Man kann es besser treffen als ausgerechnet in Mümmelmannsberg aufzuwachsen. Der Stadtteil von Hamburg gilt als Ghetto für chancenlose Jugendliche. Aber das stimmt nicht: Wer hier klarkommt, der hat eine Zukunft
07.10.2010

Diese Geschichte handelt von einem Stadtteil und sechs Jugendlichen. Der Stadtteil heißt Mümmelmannsberg und liegt am Ostrand von Hamburg.

Mümmelmannsberg hat jede Menge Sozialwohnungen, aber kein Kino, keine Bar und keine belebten Plätze. Wer in besseren Gegenden wohnt, fährt da nicht hin. Ein "Ghetto der Chancenlosen", sagt man so.

"Ghetto der Chancenlosen"

Die sechs Jugendlichen sind nicht chancenlos. Aber sie müssen um manches kämpfen, das Gleichaltrigen anderswo hinterhergetragen wird. Es geht ihnen oft schlecht. Trotzdem kommen sie klar. Denn sie sind voller Hoffnung, und sie haben ein Ziel.

David* will Liebe. Nico Freiheit. Mike will Spaß. Laura ihre Ruhe. Nasrin eine Eins. Und Sibel eine Erlaubnis.

Eines wissen die sechs jetzt schon: Sie müssen das ganz alleine schaffen. Aber das ist ja kein Grund, es nicht zu versuchen.

An einem dieser unendlich langweiligen Nachmittage hängt David mal wieder in der Jugendetage herum. David will Liebe, die Sozialarbeiterin reicht ihm Schmirgelpapier. Seit Stunden bearbeitet sie ein Windspiel für den Wohltätigkeitsbasar. Die Luft ist von feinem Holzstaub durchzogen. David seufzt: "Es ist alles so banal." Der 15-Jährige starrt durch seinen Fransenpony auf die Wanduhr. Wenn es doch schon 16 Uhr wäre! Die Zeiger kriechen voran.

Endlich ist es so weit. David springt auf, schnappt sich seine Gitarre und läuft durch die Fußgängerzone. Kein Mensch ist außer ihm unterwegs. Als das Einkaufszentrum vor ein paar Jahren dichtmachte, blieb eine Betonwüste zurück. Die meisten Gewerbeflächen stehen leer. Nur hinter der Glasfassade des Altenheims herrscht Leben. Eine Gruppe Senioren sitzt am Kaffeetisch und blickt dem einsamen Passanten hinterher.

Mit 14 dachte er: Bald bin ich 16. Die 15 hatte er ganz vergessen.

David strebt dem Flachbau in der Mitte der Fußgängerzone zu. Er klingelt, eine unscheinbare Metalltür springt auf, dahinter führt eine Treppe unter das Pflaster. Hier hat der Verein "1000 Steine -­ Rock statt Drogen" seine Probenräume. In der zugigen Sitzecke im Flur warten Mike und Nico auf ihr drittes Bandmitglied. David, Nico und Mike sind die Kräisi Facker, die jüngste Punkband von Mümmelmannsberg. Auch Nico und Mike sind 15 Jahre alt. Ein blödes Alter, findet Nico. Mit 14 dachte er: Bald bin ich 16. Die 15 hatte er ganz vergessen.

Nico ist ein Mädchentyp. Feine Züge, glatte Haut, ein gewinnendes Lachen. Er schaut sein Gegenüber meist von unten an, wie aus der Deckung hochblickend. Aber nur ganz kurz, dann fliehen seine Augen. Nico sagt: "Ich bin ein Punk." Derzeit trägt er einen Irokesenschnitt. Grün gefärbte Zacken stehen von seinem Kopf ab. Punk sein, das bedeutet so viel wie Freiheit.

David stöhnt. Punks sind für ihn vor allem Säufer. David ist Halbarmenier. Er hat lange schwarze Haare und ein Kinnbärtchen. Bei Mädchen hatte er noch nicht so viel Erfolg. Klar, meint Nico, David sei ja auch ein Spaßkaputtmacher. Tatsächlich wirkt David oft ein wenig melancholisch, aber er ist eloquent. Sein Idol ist Harald Schmidt.

