Null 
Toleranz, das ist die Botschaft
Null 
Toleranz, das ist die Botschaft
Marcelo Hernandez/Nordkirche
"­Null Toleranz, das ist die Botschaft"
Die evangelische Kirche will sexuelle Gewalt in den eigenen Reihen systematisch aufarbeiten. Bischöfin Kirsten Fehrs erklärt, wie das gehen soll.
Tim Wegner
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
19.12.2018

chrismon: Jemandem geht auf, dass ihm in der Jugend großes Unrecht angetan wurde, weil ein evangelischer Pfarrer sexuell übergriffig geworden ist. An wen soll sich diese Person künftig wenden?

Kirsten Fehrs: Künftig wird es eine zentrale, unabhängige Anlaufstelle mit externen und qualifizierten Fachkräften geben. Die gehen mit den Betroffenen der Frage nach: Was ist geschehen? Nicht selten liegt der Missbrauch Jahrzehnte zurück, und erst durch eine ak­tuelle Krise wird den Betroffenen bewusst, was damals geschehen ist. Das holt viele von den Beinen. Das Vordringlichste ist nun, dass der betroffene Mensch Vertrauen zu den Beraterinnen und Beratern fasst und stabilisiert wird. Sie überlegen gemeinsam mit den Betroffenen die nächsten Schritte und nehmen Kontakt zur zuständigen Landeskirche auf.

Tim Wegner

Claudia Keller

Claudia Keller ist Chefredakteurin von chrismon. Davor war sie viele Jahre Redakteurin beim "Tagesspiegel" in Berlin.
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff

Burkhard Weitz

Burkhard Weitz war als chrismon-Redakteur bis Oktober 2022 verantwortlich für die Aboausgabe chrismon plus. Er studierte Theologie und Religionswissenschaften in Bielefeld, Hamburg, Amsterdam (Niederlande) und Philadelphia (USA). Über eine freie Mitarbeit kam er zum "Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt" und war mehrfach auf Recherchen in den USA, im Nahen Osten und in Westafrika. Seit November 2022 betreut er als ordinierter Pfarrer eine Gemeinde in Offenbach.
Bischofsrat in GreifswaldMarcelo Hernandez

Kirsten Fehrs

Kirsten Fehrs, Jahrgang 1961, ist Bischöfin der Evangelisch-Lutherischen ­Kirche in Norddeutschland und Mitglied des Rats der Evangelischen Kirche. Seit November 2018 ist sie Sprecherin des fünfköpfigen Beauftragtenrats, den die 20 Landeskirchen zum Thema Missbrauch einberufen haben. Bischöfin Fehrs engagiert sich außerdem für den Dialog der Religionen. Sie ist Vorsitzende des Interreligiösen Forums Hamburg und ­Mitglied des Beirats der Akademie der Weltreligionen. Sie unterstützt die Initiative "Offene Gesellschaft".

Wie geht es dann in den Landeskirchen weiter?

Es gibt in allen EKD-Gliedkirchen Ansprechpartner, meist sind das Präventionsbeauftragte, manchmal sind es Pfarrerinnen, Kirchen­juristen oder Gleichstellungsbeauftragte, die bei der Kirche beschäftigt sind. In einigen Landeskirchen gibt es darüber hinaus jetzt schon unabhängige Ansprechstellen. Die Nordkirche zum Beispiel hat einen Vertrag mit der Beratungsstelle "Wendepunkt" geschlossen. Sie begleitet Betroffene und übernimmt ­eine Lotsenfunktion hin zu den zuständigen ­Stellen der Landeskirche. Es wäre wünschenswert, dass es das in allen Landeskirchen so gibt. Da ist derzeit sehr viel in Bewegung.

Wenn der Missbrauch nicht verjährt ist – wer erstattet Anzeige, damit ein staatliches Strafverfahren in Gang kommt?

Zuallererst die Betroffenen selbst. Aber viele stehen so unter Schock, dass sie sich nur mühsam durchringen können, Anzeige zu er­statten. Die Kirchen müssen als Institutionen öffentlichen Rechts hingegen auf ein Strafverfahren hinwirken, bei allem Verständnis für die schwierige Situation der Opfer. Der Täter kann ja noch aktiv sein. Wenn es sich um einen Pastor handelt, wird überdies ein kirchliches Disziplinarverfahren gegen ihn eröffnet.

