Jetzt fängt's auch noch an zu schneien. Ich muss mich unterstellen, damit meine Zigarette nicht nass wird. Ich schau mal nach drinnen, Lars hat gerade seine Lesung beendet, ich höre vereinzelten, höflichen Beifall. Keine Ahnung, warum ich heute Abend überhaupt hierhergekommen bin.
"Schon seit geraumer Zeit als nikotinfrei definiert"
Immer wenn Lars einlädt, gibt es Ärger. Nichts oder zu wenig zu essen, gar keinen oder zu schlechten Wein, heute Abend hatte er einen neuen, schlechten Scherz im Programm: Als ich mir gegen Ende seiner Lesung "Impressionen Estlands: Skizzen einer Reise" gegen die einsetzende Müdigkeit eine Zigarette ansteckte, wurde ich von einer aufgeregten Frau Mitte vierzig darauf aufmerksam gemacht, dass sich dieser Veranstaltungsort "schon seit geraumer Zeit als nikotinfrei definiert", und ich möge doch bitte nach draußen gehen.
###autor###Das kann man finden, wie man will. Vielleicht wird es bald der gesetzliche Normalfall sein, dass sich Raucher draußen vor der Tür sammeln. Jedem sei auch sein Hausrecht gewährt, nur wäre es schön gewesen, wenn Lars vorher darauf hingewiesen hätte, dass Raucher auch bei ihm nicht mehr erwünscht sind. Dann hätte ich mir zumindest überlegen können, ob ich komme oder nicht. So stehe ich hier im Schnee Augenblick, da kommen drei Gäste nach draußen, ich gebe denen gerade mal Feuer. Es ist ja nicht so, wollte ich gerade sagen, dass Raucher nie rausgehen zum Rauchen. Wenn sie irgendwo Pause von der Arbeit machen, dann ist es ja ganz schön, nach draußen zu gehen. Nur dass da drinnen ja eigentlich keine Arbeit, sondern ein Fest stattfinden soll.
Lars signiert gerade ein Buch und sieht dabei zum Fenster hinaus. Ich winke ihm zu und zünde mir eine neue Zigarette an. "Kann ich auch eine haben, eigentlich rauche ich gar nicht mehr", sagt eine Frau neben mir und wischt sich den Schnee aus den Augenbrauen. "Gern", sage ich und sehe auf meine Schachtel: "Rauchen macht sehr schnell abhängig: Fangen Sie erst gar nicht an." Ich lese der Frau den Text vor, bevor ich ihr Feuer gebe: "Ich wollte Sie nur gewarnt haben."
"Rauchen lässt Ihre Haut altern"
"Schockt mich nicht", antwortet die Frau, "lesen Sie mal die Rückseite, das macht mir wirklich Angst." "Rauchen lässt Ihre Haut altern", steht da. Ich überlege, wie ich den Scherz noch mal kontern kann. "Deshalb rauche ich seit Anfang des Jahres auch nicht mehr", sage ich. Und als die Frau fragend auf meine Zigarette deutet: "Aber auch nicht weniger." Ein Kalauer, uralt, aber das Eis ist gebrochen, um wettergerecht im Bild zu bleiben.
Ich gehe schnell rein, hole zwei Flaschen Rotwein, die drei Raucher neben uns sehen auch ganz durstig aus. Drinnen haben sich die Reihen schon ziemlich gelichtet. Sie gehen offenbar früh heim, die Nichtraucher. Lars sitzt vor einem Stapel seiner Bücher, die er gern signieren möchte.
Der Lars. Wollte wohl gern zeitgemäß sein heute Abend. Und in einer Zeit, da wir uns schon lange bewusst ernähren, statt ordentlich reinzuhauen, da wir keine Freude mehr am Spiel haben, sondern Sport machen, um gesund, fit und straff zu bleiben, ist Rauchen so was von vorvorgestern, so was von unerwünscht. Dass es auch Ausdruck unmittelbarer Lebensfreude sein kann, sich unvernünftig zu verhalten, das ist nicht mehr diskutabel.
"Gehst du schon?", fragt mich Lars verärgert, als ich an ihm vorbeigehe. Wahrscheinlich denkt er, dass ich die beiden Flaschen Rotwein klauen will. "Nein, nein, wir feiern draußen weiter", sage ich und deute mit dem Kopf in das Schneetreiben.
Wie schnell man neue Menschen kennenlernt, als Raucher
Als ich dort ankomme, trifft mich ein nasser Schneeball an der Schulter. Freunde, Freunde, so ausgelassen muss es denn doch nicht zugehen! Mittlerweile lassen es sich gut zwanzig Menschen im Schnee gut gehen. Wie schnell man neue, reizende Menschen kennenlernt, als Raucher. Nicht, dass man als Nichtraucher keine reizenden Menschen treffen würde, schon klar, aber die Gemeinsamkeit unserer gesellschaftlichen Ächtung schweißt schon auf besondere Art zusammen. Das wäre auch vorbei, sollten sie eines Tages das Rauchen ganz verbieten. Was dann?
