionsbiologische Perspektive sei die einzig wahre. Dann sind Menschen findige Affen und den lieben Gott kann es "natürlich" nicht geben, da er sich garstigerweise nicht an die Evolutionstheorie hält. Denn komplexe Phänomene können da nur am Ende einer Entwicklung stehen und nicht am Anfang. Wer so argumentiert, ist nicht weit weg von der intellektuellen Schlichtheit kreationistischer Überzeugungen.

Der Atheismus hat heutzutage ein Problem

Der Atheismus hat heutzutage ein Problem. Ab dem Jahr 1900 stürzte mit der Quantentheorie der Determinismus, mit der Relativitätstheorie der Materialismus und mit der Urknalltheorie die Vorstellung von der Ewigkeit der Welt zusammen. Damit brachen dem Atheismus die entscheidenden jahrhundertelang gepflegten Argumente weg. Schon die Evolutionstheorie war mit der christlichen Vorstellung einer "creatio continua", einer dauernden Schöpfertätigkeit Gottes, viel besser vereinbar als mit dem Rentnergott der gebildeten Aufklärer. Der nämlich hatte die Welt geschaffen und war dann pflichtgemäß in den Ruhestand gegangen, um die wie ein Uhrwerk funktionierende Schöpfung nicht durcheinanderzubringen.

In dieser argumentativen Not des Atheismus und angesichts des weltweiten Aufwinds für die Religionen reagiert man wie alle Reaktionäre: Man beschwört die glorreiche Vergangenheit und schwelgt in nostalgischen Erinnerungen. Es gibt wieder Atheistenclübchen mit entsprechender Vereinsmeierei. Es sind Leute, über die der bekennende Atheist Anatole France (1844-1924) dazumal seufzte: "Sie denken wie wir ... sie haben unsere fortschrittlichen Ideen. Aber es ist besser, ihnen nicht zu begegnen."

Psychologie als der letzte Hort für Atheismus

Der letzte Hort für Atheismus-Argumente scheint die Psychologie zu sein. Denn irgendwie haben die Leute den Eindruck, die Psychologie habe den lieben Gott als so eine Art kleinen Mann im Ohr entlarvt, den man bei Bedarf mit guter Psychologie wegmachen könne. Kronzeuge ist Sigmund Freud (1856-1939), der in seinen religionskritischen Schriften gute Argumente geliefert habe. Doch wer diese Schriften kennt, der weiß, dass sie bloß einige wolkige Spekulationen auf der Basis spärlicher und längst überholter paläontologischer Literatur enthalten. Gewiss sind aber auch C. G. Jung und Victor Frankl, die sich ausdrücklich gegen den Atheismus Sigmund Freuds wandten, mit ihrer bild- und wortreichen psychologischen Beschwörung des Religiösen intellektuell nicht wirklich anregend. Da sehnt man sich nach der bildlosen Nüchternheit Freuds zurück. Die Psychologie jedenfalls ist für die Frage, ob Gott existiert oder nicht, nicht ergiebig. Oder etwa doch?

Der Kirchenvater des Atheismus ist Ludwig Feuerbach (1804-1872). Auch auf diesen Philosophen des 19. Jahrhunderts beziehen sich die neuen atheistischen Fundamentalisten gerne. Freilich kennt man auch ihn zumeist nur vom Hörensagen. Man meint, Feuerbach habe irgendwie die Existenz Gottes argumentativ widerlegt. Doch das ist mitnichten der Fall. Ludwig Feuerbach setzt die Nichtexistenz Gottes einfach voraus und erklärt dann, warum es dennoch Religion gebe.

Das ist ein interessantes Projekt. Denn in der Tat, wenn es Gott nicht gibt, ist Religion ein höchst merkwürdiges Phänomen: Mit jemandem zu reden, der in Wirklichkeit gar nicht da ist, langwierige Ritusveranstaltungen und schweißtreibende Wallfahrten zu absolvieren, das alles ist dann so auffällig, dass es geradezu nach psychologischer Erklärung schreit. Und so liefert Feuerbach keine philosophischen Argumente, sondern eine psychologische Erklärung, warum Menschen religiös sein könnten, obwohl es Gott nicht gibt: die Projektionsthese. Menschen haben Wünsche und Sehnsüchte, die im Leben nicht in Erfüllung gehen, und so stellen sie sich einfach eine Wunscherfüllung im Himmel vor durch einen Wunscherfüller namens Gott. Doch dieses Argument ist kein Argument. Man kann sich Sahnetorte wünschen, man kann sich nach Sahnetorte sehnen. Das heißt selbstverständlich nicht, dass es Sahnetorte auch wirklich gibt, da hat Feuerbach recht. Aber es heißt - glücklicherweise - auch nicht, dass es Sahnetorte nicht gibt.

Eine Frage der Perspektive

Das Ganze geht auch umgekehrt: Wenn wir einmal davon ausgehen, dass es Gott gibt, dann ist Atheismus ein merkwürdiges Phänomen. Man könnte psychiatrisch von schwerem Realitätsverlust sprechen, von tiefgreifender Beziehungsstörung, von depressivem Nihilismus. Und auch dafür kann man gute psychologische Gründe finden: mal "sturmfreie Bude" haben, ohne jemanden, der unsere kleinen und großen Charakterlosigkeiten mitbekommt. Gott außen vor zu lassen, kann sich auch im Wirtschaftsleben auszahlen, wenn man skrupellos die eigenen Interessen durchsetzen will.

Gregor Gysi hat gesagt, er habe Angst vor einer gottlosen Gesellschaft, weil der die Solidarität abhanden komme. Und in einer "narzisstischen Gesellschaft" ist für selbstverliebte Stars eine Stellenbeschreibung oberhalb ihrer selbst psychologisch gar nicht möglich. Der Modezar Karl Lagerfeld wurde gefragt, ob er an Gott glaube. Seine Antwort: "Es beginnt mit mir. Es endet mit mir. Basta! " Es gibt also gute psychologische Gründe, Atheist zu sein, obwohl es Gott in Wirklichkeit gibt. Aber auch damit hat man die Existenz Gottes nicht bewiesen. Die Psychologie ist für einen Beweis oder eine Widerlegung Gottes untauglich.

Als ich mein Buch "Gott - eine kleine Geschichte des Größten" schrieb, das die wesentlichen Argumente beider Seiten darstellen sollte, kannte ich Dawkins' "Gotteswahn" noch nicht. Auch Dawkins konnte mein Buch nicht kennen. In seinem Buch wettert er vielmehr gegen Kreationisten und Fundamentalisten - und da hat er unbestreitbar recht. So lebt dieser neue Atheismus von einem argumentativ schwachen Gegner und bleibt leider bloß polemisch und geistig steril. Ernsthaften Diskussionen geht man aus dem Weg.

Die derzeit vorgebrachten atheistischen Argumente sind schwach, doch auch die Argumente für die Existenz Gottes sind nicht zwingend. Denn Gottesbeweise sind wie Liebesbeweise: Sie überwältigen nicht mit Gewalt, aber sie können ein Leben tragen.

Jürgen Habermas, der deutsche Philosoph, hat in seiner Paulskirchenrede 2001 gefordert, die Religion wieder in den öffentlichen Diskurs einzubeziehen. Zum Fundament des Menschenwürdebegriffs gehöre das jüdisch-christliche Verständnis der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Dazu brauchen wir aber eine öffentliche Debatte über Gott. Keine Expertendebatte, die in unverständlichem Deutsch daherkommt. Über Gott muss man verständlich und klar reden, denn die Frage, ob Gott existiert oder nicht, ist entweder eine Frage für alle oder für keinen.

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