Mike ist nervös und friert oft, weil er selbst bei Kälte mit Jeansjacke rumläuft. Er ist der Texter der Gruppe, über 150 Songs hat er schon geschrieben. Später möchte er gerne Musik studieren. "Na, Superhirn", begrüßt ihn ein Mädchen, das gerade aus dem Probenraum vom Unterricht kommt, Schlagzeugstöcke in der Hand. Auf ihrem bauchfreien T-Shirt steht "Sweet Girl". Nico umarmt sie zur Begrüßung.

Die Jungs springen auf und greifen zu ihren Instrumenten. Plötzlich ist Spannung in ihren Körpern, die eben noch wie Butter in den Sesseln zerliefen. David reißt den Gitarrenhals hoch und lässt die Box erzittern, Nico klammert sich ans Mikro, Schlagzeuger Mike sitzt strahlend hinter seiner Festung.

Fast alle Jugendlichen in Mümmelmannsberg rauchen. Die meisten fangen mit zwölf an.

Die Kräisi Facker spielen schon seit einer Stunde. Normalerweise wird nach 15 Minuten erst mal eine Rauchpause draußen vor der Tür eingelegt. Klar rauchen sie. Fast alle Jugendlichen in Mümmelmannsberg rauchen. Die meisten fangen mit zwölf an.

Heute proben die drei, bis ihnen die Ohren wehtun. In zwei Monaten geben sie ihr erstes großes Konzert. Da heißt es üben, üben, vor allem für Nico, der selten einen richtigen Akkord trifft.

Laura, das "Sweet Girl" mit den Mandelaugen, sitzt im Flur und stöbert in den Texten von Mike. Er hat ein neues Stück geschrieben: "Auch Männer können leiden." Der Refrain geht: "Auch Männer können wein' / Vorbei ist die Zeit, wo wir am Jagen war'n / Und ihr saßt in der Höhle und hattet es warm." Laura sagt, sie weiß, was das bedeutet. "Da hat er Liebeskummer wegen mir." Sie blickt traurig hoch.

Dann verhärtet sich ihr Gesicht. Am liebsten, sagt sie, würde sie sich für lange Zeit verkriechen. Doch das ist gerade schwierig. Im Moment wohnt sie mal bei ihrem Freund, mal bei einem Bekannten, den sie Ersatzvater nennt. Zu Hause hält sie es nicht mehr aus, "da ist ständig Party", ihre Mutter ist Alkoholikerin und läuft seit einem Sturz vom Balkon an Krücken. Sie verlässt nur selten die Wohnung. Abends hocken die Jungs aus der Nachbarschaft bei ihr und trinken.

Sie wartet. Auf was, weiß sie selbst nicht.

Laura ist 17. In diesem Jahr versucht sie zum zweiten Mal die zehnte Klasse zu schaffen. Aber sie findet kaum die Ruhe zum Lernen. Außerdem hat sie Bauchschmerzen. Eigentlich müsste sie zum Arzt gehen, es ist fast 18 Uhr, aber sie kommt nicht vom Fleck. Sie wartet. Auf was, weiß sie selbst nicht.

Als Nico sie nach der Probe immer noch im Keller sitzen sieht, schüttelt er den Kopf. "Komm, ich bring dich zum Arzt!" Mike hat auch schon was vor. David blickt ihm enttäuscht hinterher.

Sibel ordnet die letzten beiden Schmuckstücke in der frisch polierten Glasvitrine an, dann verabschiedet sie sich von ihrer Chefin. Feierabend. Mit wippendem Pferdeschwanz verlässt die 17-jährige Türkin das Juweliergeschäft. Jeden Tag jobbt sie vier Stunden in einer Einkaufspassage. Draußen ist es schon dunkel. "Die Arbeit ist langweilig", sagt Sibel auf der Busfahrt zurück nach Mümmelmannsberg. Aber immer noch besser, als zu Hause rumzuhängen. 15 Bewerbungen für eine Lehrstelle als Speditionskauffrau hat sie abgeschickt. Drei Firmen haben bereits abgesagt.