Kann die Kirche ein Disziplinarverfahren ­eröffnen, auch wenn es kein staatliches Strafverfahren gibt?

Das ist möglich. Das Disziplinarrecht hat ja zunächst die Aufgabe, die Funktionsfähigkeit des kirchlichen Dienstes sicherzustellen. Es kann nur klären, ob jemand gegen dienstliche Verpflichtungen verstoßen hat. Dazu muss die Kirche Ermittlungen aufnehmen, sie ist gesetzlich dazu verpflichtet. Besonders schwere Verstöße gegen die Dienstverpflichtungen unterliegen auch nicht der Verjährung. 2014 hat die EKD das Disziplinargesetz mit dem Ziel geändert, die Belange der Opfer im kirchlichen Disziplinarverfahren besser zu berücksichtigen.

"Es fehlten klare Zuständigkeiten"

Kann man Betroffene, die sich bei der EKD melden, wirklich guten Gewissens zurück an ihre Heimatkirchen verweisen? Gerade in den kleineren Landeskirchen kann es ja auch persönliche Verbandelungen geben.

Die von den Landeskirchen bisher einge­setzten Präventionsbeauftragten arbeiten pro­fessionell und nach klar definierten Standards. Diese Professionalität ist gerade wegen der Verbandelungen, wie Sie sagen, die es innerhalb von Gemeinden geben kann, unerlässlich.

Können die Zuständigen in der geplanten zentralen EKD-Anlaufstelle überblicken, wer diese Personen in den 20 Landeskirchen sind, an die sie die Betroffenen verweisen?

Das muss natürlich sichergestellt sein. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der unabhängigen EKD-Ansprechstelle müssen wissen, wie die Kirche funktioniert und aufgebaut ist. Deshalb ist es ja so wichtig, dass auch die Landeskirchen unabhängige Anlaufstellen haben, damit der Fall nicht einfach nur gemeldet wird, sondern wirklich etwas passiert. Aus der Vergangenheit haben wir gelernt: Grundsätzlich erschwerten die dezentralen, anti­hierarchischen Strukturen in der evangelischen Kirche die Kontrolle und erleichterten Vertuschung. Auch fehlten klare Zuständigkeiten. Das ändern wir jetzt.

Was ist mit kirchlichen Gemeinschaften wie der Brüdergemeinde Korntal? Sie ist mit der Württembergischen Landeskirche verbunden, die sich aber offenbar für Missbrauchstaten in der Brüdergemeinde nicht zuständig fühlt. An wen verweisen Sie Geschädigte aus freikirchlichen Gemeinden?

In Korntal ist der Sonderfall, dass es vertragliche Bindungen an die Landeskirche gibt, auch wenn die Brüdergemeinde in vielem autonom ist. Der Pfarrer der Gemeinschaft kommt aus der Landeskirche, alles andere ­regeln die Korntaler selbst. Normalerweise sind Freikirchen aber nicht mit Landes­kirchen verbunden, da haben wir dann auch als EKD kaum Möglichkeiten, einzugreifen.

"Die Dunkelfeldanalyse ist wichtig"

Sie rufen Betroffene auf, sich zu melden. Aber wie erreicht man auch die, die den Missbrauch gar nicht als solchen erkennen, weil sie ihn als Liebesbeziehung mit einem Pastor verklären?

In den Gesprächen, die ich mit Betroffenen geführt habe, habe ich gelernt: Auch die­jenigen, die den Missbrauch verdrängen, wissen, dass das eine unzulässige Verletzung ihrer Integrität war. Viele hatten oder haben noch ein sehr ambivalentes Verhältnis zum Täter, weil er ihnen in wichtigen Phasen ihres Lebens auch geholfen hat. Oft ist dies verbunden mit Schuldgefühlen und großer Scham. Viele fürchten, wenn sie sich melden, würde ihnen vorgehalten, dass sie sich nicht genügend gewehrt oder sogar selbst die Annäherungsversuche gemacht hätten. Das ist natürlich nicht so. Sondern der Täter ist der Täter. Punktum. Täter suggerieren ihren Opfern gezielt, dass sie es sind, die diese Nähe wollen. Manche verknüpfen das sogar mit theologischen Argumenten und reden ihnen ein, dass es die Liebe Gottes sei, die sich da zeige. Das ist dermaßen perfide! Umso wichtiger ist es, dass wir Täterstrategien aufdecken und ihnen ­einen Riegel vorschieben. Deshalb sind Schutzkonzepte so wichtig! Null Toleranz – das muss die klare Botschaft sein.