Gut, beim Nordic Walken könnte man sicher ins Gespräch kommen, ich könnte mir auch einen Hund anschaffen, einen Bernhardiner vielleicht, könnte ihn Bernd nennen und andere Hundehalter beim Gassi treffen, mit dem Herrchen von Wuffi, dem Weimaraner, oder der Halterin von Raudi, dem Rottweiler, plaudern. Könnte ich.
Einer erzählt, er sei gerade in Los Angeles gewesen und habe ein Konzert der Rolling Stones besucht, Open Air, gut 80 000 Zuschauer. Zu Beginn der Veranstaltung wurde über Lautsprecher darauf hingewiesen, dies sei ein No-Smoking-Event. Er könne ja verstehen, dass da drinnen, dabei nickt er in Richtung des halb-leeren Lesungsraums, manche Leute den Qualm nicht abkönnen, aber Open Air mit 80 000 Leuten? Die reine Schikane.
Rauchen kann tödlich sein? Extremsport ebenfalls
Ein Sachbearbeiter, der sein Büro dreißig Jahre mit einem Kettenraucher teilen muss, tut sicher gut daran, so schnell wie möglich dafür zu sorgen, dass sein Schreibtisch woanders aufgestellt wird, aber Raucherzonen auf karg überdachten, zugigen Bahnsteigen? Generelles Rauchverbot am Arbeitsplatz, auch wenn es Einzelbüros gibt? Trauerbalken auf Zigarettenschachteln: Rauchen kann tödlich sein? Extremsport ebenfalls.
Kann mich denn niemand verstehen? Ich rauche, wenn ich gerade eine Idee hatte, die mich begeistert. Wenn ich mich unsterblich verliebt habe. Wenn ich spüre, dass ich mich trennen muss. Wenn ich einen alten Freund nach langer Zeit wiedersehe. Wenn es in die Verlängerung geht und sich ein Elfmeterschießen abzeichnet. Wenn ich gleich die Hochzeitsrede für meinen besten Freund halten muss. Wenn ich diese Rede gerade gehalten und sie zumindest nicht vergeigt habe. Wenn ich ein schwieriges Telefonat führe. Wenn ich das Gefühl habe, dass sich etwas in meinem Leben ändern muss, ich aber nicht genau weiß, was. Wenn ich endlich herausgefunden habe, was ich ändern muss. Wenn ich, völlig unerwartet, eine Nebenkostenrückerstattung im dreistelligen Bereich bekommen habe. Oder wenn der erste Schnee fällt.
Wann ich rauche? Wenn ich begeistert bin, wenn ich... hmm, eigentlich immer
An all dem kann ich mich natürlich auch ohne Zigaretten freuen. Aber auch dieser Staat sagt ja nicht: Rauchen ist tödlich, und deshalb verbieten wir den Vertrieb und Konsum von Tabak. Ich finde es nicht fair, obszöne vier Euro (zur Erinnerung: früher acht Deutsche Mark) zu nehmen, Milliarden an Tabaksteuer einzustreichen und die Geschröpften vor die Tür zu schicken.
Wobei es dort heute Abend recht gesellig zugeht. Der erste Schneemann steht, unter dem Arm steckt eine Flasche Weißwein, im Mund eine brennende Zigarette. Das geht mir denn doch etwas zu weit, aber wenn es drinnen zu gesittet zugeht, kommt es draußen eben zum Exzess. Ich sehe noch mal nach drinnen. Viel ist da nicht mehr los. Es wird schon aufgeräumt. Lars packt seine Bücher ein. Die, die er nicht mehr signieren konnte.
Was mich schon ein bisschen ärgert: Die da drinnen haben nicht einen Funken mehr Spaß, wenn sie uns rausschicken. Es wäre okay, wenn drinnen die Party toben würde, während draußen ein paar Luftverpester an ihren kalten Stumpen saugen würden. Aber so ist es ja nicht. Drinnen wird muffig und deutlich vor Mitternacht zusammengepackt, während draußen die Party tobt. Ich sehe noch mal nach Lars. "Willst du nicht rauskommen? Es ist noch richtig was los draußen!"
"Ich muss morgen früh raus", sagt Lars und trägt seine Bücher zum Hinterausgang. Ich sehe in die Nacht hinaus. Jemand hat einen Gettoblaster aufgetrieben und eine CD mit Weihnachtsliedern aufgelegt: "Chestnuts roasting on an open fire..." Einige tanzen. Zigarettenrauch mischt sich mit dem milchigen Atem in dieser wunderbaren Winternacht. Ich sehe auf das beschlagene Glas mit dem Weißwein. Die traurige Wahrheit ist: Raucher sterben sieben Jahre früher, statistisch gesehen. Nichtraucher sterben sieben Jahre später, statistisch gesehen. Die letzten Wolken haben sich verzogen, der Mond ist herausgekommen und scheint hell und stark auf den frischen Schnee. Wie wahnsinnig schön das ist.