Was natürlich blöd ist. Obwohl sie eigentlich gar keine Lehre will, sondern auf die Schauspielschule. Aber ihr Vater hält nichts von der Schauspielerei. Unseriös sei das für ein türkisches Mädchen. Also erst die Ausbildung, dann die Bühne? "Ich muss unbedingt noch mal mit ihm reden." Versonnen blickt Sibel aus dem Busfenster. Am Horizont ragen die Hochhäuser von Mümmelmannsberg wie Lichterketten in den Abendhimmel.

Wo Laura wohl heute übernachtet? "Gegen Laura habe ich ein Prinzessinnenleben", sagt Sibel. Zu Hause sind sie vier Kinder, Mutter und Vater verstehen sich, mit ihrer älteren Schwester kann sie über alles reden ­ eine vergleichsweise heile Welt. Trotzdem ist sie bis vor kurzem ständig ausgetickt.

"Ich habe mich geprügelt wie ein Junge"

"Ich habe mich geprügelt wie ein Junge", erinnert sie sich. Einmal hat sie ein Mädchen im Bus zusammengeschlagen, weil die sie "Hurentochter" genannt hatte. Die Schulleitung schickte sie zum Anti-Aggressions-Training. Doch nichts half. Als sie einer Mitschülerin in der Pause einen Ohrring ausriss, flog sie von der Gesamtschule.

Der Bus hält vor der evangelischen Kirche. Sibel steigt aus und steuert auf den dunklen Kirchhof zu. Von allen Seiten tauchen Mädchen auf. Spontantreffen via SMS. Die Familien der "Mädels", so nennt Sibel ihre Clique, stammen aus Polen, Afghanistan und der Türkei. Keine aus Deutschland.

Deutsche Mädchen sind anders. Die haben einen Freund, tragen kurze Röcke, gehen spät aus. Das machen die "Mädels" natürlich auch. Aber heimlich. Nur die Mütter sind eingeweiht. "Wir stecken alle unter einer Decke, nur die Papas sind ausgeschlossen", sagt eine Türkin.

Jemand fragt: "Habt ihr was von Laura gehört?" Betretene Blicke. Laura habe schon viel durchgemacht, erzählen die Mädchen. Vor allem als ihre Mutter aus dem dritten Stock vom Balkon fiel ­ oder sprang? Und dann die Gerüchte über Missbrauch. "Die Leute reden hier viel", sagt Sibel knapp. "Mümmelmannsberg ist ein Dorf."

An der U-Bahn-Station grüßt Sibel ein paar Jungs. Abends sammeln sich hier die Mümmelmann-Tiger-Boys, die hiesige Straßengang. Weiche, pickelige Gesichter unter tiefen Kapuzen, die grimmig aussehen wollen. Man spürt förmlich die Kälte, die unter ihre dünnen Trainingsjacken kriecht.

Nasrin sitzt allein in der Mensa. Wie die meisten Jugendlichen aus dem Viertel geht die gebürtige Iranerin auf die Gesamtschule. Zwei Drittel der Schüler, die das Abitur schaffen, sind Deutsche ausländischer Herkunft. Sibel betritt den Saal. Mittags trifft sie sich hier oft mit ihren Freundinnen. Sie wirft ihr einen kalten Blick zu.

"Ich will raus aus Mümmelmannsberg."

Nasrin verzieht das Gesicht. Sie ist schon 18. Sie hält Mädchen wie Sibel für prollig und weiß, dass sie als arrogant gilt. Egal. "Ich will raus aus Mümmelmannsberg." Sie klappt einen kleinen Spiegel auf, pudert sich die Nase nach und prüft, ob ihr Lippenstift verschmiert ist. Niemand ist so stark geschminkt wie Nasrin. Die anderen ziehen sie damit auf. "Aber ich fühle mich ohne Schminke nackt."

