Waldenser, so heißt Italiens älteste evangelische Gemeinschaft. Sie gelten als sehr hilfsbereite Christen, die besonders Migranten und Menschen mit unsicherem Rechtsstatus unterstützen. Während Italiens rechtspopulistische Regierung gegen Flüchtlinge und Zuwanderer hetzt, nehmen die Waldenser sie in ihre Gemeinden auf. Kaum eine andere religiöse Gemeinschaft in Europa ist so einladend, so bunt und so vielfältig wie die italienischen Waldenser.
Warum? Weil sie 650 Jahre lang selbst die Verfolgten waren. Schon lange vor Martin Luther ließ der Laienprediger Petrus Waldes aus Lyon die Bibel in seine Sprache übersetzen. Er lehnte den Reichtum der Kirche ab und trat eine europaweite Armutsbewegung los, die Waldenser. Sofort wird sie von der katholischen Inquisition angegriffen. Auf Dauer konnten die Waldenser nur in entlegenen Gegenden überleben. Als die Reformation kam, schlossen sie sich ihr überall in Europa an, sie wollten ja das Gleiche. Nur in Italien blieben sie "die Waldenser".
Erst seit 1848 genießen Waldenser in Italien Bürgerrechte. Bis heute feiern sie jedes Jahr am 17. Februar das Ende ihrer Rechtlosigkeit. Sie entzünden große Freudenfeuer. Bei Festumzügen werfen sich die Frauen jene alten Trachten über, wie sie sie damals trugen, als die Befreiung kam.
"Gott ist Liebe", der Schriftzug findet sich in vielen Waldenserkirchen. Und unter "Liebe" verstehen Italiens Protestanten die tätige Liebe: dass man die Not anderer sieht und ihnen hilft.
Gottesdienst am 17. Februar 2019 in Pomaretto, einem 1000-Seelen-Dorf in einem der sogenannten Waldensertäler, der entlegenen Schluchten westlich von Turin. Hier sind 60 Prozent der Einwohner Waldenser. Ihr Anteil an der Bevölkerung ist hier so hoch wie sonst nirgends im Land. In seiner Predigt erinnert Eugenio Bernardini, der leitende Geistliche der italienischen Waldenserkirche: Weil Waldenser selbst jahrhundertelang verfolgt wurden, hätten sie heute eine Verpflichtung. Sie dürften nicht hinnehmen, dass in Italien gegen religiöse Minderheiten gehetzt werde und Vorurteile gegen Andersgläubige verbreitet würden.
Nach dem Gottesdienst sammeln Frauen in Trachten für die Kollekte: eine Spende für Glaubensgeschwister in Argentinien.
Gottesdienst in Brescia, einer 200.000 Einwohner-Stadt in der Lombardei. Hier sind die Waldenser eine verschwindend kleine Minderheit. Diese Gemeinde hat nur 120 Mitglieder.
Aber je kleiner die Gemeinde, desto offener ist sie Migranten gegenüber. Pastorin Anne Zell ist selbst Deutsche. Auch ihr Lebenspartner ist Zuwanderer - aus Kamerun. Sie haben eine Tochter - die einzige geborene Waldenserin der Familie. Im Gottesdienst sind viele Ghanaer, eine Frau aus Südkorea, auch Bürger aus anderen Ländern Europas.
Die alteingesessenen Gemeindemitglieder haben sich an die Buntheit gewöhnt. Ohne die vielen Neumitglieder wäre die Waldensergemeinde in Brescia kaum überlebensfähig. Aber die Gemeinde verändert sich so eben auch. Ein kleiner Chor aus Ghanaern singt und trommelt während des Gottesdienstes. Das gab es früher nicht.
"Für Italiener sind Protestanten immer Waldenser. Natürlich haben wir auch Baptisten, Methodisten und Lutheraner im Land. Aber wenn wir dafür gelobt werden, dass wir Migranten helfen, dann profitieren alle Protestanten davon. Wenn man sich über uns ärgert, dann bereitet das auch anderen Evangelischen Kirchen Probleme"
Eugenio Bernardini, leitender Geistlicher der Evangelisch-Waldensischen Kirche
Am Wochenende des 17. Februars 2019, des 171. Gedenktages der Befreiung, unternimmt die Waldensergemeinde von Brescia einen Ausflug in die Geschichte ihrer Glaubensgemeinschaft - in die entlegenen Schluchten der Cottischen Alpen - einem "senkrechten Ghetto" - waren die Waldenser zuletzt verbannt worden. Die Täler waren schwer zugänglich. In Zeiten der Verfolgung konnte man sich dort auch in Höhlen verstecken. In einer solchen Höhle stimmt die Reisegruppe aus Brescia ein Lied an: Amazing Grace.
Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Verfolgung nachgelassen hatte, gründeten die Waldenser Schulen. Heute gelten sie als erfolgreiche und ehrliche Geschäftsleute - und als sehr soziale Mitbürger. Denn als 1848 die Befreiung kam, brachen die relativ gebildeten Waldenser sehr bald aus ihrem Ghetto aus. Überall in Italien gründeten sie evangelische Gemeinden und Schulen, Kranken- und Waisenhäuser, Zeitungs- und Buchverlage.
In den 1980ern führte der italienische Staat eine Kultur- und Religionssteuer ein. Steuerzahler bestimmen selbst, an wen die acht Promille ihres Einkommens gehen: an die katholische Kirche, an eine protestantische Kirche, an Juden, Muslime, Hindus oder Buddhisten. Oder an den Staat - für kulturelle Zwecke.
Waldenser nehmen Geld aus der Steuer an, aber nicht für ihre eigenen Gemeinden, sondern nur für soziale und kulturelle Zwecke. Manchmal auch für sehr ungewöhnliche Hilfsprojekte. In Brescia haben sie eine Mentorenausbildung für die Kinder von Migranten aus fremden Kulturen gefördert. Psychologinnen bilden sie aus, damit sie zwischen den Kulturen der Einheimischen und der Zuwanderer vermitteln und so kulturell bedingte Missverständnisse aus dem Weg räumen können.
Die Italiener schätzen solche Selbstlosigkeit. 2015 bestimmten 523.504 Italiener: Die Waldenser sollen meinen Anteil aus der Kultur- und Religionssteuer bekommen. - In dem Jahr wurde das Steueraufkommen für 2019 festgelegt. Mehr als eine halbe Million Steuerzahler unterstützen Jahr für Jahr die Waldenser. Dabei hat die Evangelisch-Waldensische Kirche nur 35.000 Mitglieder in ganz Italien.