Das Schlimmste sind für Kinder nicht lange Wege, das Schlimmste sind langweilige Wege. Sagt Bernhard Meyer. Der emeritierte Sozialwissenschaftler der Evangelischen Hochschule Darmstadt hat von Kindern gelernt, wie sie die Welt wahrnehmen. Und natürlich erinnert er sich an seine eigene Kindheit.
Interessant ist zum Beispiel der Kaugummiautomat auf der anderen Straßenseite – da muss man mal schnell rüberrennen und die Hand in die Ausgabeklappe stecken, vielleicht hat jemand was vergessen? Oder der Hund, der sich bellend gegen den Zaun wirft – jeden Tag ein aufwühlendes Erlebnis, das man jeden Tag erneut überlebt. Der Garten, in den man durchs angelehnte Törchen mal eben reinspazieren kann. Das Mäuerchen, auf dem man balancieren kann. "Das sind Magnete in der Stadt, die sehen Erwachsene gar nicht", sagt Bernhard Meyer.
Aber es gibt immer weniger "Kindermagnete" in Deutschlands Städten und Städtchen. Die niedrigen Grundstücksmäuerchen, auf denen man einst balancieren konnte, sind jetzt mit hohen Gattern besteckt, Höfe mit mannshohen Metalltüren versperrt, Gärten mit blickdichten Thujas. Und auf der anderen Seite des Weges die Autos. Wer mag da schon gehen, zwischen Häuserwand und Autowand?
Ja, es gibt weiterhin Kinderorte – die Schule, das Schwimmbad, die Musikschule, den Sportplatz . . . Aber sie sind zu Inseln geworden. Und zwischen den Inseln verkehren als Fähren die Elterntaxis. "Generation Rücksitz", sagt man über heutige Kinder.
Eine bespielbare Stadt, das war schon lange der Traum des Pädagogen Bernhard Meyer. Ein Netz an Wegen, auf denen sich Kinder sozusagen durch die Stadt spielen können. Aber es brauchte einen Bürgermeister, der gegen Einwände wie "Das geht doch nicht, die Richtlinien!" oder "Was das wieder kostet!" sagt: Wir machen das.
In Griesheim, der 28 000-Einwohner-Stadt nahe Darmstadt, gab es diesen Bürgermeister, Norbert Leber. Der hörte im Rathaus in seinen Kindersprechstunden von der Langweiligkeit der Wege. So fand man zusammen.
Alsbald malten über 1000 Grundschulkinder mit Kreide ihre Wege auf (und die entsprechen keineswegs immer dem Schulwegeplan). Die Stadt identifizierte sodann rund 100 Flächen auf und neben Gehwegen als mögliche neue Spielflächen. Denn die rund 25 Spielplätze in Griesheim sind letztlich auch Inseln. "Und immer Spielplatz ist wie zehn Jahre lang Pizza", findet Meyer.
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Klar, dass Kinder auch beim Aussuchen der Objekte mitgeredet haben. Nutzungsoffen sollten sie sein, das war Bernhard Meyer wichtig. So wie die großen Findlinge. Ob man draufklettert, dagegenspringt, sich mit dem Rücken drüber aushängt, im Raureif was draufschreibt – "da kann keiner sagen: Das macht man nicht mit einem Findling!"
"Wegbegleiter" nennt Meyer die Objekte. Da gibt es zum Beispiel farbige Punkte auf dem Boden, lange Holzbalken, ein Wackelbrett, Treppen aus Kisten, im Boden verankerte Schwingstangen . . . Natürlich steuert man damit auch die Wege der Kinder – alle gehen jetzt beim Wackelbrett über die Straße, da, wo es am ungefährlichsten ist.
Nicht alle Bürger und Bürgerinnen fanden die "bespielbare Stadt" von Anfang an toll, erzählt Meyer. Kinder direkt vor der Haustür, oje oje, womöglich sogar Jugendliche . . . Als dann aber die ersten Auszeichnungen und Preise kamen, waren alle schon immer dafür gewesen.
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Preiswert war das Projekt "Bespielbare Stadt" noch dazu. Von den Gesamtkosten in Höhe von etwa 105 000 Euro musste die Stadt am Ende nur 15 000 Euro selbst bezahlen. Der Rest kam von Sponsoren und aus Wettbewerbsgeldern. Vandalismus hat es bislang nicht gegeben. Griesheim erlebe derzeit den größten Zuzug im Landkreis, sagt Bernhard Meyer. Sicherlich auch, weil man sehe, dass Kinder hier willkommen sind.
Weil Meyer selbst in Griesheim wohnt, guckte er natürlich öfter, wer sich wie auf den Wegen tummelt. Und was sah er? Alte Leute saßen auf den Spielobjekten! Auf den Drüberhüpfkugeln, auf dem Schwebebalken. Schon war das nächste Projekt geboren: "Die besitzbare Stadt".
Und so wie man die Kinder in die Planung einbezogen hatte, befragten nun Studierende der Evangelischen Hochschule die älteren Menschen in Griesheim. Sie lernten: Wer körperlich beeinträchtigt ist, macht eine Risikoabwägung, bevor er rausgeht. Komme ich überhaupt an mein Ziel? Gibt es Sicherheitspunkte unterwegs, so was wie "Tankstellen", falls ich schwächle?
So prägen die Verhältnisse das Verhalten, sagt der Professor. Man bleibt zu Hause, weil die Stadt nur für die Schnellen eingerichtet ist. Den Rückzug in die Wohnung könnte man verlangsamen, findet Bernhard Meyer. Eine lohnende Aufgabe für Dörfer und Städte. "Aus jedem Autofahrer wird eines Tages wieder ein Fußgänger."
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Jetzt finden sich fürs Kurzzeitsitzen kleine Stehhocker am Rand der Griesheimer Gehwege – mit angeschrägter Sitzfläche, damit man auch wieder hochkommt. Am allerliebsten hätte Meyer Klappsitze an den Häusern. Aber das war bislang noch nicht möglich.
Und es gibt Bänke am richtigen Ort: nicht um einen Baum herum, sondern da, wo man das "kommunale Kino" genießen kann – zum Beispiel gegenüber dem Eingang des Ärztehauses. "Ah, Willy, hast es wieder mit dem Rücken?" So kommt man ins Gespräch, sagt Meyer. Nicht zuletzt haben viele Bänke nun auch Armlehnen. Auch das Projekt "Besitzbare Stadt" kostete die Stadt am Ende nur 15 000 Euro.
Nun fährt Bernhard Meyer landauf, landab, geladen von Vereinen und Kirchengemeinden in kleinen und großen Städten. Nicht alle kommen gleich in die Puschen, aber in Brühl im Rheinland ist man auf dem besten Weg. Es braucht eben immer eine engagierte Verwaltungsspitze, sagt Meyer, die Bürgermeisterin oder der Bürgermeister muss wollen.
Manchmal sitzt er nun selbst auf den Objekten und schmunzelt über sich. "Wenn man’s braucht, sieht man’s." Ob man nun älter ist oder einen Skiunfall hatte.
Eine erste Version dieses Beitrags erschien am 26.11.2018.