Wie wollen Sie die Betroffenen erreichen? Sie könnten durch eine Kampagne informieren, wie es Johannes-Wilhelm Rörig gemacht hat, der unabhängige Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung.

Darüber werden wir mit den Betroffenen und mit Herrn Rörig ins Gespräch kommen, um die richtigen Formate zu entwickeln. Wir haben gemerkt, dass Appelle allein nicht ausreichen. Es wurden zum Beispiel in einer Gemeinde, in der es einen klaren Verdachtsfall gab, gezielt Konfirmandenjahrgänge angeschrieben. Der Rücklauf war allerdings relativ gering.

Vielleicht gibt es ja nicht so viele Fälle?

Bis Mitte November waren uns aus den Landeskirchen 479 Anträge auf Anerkennung erlittenen Leids bekannt. Es handelt sich um ­Fälle, die seit den 1950er Jahren passierten. Zwei Drittel dieser Fälle sind bis Ende der 1970er Jahre vor allem im diakonischen Bereich geschehen. Weitere 85 Personen wurden uns über andere Meldewege bekannt. Dabei kann es Doppelungen geben. Das sind die Zahlen, die uns vorliegen. Zugleich ist klar, dass dies nur die gemeldeten Fälle umfasst. Deshalb ist uns ja eine Dunkelfeldstudie so wichtig, um eine genauere Einschätzung des tatsächlichen Ausmaßes zu erlangen.

Wie soll die ablaufen?

Wissenschaftler befragen repräsentativ zusammengestellte Bevölkerungsgruppen nach ihren Erfahrungen mit sexueller Gewalt und ordnen diese Erfahrungen den gesellschaftlichen Institutionen zu. So kann man auch sehen, wie groß das Ausmaß der Gewalt in den Kirchen im Vergleich zu anderen Ins­titutionen ist. Das genaue Studiendesign wird derzeit erarbeitet.

"Es gab eine Kultur der Libertinage"

Sie haben drei Gruppen von Menschen ausgemacht, die in der Vergangenheit besonders gefährdet waren, in der evangelischen Kirche sexuelle Gewalt zu erleben. Da sind zum einen die Heimkinder.

Mit dem Leid der Heimkinder beschäftigen sich die EKD und ihre Diakonie schon lange. Deshalb beteiligen wir uns auch an den Unterstützungsfonds. In den 1950er bis 1970er Jahren haben einige Erzieher ihre Herrschaft über die Kinder auf Gewalt aufgebaut, auch auf sexualisierter Gewalt. Schon Kleinkinder wurden in solchen Heimen drangsaliert, ­sys­tematisch missbraucht und gebrochen. Menschen, die so etwas erlebt haben, sind zutiefst traumatisiert und leiden zeit ihres Lebens unter Alpträumen, Ängsten, Wut und seelischem Schmerz. Furchtbar.

Das wurde bei einer öffentlichen Anhörung im Juni in Berlin deutlich, als Menschen ihre Wut herausgebrüllt haben.

Sie konnten nicht anders, als ihrem Zorn Luft zu machen. Das ist ja verständlich. In manchen Heimen wurden die kleinen Kinder nicht nur von Erziehern und Erzieherinnen, sondern auch von größeren Kindern gequält. In manchen Erziehungsheimen haben die Älteren regelrechte Missbrauchskonsortien errichtet, um die sieben- bis zehnjährigen Mädchen und Jungen systematisch zu drangsalieren. Unverständlich und furchtbar war, dass die Erzieher nicht eingegriffen haben – aus falsch verstandener Kumpanei oder aus Unsicherheit.

Die zweite Gruppe der Gefährdeten kommt aus der kirchlichen Jugendarbeit.

