Es ist schon fast 21 Uhr. Im Büro ist es still geworden. Herr P. checkt ein letztes Mal seine Mails und überlegt, ob er nach Hause gehen kann. Er zögert und fragt sich, ob er heute eigentlich genug geleistet hat? Er fühlt sich seltsam matt und unzufrieden. Hinter ihm liegen 25 Telefonate, drei Meetings, 177 gelesene Mails und viele kleine Flurgespräche. Der Tag ist an ihm vorbeigerauscht, und er weiß gar nicht, ob es ein wichtiger, ein besonderer oder ein ganz normaler Arbeitstag war.
Mütter, Manager, Arbeiter, Studenten oder Angestellte haben das Gefühl, wie im Hamsterrad zu ackern
Auf der Couch des Psychologen beschreiben Mütter, Manager, Arbeiter, Studenten oder Angestellte immer wieder eine ähnliche Erfahrung. Sie haben das Gefühl, wie im Hamsterrad zu ackern und sich immer stärker in einem hektischen und überdrehten Alltag aufzureiben: Unermüdlich plagen sie sich ab, versuchen in Arbeit, Familie oder Ausbildung das Beste zu geben. Wenn sie dann am Abend aus dieser hochtourigen Betriebsamkeit aussteigen, fragen sie sich häufig entgeistert: Was habe ich eigentlich den ganzen Tag gemacht? Und wofür habe ich das gemacht?
Fasst man die 20 000 Tiefeninterviews zusammen, die wir im rheingold-Institut analysiert haben, scheint die Gesellschaft in den Zustand einer überdrehten Erstarrung geraten zu sein. Doch immer, wenn man einmal aus der überdrehten Hektik des Alltags aussteigt, wenn man innehält, wirklich Pause macht oder zur Ruhe kommt, fühlt man sich seltsam leer und ratlos. Die ungelösten Fragen des Alltags drohen dann auf einen einzustürzen. Das in diesen Momenten verspürte Sinnvakuum lässt sich nur kaschieren durch den sentimentalen Retroblick in eine bessere Vergangenheit, in der es noch den Glauben an eine sinn- und verheißungsvolle Zukunft gab. Oder durch ein unablässiges mediales Feuerwerk: Handy, Fernseher, MP3-Player oder Computer sind zum Dauerbegleiter geworden im täglichen Kampf gegen die Langeweile.
Auch der sonntägliche Blick auf die Politik spiegelt nur die eigene Orientierungslosigkeit. Bei "Sabine Christiansen" wird man Zeuge einer rotierenden Richtungssuche. Im ständigen Schwanken der Positionen und bei den rituellen Schuldverschiebungen entsteht wie beim Schunkeln zur Karnevalszeit eine ungeheure Bewegtheit mal nach links und mal nach rechts , die allerdings nicht von der Stelle kommt. Die Hoffnung, dass durch das Christiansen-Wort zum Montag der gordische Knoten unserer Zeit durchtrennt wird, erfüllt sich nicht. Die Initialzündung in die neue Woche bleibt aus. Es verstärkt sich die - mitunter entlastende - Einsicht, dass die Probleme unserer Welt nicht zu lösen sind.
Das Sinnvakuum aus der coolen Gleichgültigkeit der 90er
Das heutige Sinnvakuum hat seinen Grund in einer coolen Gleichgültigkeit, die seit den 90er Jahren unsere Haltung zum Leben revolutioniert hat. Versuchen wir uns aus der Schmerzlichkeit des Lebens zu befreien, lautete die unbewusste Lebensmaxime. Können wir nicht ein Leben ohne Leidenschaft und ohne Enttäuschungen führen, indem wir die Welt aus einer abgehobenen Beobachterposition wie ein Fernsehspiel betrachten? Aus solcher Warte heraus bleibt man in jeder Lebenslage souverän. Alles, was einen beunruhigen, packen oder kränken könnte, wird weggezappt, gleichgültig gemacht oder ironisiert. Es gibt keine Wahrheiten, übergreifenden Ideale, Ideologien oder religiöse Überzeugungen mehr. Alles ist relativ, letztendlich gleich gültig, gleichermaßen wählbar oder abwählbar.
Mit diesem Perspektivwechsel ging das berauschende Gefühl einer ungeheuren Befreiung einher: Man ist nicht mehr auf einen Lebensentwurf, auf eine Ideologie oder einen Glauben festgelegt. Nichts scheint mehr unmöglich. Das ganze Leben ist entideologisiert. Die Fesseln der Moral, der Werte und der Dogmen sind durchtrennt, und wir haben uns scheinbar von Schmerz und Betroffenheit emanzipiert. Nichts im Leben geht uns mehr wirklich nahe. In der Pose des ungerührten Beobachters verfolgen wir Kriege, Krisen und private Schicksale im Fernsehen. Ein aufflackerndes Unbehagen oder Gefühle der Trauer und Enttäuschung verringern sich durch die Vielfalt und Beliebigkeit der Nachrichten und Ereignisse, die uns umbranden.