Der Schulgong ertönt. Nasrin hat ihr Lieblingsfach: darstellendes Spiel. Auf dünnen Absätzen stöckelt sie in den Klassenraum. Auch im Unterricht fällt sie auf. Sie redet laut, lacht laut, ergreift immer als Erste das Wort. Heute gibt es die Halbjahresnoten. Nasrin weiß jetzt schon: "Das wird 'ne Eins." Sie kriegt 13 Punkte, eine Eins minus. Nasrin ist empört. "Hey, sei mal still, das ist doch gut", ruft eine Schülerin.

Als die Stunde zu Ende ist, kann Nasrin die Tränen nicht mehr zurückhalten. "Ich will doch ein Einserabi machen." Ein Mädchen geht vorbei und sagt laut: "Du machst dich ganz schön unbeliebt mit deinem Verhalten." Nasrin wirft den Kopf zurück. "Ich bin schon unbeliebt." Aber bei der Theateraufführung in der Schule, da wird sie allen beweisen, was in ihr steckt.

Nico, der Punk, gibt eine Party. Seine Mutter ist übers Wochenende zu ihrem Freund gefahren. Also erst mal zu Plus, einkaufen. Mike und David kommen mit. Nico hat Geld. Seine Mutter gibt ihm jeden Monat 100 Euro, damit er nicht mehr klaut. Im Einkaufswagen stapeln die Jungen Bier, Billigwodka, Cola, Tiefkühlkroketten und Flips. Beim Verlassen des Geschäfts ruft Nico laut, so dass die Kassiererinnen es hören: "Bringt den Einkaufswagen zum Auto."

Nico schiebt den Wagen durch die verschachtelten Hausdurchgänge. Die Räder rattern auf dem Pflaster. Ein Polizeiauto fährt vorbei, nimmt aber keine Notiz von den drei Gestalten. Zwischen den Grünflächen der Häuser stehen schon andere Einkaufswagen verlassen herum.

David trabt missmutig hinter den anderen her. Die spinnen doch, um 18 Uhr Wodka zu trinken: "Wenn es wenigstens was zu feiern gäbe!" Er nervt die anderen mit seiner Leidensmiene. Im Grunde ist er eifersüchtig. Seit Nico keine Freundin mehr hat, hängt er ständig mit Mike herum. Früher fuhr Mike oft mit ihm, David, an die Elbe, einfach so, um aufs Wasser zu gucken. Schön war das. So etwas kann er mit niemandem sonst machen. Schulfreunde hat er nicht. David geht im Nachbarbezirk Wandsbek aufs Gymnasium. "Die kommen dort aus einer anderen Schicht, die sind elitär und verwöhnt."

Nico hält vor einem Hauseingang. Die Wohnung im ersten Stock ist einladend. Eine Essecke, eine Couchgarnitur mit bunten Kissen, Blumen. Ein mütterlich gepflegtes Nest. Weitere Gäste trudeln ein und machen es sich im Wohnzimmer bequem. Laura kommt nicht. Sie liegt mit einer Blinddarmentzündung im Krankenhaus.

Die erste Wodkaflasche ist nach einer Stunde leer.

Die erste Wodkaflasche ist nach einer Stunde leer. Auch David hält sich nicht zurück, was seine Laune sichtlich verbessert. Ein Glas fällt um. Nico springt auf und bringt Tücher, um den neuen Couchtisch abzuwischen. Alle rülpsen nach Kräften.

Gastgeber Nico reicht Fotos aus seiner Kindheit herum. Fotos vom "lieben Jungen", wie er selbst sagt. Und von dem, der er dann wurde. Nico spricht warm von seiner Mutter. Sie hält zu ihm, obwohl er so viel Mist baut. In der neunten Klasse flog er von der Gesamtschule, weil er seinem Klassenlehrer mit einem Ziegelstein gedroht hatte. "Meine Schülerakte war eh schon so dick."

Sein Vater brachte ihn an einer anderen Schule unter. Dort hat er zunächst Fuß gefasst. Aber dann trennte sich seine letzte Freundin von ihm, und er fing mit dem Trinken an. Ein paar Mal landete er in der Ausnüchterungszelle auf dem Kiez. Da war auch seine Mutter richtig sauer auf ihn. Jetzt versucht er nur am Wochenende zu trinken. "Ich kriegte morgens schon so Zitteranfälle."