Man muss sich das vor Augen führen: Es gab in den 1970er und 1980er Jahren geradezu eine Kultur der Libertinage in der evangelischen Kirche. Aufarbeitungsstudien zeigen, wie Täter vorgegangen sind: Sie haben die ­Jugendlichen systematisch manipuliert, indem sie den Jugendlichen gesagt haben: Wenn du dich jetzt hier in deiner Grenze missachtet fühlst, bist du bieder und hast nicht begriffen, was Freiheit ist. Abstinenzgebote wurden sukzessive außer Kraft gesetzt. Missbrauch passiert nicht mal eben, weil sich die Gelegenheit dazu bietet. Er wird strategisch und systemisch nach und nach etabliert. Und viele haben mitgespielt, weil sie in der Gruppe anerkannt sein wollten.

"Balance von Nähe und Distanz lernen"

Wie will man das künftig verhindern?

Die Jugendarbeit ist in der Prävention sehr weit. Und es gibt Schulungen. Einen bewussten Umgang mit Nähe und Distanz kann man lernen! Und die richtige Balance. Teamer bekommen Checklisten, wie sie sich gegenüber anderen Teamern und gegenüber den Jugendlichen verhalten sollen. Praktisch überall in der Kinder- und Jugendarbeit wird ein erweitertes Führungszeugnis für Mit­arbeiter verlangt, auch für Ehrenamtliche.

Die dritte Gruppe der Gefährdeten sind ­Kinder in Pfarrhäusern.

Im Pfarrhaus kann innerfamiliärer Missbrauch geschehen, bei dem der Täter in besonderer Weise durch seinen Amtsbonus geschützt ist, wo es also keine Kontrolle von außen gibt.

Die evangelische Kirche will künftig mehr als bisher Betroffene in die Aufarbeitungsprozesse einbeziehen. Wie soll das konkret aussehen?

Zunächst werden wir zusammen mit Be­troffenen in einem Workshop beraten, wie wir die Studien zur Aufarbeitung und zur ­Dunkelfeldanalyse aufsetzen sollen. Be­troffene ­können uns dabei sehr helfen, weil sie wichtiges Erfahrungswissen einbringen.

"Externe Wissenschaftler sollen die Untersuchungen durchführen"

Was verstehen Sie unter Aufarbeitung?

Wir müssen die Geschichten der einzelnen Betroffenen würdigen. Und dabei herausfinden, wo die systemischen Risikofaktoren der evangelischen Kirche liegen. Jeder Gemeinde­kirchenrat sollte sich fragen, wo in seiner ­Gemeinde die Achtungschilder aufgestellt werden müssen: bei den Kindergruppen, beim Jugendchor? Die Aufarbeitung setzt an bei den regionalen Studien in den 20 Landeskirchen, von denen es allerdings noch nicht sehr viele gibt. Deren Ergebnisse sollen externe Wissenschaftler in einem zweiten Schritt in einer Art Metaanalyse zusammenführen und herausfinden, wo die Übereinstimmungen zwischen Nord, Süd, Ost, West sind.

Gibt es einheitliche Vorgaben für diese regio­nalen Studien?

Der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung Johannes-Wilhelm Rörig will bis Ende 2019 Leitlinien für die Aufarbeitung vorlegen. Betroffene werden daran mit­wirken. Auch wir als evangelische Kirche werden dabei sein – und wir müssen uns schon vorher damit ­beschäftigen. Wichtig ist, dass wir innerhalb der EKD ein einheitliches Studienkonzept vereinbaren, damit die Untersuchungser­gebnisse miteinander ver­glichen werden können. ­Externe Wissenschaftler sollen die Unter­suchungen durchführen und von Fachkräften in den Landeskirchen begleitet werden. Denn die kennen sich mit den kirchlichen Strukturen aus. Die Einzelheiten werden noch erarbeitet.

Was, wenn nicht alle Landeskirchen mit­machen wollen?

In der Kirchenkonferenz und bei der Synodentagung haben die Landeskirchen Entschlossenheit signalisiert, auch die Landeskirchen, die in den vergangenen Jahren noch nicht so aktiv waren.

"Personalakten geben nicht viel her"

Wir haben kürzlich von einem Fall in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) gehört: Jemand hat einen Missbrauchsfall gemeldet und wurde gefragt, ob das jetzt wirklich sein müsse. Das sei doch so ein guter Pfarrer.