Das Leben ist nicht freier, sondern anstrengender geworden
Heute spürt die Gesellschaft die Kehrseite dieser Sinnentleerung: Das Leben ist nicht freier, sondern anstrengender geworden. Denn wenn alles gleich gültig ist, verringern sich nicht die Ansprüche und Perfektionszwänge, sondern sie werden inflationär. Es genügt heute nicht mehr, nur Hausfrau oder Mutter zu sein. Die moderne Mutter muss auch top in the job sein. Sie soll ihre erotische Ausstrahlung am besten lebenslang konservieren, um auch als verführerische Geliebte ewig attraktiv zu bleiben. Sie soll ihre Hobbys und den Kontakt zu den Freunden der Familie pflegen. Sie soll sich 24 Stunden am Tag um die Familie kümmern. Diese Anforderungen lassen sich nicht miteinander verbinden. Doch lauter wird nicht der Ruf nach Beschränkung, lauter wird nur das Grundrauschen des schlechten Gewissens, das den Lebensalltag umtost. Psychologisch betrachtet sind Sinnflation und Sinnvakuum zwei Seiten einer Medaille: Ohne eine klare Zielausrichtung kommen wir nicht mehr von der Stelle, weil wir in der endlosen Vielfalt gleich gültiger Glücksoptionen durchdrehen.
Aber wieso fällt es dem Einzelnen wie der Gesellschaft heute so ungeheuer schwer, aus der Sphäre der Gleichgültigkeit und Beliebigkeit auszubrechen und einen Neuanfang zu wagen? Zu verlockend sind immer noch die Versprechungen einer unbewuss-ten Ersatzreligion, die seit den 90er Jahren insgeheim das gesellschaftliche Sinnvakuum gefüllt haben. Es gibt immer einen geheimen Sinn, denn letztlich kann kein Mensch in einem Zustand vollkommener Gleichgültigkeit und Sinnfreiheit leben. Unsere Gesellschaft hat in den satten, von unbeirrbarem Wachstumsoptimismus geprägten Jahren der Kohl-Ära den Glauben gehegt, man könne das Paradies bereits auf Erden verwirklichen. Zum Greifen nah schien da ein Leben, in dem man nur noch das Geld für sich arbeiten zu lassen braucht, in dem auf Knopfdruck alles verfügbar ist, in dem es auch keine Langeweile und keine schicksalhaften Konsequenzen mehr gibt. Denn beruflich oder privat könnte man ja immer wieder neu anfangen. Forever young: In einer Art Schöpfungswahn hoffen die Menschen heute, bald jede körperliche oder seelische Befindlichkeit verändern zu können die krumme Nase ebenso wie die schlechte Laune. Ein Leben ohne Entwicklung, ohne Alterung, ohne Risiko, ohne Schicksal und Schuld.
Heute beginnen wir zu ahnen, dass uns dieser Paradiestraum unsere Entwicklungsfähigkeit geraubt hat. Mit leiser Beschämung konstatieren wir, dass eine zufrieden stellende Gestaltung des eigenen Alltags als beinahe unlösbare Aufgabe erscheint. Die Gesellschaft steht an einem krisenhaften Wendepunkt. Entweder stürzt sie sich noch stärker in die Besinnungslosigkeit und lässt sich durch multimedialen Kulissenzauber von den ungelösten Problemen ablenken. Das wäre allerdings verbunden mit einer weiteren Entmündigung des Einzelnen. Der Preis für dieses scheinbar erfüllte Leben ist der Verlust der Liebe, des Mutes, der künstlerischen Kraft, des schöpferischen Willens.
In der momentanen gesellschaftlichen Lage steckt aber andererseits auch die Chance, sich diese Krise aktiv einzugestehen und sie nicht nur auf "die unfähigen Politiker" oder "die lebensfernen Kirchen" zu schieben. Ein wirkliches Kriseneingeständnis ist ein wirksamer Schritt, um den paradiesischen Allmachtsanspruch zu durchbrechen, der das Leben so überfrachtet hat. Denn dieses Eingeständnis rückt in den Blick, dass der Mensch auch im 21. Jahrhundert immer schwach, widersprüchlich, schutzbedürftig, irrend und alternd ist. Er ist und bleibt ein behindertes Kunstwerk. Behindert, weil stets eingeschränkt durch Schicksal und Vergänglichkeit. Kunstvoll durch die unerschöpfliche Verwandlungskraft der Seele, die immer wieder neue Lebensformen hervorbringt.
Wir können und müssen nicht alles verwirklichen, was wir in hoffnungsschwangeren Nächten erträumen oder was uns die Illustrierten an Königsgeschichten servieren. Der Reiz des Lebens liegt nicht im mühelosen Glanz, sondern im Mut zur Weiterentwicklung, die gerade durch ihre Fehler und Niederlagen an Tiefe gewinnt. Weiterentwicklung bedeutet nicht, den gesamten Alltag mit hektischer Betriebsamkeit zu füllen. Momente des Innehaltens, des Nichtstuns und der Besinnung bringen uns weiter, denn in diesen Stunden arbeitet unsere Seele. Sie arbeitet auch daran, die Sinnflation einzugrenzen.