Walter Lübcke war als Politiker in seiner Region bekannt, bundesweit aber kaum. Er wurde Opfer eines rechtsextremen Täters. Überrascht Sie das?
Reiner Becker: Nein. Auch Kollegen von Walter Lübcke sind massiv bedroht worden, etwa Erich Pipa, ehemaliger Landrat des Main-Kinzig-Kreises, ebenfalls in Hessen. Diese Entwicklung kann man nur verstehen, wenn man den Sommer der Migration im Jahr 2015 beachtet. Die Stimmung ist gekippt, die Debatte über Migration wird seitdem in enthemmter Sprache geführt. Zeitgleich sind es eben die Kommunalpolitiker, die vor Ort die Aufgabe übernommen haben, die Geflüchteten aufzunehmen. Diese Politiker sind erkennbar - und leider oft auch ungeschützt.
Dr. Reiner Becker
Welche Folgen hat das für die Menschen, die sich kommunalpolitisch engagieren?
Oft reicht ein Drohbrief, um sie aus der Spur zu bringen. Ich weiß aus Gesprächen, dass sich gestandene Bürgermeister fragen, was sie öffentlich äußern sollten. Das schadet der Demokratie.
Inwiefern tragen die sozialen Netzwerke wie Facebook oder Twitter zum gesellschaftlichen Klima bei?
Sie leisten einen traurigen Beitrag zur Verrohung. Dort findet kein Austausch statt. Es gibt nur noch Blasen, die nebeneinanderher existieren. Das multipliziert Vorurteile, Rassismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit. Seit den 80er Jahren ist sozialwissenschaftlich nachweisbar, dass der Hass auf schwächere Gruppen in der Bevölkerung zunimmt. Im Internet merken diejenigen, die diesen Hass empfinden, dass andere sind wie sie. Aber die Verrohung hat auch damit zu tun, dass wir Themen zu lange ignoriert haben.
Was meinen Sie?
Zum Beispiel die Rede davon, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei. Menschen mit Migrationshintergrund, die - wie ich - hier geboren wurden, fühlen sich als Bürger zweiter Klasse. Das hat zu Konflikten und Parallelgesellschaften geführt. Seit 2015 kocht dieses Thema hoch, aber fast immer enthemmt. Sachliche, lösungsorientierte Debatten darüber sind kaum möglich.
Seit klar ist, dass der Mord an Walter Lübcke einen rechtsextremen Hintergrund hat, stehen die Sicherheitsbehörden in der Kritik. Es heißt, sie hätten aus dem NSU-Terror nichts gelernt . . .
Das ist mir zu pauschal. Wir beobachten Einzelfälle wie Stephan E., der die Tat an Walter Lübcke gestanden hat. Er war in jungen Jahren in einer Kameradschaft, schlug dann aber einen bürgerlichen Lebensweg ein. Solche Leute haben ihre Ideologie immer noch im Kopf und ihre Kontakte nie abgelegt. Nun gibt es Entwicklungen, die sie wieder zusammenführen, vor allem der Hass auf Geflüchtete und den Islam.
Das heißt, das Bild vom einsamen Wolf, der plötzlich zuschlägt, ist falsch?
Ja. Es gibt Beziehungsnetzwerke von Gleichgesinnten, die nach außen nicht sichtbar sind. Die Sicherheitsbehörden müssen ihr Radar erweitern, um sie früher zu erkennen.