Mindestens so nervig fand Michael Schäuffele die Besserwisser um sich herum
Tim Wegner
07.10.2010

Eine Woche nach der Geburt fing es an, dass Taina nur noch schrie. Die anthroposophische Klinik sagte: eine Stunde stillen, dann drei Stunden Pause ­ das Kind hat geschrien, geschrien, geschrien. Die Hebamme sagte: Man muss das Kind ganz eng einbinden in ein Tuch ­ das Kind hat geschrien. Das sind Koliken, hieß es. Das sind keine Koliken, sagte der Kinderarzt.

Babys schlafen 14 Stunden am Tag. Unser Kind schlief nachts maximal fünf.

Wir haben Bücher gekauft. Da stand drin: Babys schlafen 14 Stunden am Tag. Unser Kind schlief nachts maximal fünf Stunden und am Tag zwei. Alle hatten Tipps, die sich alle widersprachen: stillen nach Plan, sonst wird es verwöhnt. Nein, stillen nach Bedarf, sonst verliert es sein Urvertrauen! Unsere Mütter sagten: Ihr habt nie geschrien, ihr müsst halt einen Schnuller geben! Die Klinik sagte: Schnuller macht Saugirritationen.

In der Rückbildungsgymnastik sagten die anderen Mütter: "Gell, Philipp, wir schlafen schon durch. Ja, den Philipp muss man richtig wecken!" Oder sie sagten: "Mein Gott, ist Ihr Kind klein! Und so dünn!" Man muss mindestens einen Vier-Kilo-Brocken haben, ein Michelin-Männchen, einen Sumo-Ringer. Unsere Tochter ist ein Vögelchen, sie wog bei der Geburt 2900 Gramm.

"Ich will mein altes Leben wieder!"

Wir waren völlig verunsichert. Und bald richtig isoliert. Man traut sich mit einem schreienden Kind ja nicht raus, weil sich alle Leute umdrehen. Meine Frau fiel in eine Depression. "Ich will mein altes Leben wieder!", sagte sie. Ich bin morgens aus dem Haus, meine Frau saß im Sessel mit dem schreienden Kind. Abends kam ich nach Hause, alles dunkel ­ da saß sie immer noch im Sessel, und das Kind schrie. Es war furchtbar. Ganz furchtbar.

Dann fanden wir die Schreibaby-Beratung bei Pro Familia in Tübingen. Und Frau Löbner gab uns ganz viel Sicherheit: "Das kriegen wir hin", sagte sie. "Aber lesen Sie nichts mehr, sprechen Sie nicht mit anderen Eltern. Sie müssen sich schützen." Und sie hat Tacheles geredet: Ihr Kind ist mit dieser Welt noch überfordert, es braucht ganz viel Mama, lassen Sie das Kind an die Brust, sooft es möchte. Denn wenn Taina gestillt wurde, hat sie nicht geschrien.

"Ich weiß nicht wann, aber ich verspreche Ihnen: Es geht vorbei!"

Aber meine Frau war so deprimiert, sie dachte, es geht nie mehr vorbei. Da hat Frau Löbner gesagt: "Frau Schäuffele, ich kann Ihnen nicht sagen, wann genau Sie wieder normal leben können, aber ich verspreche Ihnen: Es geht vorbei!" Es dauerte ein paar Sitzungen, bis meine Frau sagte: "Okay, ich lasse mich darauf ein."

Ich habe ihr dann den Rücken freigehalten, habe gekocht, geputzt, gewaschen, damit sie nichts machen musste, als das Kind zu stillen. Und im vierten Monat wurde es langsam besser. Taina braucht eben ganz viel Körperkontakt, und den bekommt sie auch. Das Extremwickeln und das preußische Liegenlassen, das war nicht unser Weg. Mir dreht sich heute noch das Herz um, dass wir sie mal zwei Stunden im Wagen haben schreien lassen.

Jetzt sieht sie richtig satt aus, sie hat genug Mama in sich aufgesaugt. Und sie hält es jetzt aus, mal für sich zu sein ­ natürlich in unserer Nähe. Neulich, als wir im Brautstudio waren, weil wir noch kirchlich heiraten wollen, lag sie zwei Stunden lang auf dem Boden und strampelte glücklich vor sich hin. "Sie haben aber ein braves Kind", sagten die Verkäuferinnen.

Aber wir mussten richtig barsch werden zu anderen, besonders zu unseren Müttern. Wir brauchten keine Tipps, sondern stille Helfer im Hintergrund. Menschen, die fragen: "Wie können wir euch unterstützen?" Aber nicht dieses ewige "Wie geht's?". Was soll man da sagen ­ danke, schlecht, sie schreit immer noch, wir sind immer noch am Ende?

Taina schläft nach wie vor nur acht Stunden insgesamt. Aber wir machen uns deshalb keinen Stress mehr. Die macht auch ihren Weg. Ich hätte es nie gedacht, aber ich würde mir das Herz aus dem Leib reißen für meine Tochter. Jetzt denken wir über ein zweites Kind nach. Von mir aus kann es wieder ein Schreikind sein. Das kriegen wir auch durch.

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