Wenn ich so etwas höre, bin ich fassungslos, gerade auch angesichts der vielen guten Maßnahmen, die die EKBO zur Prävention und Aufarbeitung auf den Weg gebracht hat. Aber ich fürchte, dass so eine Reaktion möglich ist, solange Menschen immer noch banalisieren, was Betroffene erleben und welche Folgen das für sie hat. Diese Banalisierung findet auch in der Gesellschaft statt. Umso wichtiger ist, bei der Sensibilisierung nicht nachzulassen. Aber das ändert sich nicht von jetzt auf gleich.

Dürfen die Forscher die Personalakten durchkämmen? In der katholischen Kirche hatten sie keinen direkten Zugriff.

Überall dort, wo es geboten und rechtlich möglich ist, muss der Zugang ermöglicht ­werden. Allerdings geben unsere Personalakten nicht viel mehr her als das Geburtsdatum, den Beginn des Vikariats und wann die erste Pfarrstelle übernommen wurde. Natürlich lässt sich nicht ausschließen, dass sich etwa aus abgelegten Briefwechseln auch Hinweise auf Missbrauch herauslesen lassen. In der katholischen Kirche ist manchmal der Umstand, dass ein Pfarrer häufig versetzt wurde, ein Hinweis auf Missbrauchstaten. Aber evangelische Pfarrer können gar nicht gegen ihren Willen versetzt werden. Wo man noch mal genauer hinschauen müsste, das sind die Disziplinarakten.

Die dokumentieren nur, was zur Anzeige kam.

Ja. Insofern kann das auch nur ein Baustein sein, um herauszufinden, wer alles betroffen ist.

"Ich würde Versöhnung nie aufnötigen"

Sie beschäftigen sich seit acht Jahren mit dem Thema und haben kürzlich gesagt, Sie seien "dünnhäutiger" geworden. Wodurch?

Ich bin Seelsorgerin und weiß, wie sehr Menschen verletzt werden können. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass es auch innerhalb unserer Kirche Orte gegeben hat, an denen Gewalt strukturell etabliert wurde. Ich hatte auch meine kritische Auseinandersetzung mit der Kirche, klar. Aber das? Menschen sind elementar schutzbedürftig. Dass ihnen in der Kirche dieser Schutz nicht gewährt wurde und dass die Kirche auch noch das Einlasstor für Gewalt wurde, das hat mich erschüttert. Mit jedem Opferbericht bin ich dünnhäutiger geworden – und das ist auch richtig so.

Als Seelsorgerin wollen Sie heilen und versöhnen. Jetzt sind Sie auch das Gesicht der Täterinstitution. Passt das zusammen?

Die Spannung lässt sich nicht immer auf­lösen. Ich möchte für diejenigen da sein, ­denen sexua­lisierte Gewalt angetan wurde, und ­ebenso für die, die sagen: Ich möchte nicht darauf festgelegt werden, Opfer zu sein. Und ich bin mir bewusst, dass in der evangelischen Kirche Menschen Gewalt angetan und vertuscht wurde. Ich versuche, all dies im Blick zu behalten.

Ist es angemessen, mit Betroffenen Ver­söhnungsgottesdienste zu feiern?

Nur, wenn sie es selbst wollen. Ich habe einen Versöhnungsgottesdienst mit einer Betroffe­nen gefeiert, auf ihren Wunsch. Der Glaube war für sie eine Heimat, und sie wollte einen neuen Zugang zu dieser verlorenen Heimat finden. Sie hat jeden Satz selbst geschrieben. Ich würde Versöhnung niemals anderen andienen oder gar aufnötigen.

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Die Antworten der Bischöfin Kirsten Fehrs sind ausführlich, jedoch weniger präzise als die Fragen.
Zu diesem Thema scheinen drei Aspekte einer näheren Betrachtung wert:
1. Spezielle sexuelle Veranlagungen lassen einen Menschen bezogen auf den Umgang mit Kindern und Jugendlichen ungeeignet erscheinen.
2. Im Zuge der Me-Too-Debatte sind auch einige Trittbrettfahrer/innen mit aufgesprungen. Tatsächlich aber war da gar nicht viel, jedenfalls keine sexualisierte Gewalt.
3. Die besten Antworten für ein Fehlverhalten findet man in der persönlichen, häufig unbefriedigenden Lebenssituation eines Menschen.

Mit freundlichen Grüßen
Holger Simon