Mike blickt seinen Freund besorgt an. Seine halbe Kindheit hat er bei ihm zu Hause verbracht. Mit seinen eigenen Eltern versteht er sich nicht besonders. Hier bei Nico hat er auch fast alle Songtexte geschrieben. Er steht von der Couch auf und geht in Nicos Zimmer. Unter dem Bett zieht er einen Haufen Texte hervor, alle in krakeliger Kinderschrift verfasst. Lieder, die von Mümmelmannsberg als Heimat erzählen, vom Martyrium der Langeweile, von Kindern, die von Massenmördern zerstückelt werden, und von den Besoffenen an der U-Bahn.

Liebeslieder sind nicht dabei. Mike hatte bisher noch keine Freundin. Über Laura redet er nicht. Klar, fehle ihm das manchmal. Seine Unterlippe bebt, er blickt zur Seite. Aber ein Mädchen zu benutzen, nur um die Erfahrung zu machen, findet er unfair. Da muss schon Liebe sein.

Um neun lallen alle. Einer der Jungs steht schwankend in der Mitte des Wohnzimmers und feuert heiße Kroketten auf Mike. Die Kroketten zerplatzen an der gelben Tapete und fallen auf die Couch. Mike flucht und räumt die Krümel weg, als wäre es seine Wohnung. David reicht es. Auf dem Nachhauseweg beklagt er sich. Warum sagt Mike zu ihm, er sei langweilig? Das Selbstmitleid drückt seine Schultern noch tiefer runter. Seine ganze Körperhaltung signalisiert: Nimm mich doch einer in den Arm! Vor dem U-Bahn-Eingang zieht eine Gang vorbei. Besser er wechselt die Straßenseite. Dann verschwindet seine schwankende Gestalt im Grau einer Häuserpassage.

Allmählich bekommen die Bäume Knospen und werfen einen zartgrünen Schleier über das Viertel. Die Kräisi Facker proben unermüdlich für ihren Auftritt. Nur Laura taucht überhaupt nicht mehr auf. Nach der Blinddarmoperation ist sie zu ihrem Freund am Hafen gezogen, fast eine Stunde von Mümmelmannsberg entfernt. Zur Schule geht sie nur noch selten. "Die fliegt bestimmt", meint Mike und verschwindet im Übungsraum.

Nasrin hat den Theaterkurs geschmissen, eine Woche vor der Aufführung. Nach einem Streit mit einer Schülerin fühlte sie sich ungerecht behandelt. Die anderen fanden, sie habe "wieder rumgezickt". Die Sache eskalierte, und das war's dann. Aus, vorbei.

Nasrin sitzt wie betäubt auf dem Teppich im Wohnzimmer, neben sich ihre Mutter. Ausgrenzung, Exil ­ das Familientrauma. Nasrins Mutter ist der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Sie erlaubt ihr fast alles, auch, dass sie seit drei Jahren einen deutschen Freund hat. Einen Vater, der das verbieten könnte, gibt es nicht. Die Mutter floh alleine mit ihren drei Kindern aus dem Iran. Erst lebten sie im Asylbewerberheim, seit zehn Jahren in einer Sozialwohnung in Mümmelmannsberg.

Im Iran gehörte sie zur wohlhabenden Oberschicht

Das Wohnzimmer wirkt modern. Ocker gestrichene Wände, keine Gardinen an den Fenstern. In der Vitrine stehen Bilder vom Schah. Immer wieder ein Streitpunkt zwischen den beiden. Aber für die Mutter bedeutet er Heimat. Bis heute spricht sie kein Deutsch. "Ich habe mich immer geschämt, als radebrechende Ausländerin zu erscheinen." Im Iran gehörte sie zur wohlhabenden Oberschicht, erzählt sie. Nasrin übersetzt flink. Nur einmal stockt sie und sagt: "Mama, rede nicht wie eine Professorin!"

Später in ihrem Zimmer steigen Nasrin Tränen in die Augen. Es ist nicht nur der gescheiterte Theaterkurs, das Gefühl, gedemütigt worden zu sein. Es bedrückt sie auch, dass ihre Mutter so einsam ist. Sie hat oft ein schlechtes Gewissen, wenn sie abends ausgeht. Silvester rief die Mutter auf ihrem Handy an und sagte: "Ich fühle mich so allein." Nasrin fuhr sofort nach Hause. "Wie soll das bloß werden, wenn ich mal ausziehen will?" Auf dem Bettsofa, zwischen den vielen Teddys, wirkt sie auf einmal ganz klein. Nasrin steht auf und guckt aus dem Fenster. In der Ferne sieht man den Widerschein der Großstadt. "Da will ich hin. Bald."

Im Haus der Jugend öffnet Sibel die Kellertür, um die Schüler ihres Tanzkurses hereinzulassen. Streetdance mit einer Horde vorwiegend afrodeutscher Gören aus dem Viertel. Das erfordert eine gewisse Strenge. "Kaugummis raus", ruft die junge Lehrerin. Zwei Mädchen unterhalten sich in ihrer Heimatsprache. Sibel reagiert sofort: "Hey, wir sind in Deutschland. Hier spricht man Türkisch oder Deutsch!" Die Teenager grinsen und verschwinden im Umkleideraum.

"Beim Tanzen kann ich alles abschütteln", sagt Sibel. Meistens. Heute könnte das misslingen. Bisher hat es mit keiner Bewerbung geklappt. Alles zieht sich so hin. Jetzt ist sie auch noch den Job beim Juwelier los, weil die Chefin den Laden verkauft hat. Und ihr Vater macht Ärger. "Wenn du Schauspielerin wirst, bist du nicht mehr meine Tochter", hat er gestern zu ihr gesagt.

"Aber ich weiß, dass ich das schaffe."

Dabei sagen alle, dass sie Talent hat. Sibel ballt ihre Hände zu Fäusten. "Aber ich brauche den Segen meines Vaters." Ein kleines schwarzes Mädchen kommt aus dem Umkleideraum und umschlingt ihre Hüften. Sibel schaltet den CD-Player an. Dann nimmt sie das Mädchen in die Arme und wirbelt mit ihm herum. Die Musik lässt den Boden erzittern. Sibel schreit: "Aber ich weiß, dass ich das schaffe."

Die U-Bahn rollt gen Innenstadt. Heute ist das Konzert der Kräisi Facker. Mike und Nico sitzen zwischen ihren Instrumenten und Verstärkern im Waggon. David steigt ein paar Stationen später ein, Hand in Hand mit einem Mädchen. Er strahlt. "Das ist Betty." Er hat sie auf einer Party kennen gelernt.

Soundcheck im ungeheizten Konzertraum. Um 18 Uhr ist es so weit, die Kräisi Facker spielen als erste von sechs Bands. Die drei gehen auf die Bühne und legen krachend los. Die erste Reihe applaudiert. Da stehen Nicos Vater und Schwester, Laura ist da und selbst ihre Mutter hält sich auf ihren Krücken in der tobenden Menge.

Nach einer Stunde wird das Publikum unruhig. Die Jungs überziehen. "Haut ab!" Aber sie spielen einfach weiter. Dann stellt jemand den Strom ab. David ist sauer. "Ich habe keine Lust mehr auf solchen Teenie-Scheiß", sagt er hinterher. Nico hält ihm eine Flasche hin. Die Nacht ist noch lang, und es gibt Freibier. Alle stoßen an. Laura strahlt. Reden will sie nicht. Nico erzählt später, dass sie wieder regelmäßig in die Schule geht und die zehnte Klasse wohl schaffen wird.

Plötzlich blicken alle gebannt zur Bühne, wo die nächste Band spielt. David steht wieder da oben. Er reißt die Arme hoch und lässt sich wie betäubt ins Publikum fallen. Ekstase im roten Scheinwerferlicht. Einmal schweben, sich getragen fühlen ­ bis die Menge seinen Körper nicht mehr halten kann.

Am nächsten Morgen sollen alle Bands aufräumen. Doch nur eine kommt, und zwar pünktlich um zehn: die Kräisi Facker.

 

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