chrismon: "Afrika ist kein Land, sondern ein Kontinent!" Müssen Sie das noch oft sagen, wenn Sie in Deutschland sind?
Bettina Rühl: Seltener als früher, aber es kommt vor. Ein Bekannter sagte kürzlich zu mir: "Ich habe Afrika immer noch nicht verstanden. Kannst du Afrika nicht mal in einer deiner einstündigen Sendungen erklären?" Ich antwortete: "Stell dir vor, du solltest Europa in einer Stunde erklären. Womit würdest du anfangen? Mit Schweden? Mit Griechenland?" Ein Kontinent ist zu vielschichtig, um alles in 60 Minuten beschreiben zu können. Eine der Erzählungen über Afrika ist derzeit ja die des wirtschaftlichen Aufschwungs – und eine ganz andere die des Kontinents von Krieg und Krisen. Beides stimmt ein bisschen, aber diese Entwicklungen nebeneinander zu denken, fällt Europäern schwer. Auch ich staune immer wieder über die Gegensätze in Afrika.
Wann, bei welcher Gelegenheit?
Ich lebe in Nairobi, in Kenia. Seit über zehn Jahren gibt es dort ein mobiles Bezahlsystem, das übers Handy funktioniert. Neulich hatten junge Menschen ein Theaterstück entwickelt. Die Karten gab es nur mobil zu kaufen. Per SMS wurde ich gefragt, in welche Vorstellung ich will. Das hat super geklappt. So viel Aufbruch, so viel Fortschritt! Aber gleichzeitig leben 60 Prozent der Bevölkerung von Nairobi in Slums. Die Gegensätze sind viel krasser als in Europa, die Entwicklung ist viel schneller.
Ich brauche Mittelsmänner
Welche Entwicklung?
1993 führte mich eine meiner ersten Reisen nach Äthiopien. Im Hotel wurden die Telefonverbindungen noch per Hand gesteckt. Heute hat jeder ein Handy. Ein anderes Beispiel sind die vielen Motorräder, meistens sind es billige, aus China. Mit so einem Mopedtaxi ist eine zehn Kilometer entfernte Gesundheitsstation erreichbar für Menschen, die früher keinen Zugang zu medizinischer Hilfe hatten. Diese Taxen sind bezahlbar und schaffen Arbeitsplätze.
Sie erhalten den Robert Geisendörfer Preis, weil Sie empathisch sind und die Nähe zu den Menschen suchen. Wie kommen Sie in Kontakt?
Ich brauche meist Mittelsmänner. Ein Beispiel aus den Küstenregionen in Kenia: Es gab Vermutungen, dass Sondereinheiten der Polizei im Kampf gegen islamistische Shabaab-Milizen gezielt Muslime töten, oft aus dem Nichts. Ich kann nicht einfach so in die betroffenen Gebiete reisen und Hinterbliebene ansprechen. Damit würde ich sie gefährden. Vermutlich würden sie mir auch nicht vertrauen. Also frage ich Kontaktleute: Kennst du eine Familie, die jemanden verloren hat? Ich muss solche Fragen streuen – und Geduld haben.
Wie viel Geduld?
An diesem Radiofeature habe ich anderthalb Jahre gearbeitet. Ich muss warten können. Es kommt auch vor, dass ich weite Recherchereisen unternehme und erst mal auf Granit beiße. In Mali habe ich einen Beitrag über den Zusammenhang zwischen Drogenschmuggel und Islamismus gemacht. Das ist nun nicht das Thema, über das Beteiligte gern reden, weil es gefährlich ist. Ich musste also mehrmals von Ost- nach Westafrika reisen.
Bettina Rühl
Wie sorgen Sie in so einem Fall für Ihre eigene Sicherheit?
In ärmeren und nichttouristischen Gegenden falle ich als Weiße auf, als wäre ich eine Leuchtboje. Wenn die Gefahr, entführt zu werden, relativ hoch ist, ist es besser, wenn nicht die halbe Stadt weiß, dass ich da bin. Auch für die Sicherheit meiner Gesprächspartner ist es oft wichtig, dass sie nicht mit mir gesehen werden.
Woher wissen Sie, ob Sie Ihren Kontakten vor Ort vertrauen können?
Erfahrung hilft. Ich kann nur in Gegenden reisen, in denen ich gute, verlässliche Kontakte habe – darunter müssen auch solche Menschen sein, die neue Kontakte einschätzen können. Ich hangele mich weiter. Mit ganz fremden Menschen bin ich sehr vorsichtig. Trotzdem bleibt ein Risiko.
Was bedeutet die europäische Abschottungspolitik für Afrika?
Darauf gibt es keine einfache Antwort. Es migrieren auch Menschen, die es nicht müssten und es auch besser nicht täten. Es ist ja nicht so, als wäre Afrika die Hölle auf Erden, aus der man nur fliehen kann. Es ärgert mich, wenn der Kontinent bei uns so dargestellt wird.
Es ärgert mich, wenn Afrika in Medien als Hölle auf Erden dargestellt wird
Haben Sie eine Geschichte vor Augen, in der Sie eine Flucht als unüberlegt empfunden haben?
Ich traf einmal in Bamako, im Süden Malis, auf einen Flüchtling, der aus Spanien abgeschoben worden war. Er hatte es auf Kosten seines Onkels, der in Frankreich lebt, bis auf die Kanaren geschafft. Dafür braucht man viel Glück, er musste durch die Wüste, viele andere starben auf dem Weg. Von Mauretanien aus setzte er auf die Kanaren über. Viele Menschen ertranken. Aber die Spanier schickten ihn sofort zurück. Er wollte es direkt wieder versuchen. Sein Onkel hatte beim ersten Versuch alles bezahlt, und nun ging der Neffe einfach davon aus, dass er es wieder tun würde. Ich fragte, was der erste Versuch gekostet hatte. Aber er hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, seinen Onkel danach zu fragen! Er wusste auch nicht, womit der Onkel in Frankreich sein Geld verdient. Dieser Mann hatte also ein Bild von Europa im Kopf, in dem alle reich sind – einfach weil er sich für das Schicksal seines Onkels überhaupt nicht interessierte. Die Schlepper werden mindestens 1000 Euro verlangt haben. Für den Onkel ist das vermutlich ein Vermögen. Diese gedankenlose Migration auf Kosten von Verwandten ärgert mich. Wenn die Menschen erst mal in der Wüste und in Lebensgefahr sind, haben ihre Verwandten keine Wahl mehr und zahlen alles, was gefordert wird.
Die Menschen kommen, solange es uns in Europa so viel besser geht
Andere haben allen Grund zur Flucht.
Ja, weil sie Krieg und Verfolgung ausgesetzt sind – und unbedingt das Recht haben müssen, bei uns Schutz zu suchen. Dass man sie nicht in die Verhältnisse in Libyen zurückschicken kann, muss für uns eine Selbstverständlichkeit sein. Wir können sie nicht in Internierungslagern durchfoltern lassen. Sie werden weiterhin kommen wollen, solange es uns in Europa so viel besser geht.
Wie könnte man dieses Wohlstandsgefälle abbauen?
Jedenfalls nicht mit ein paar Millionen mehr an Entwicklungshilfe. Die Antwort liegt in unseren Gesetzen, die unseren Wohlstand schützen, dabei aber afrikanischen Ländern die Chancen nehmen, sich zu entwickeln – zum Beispiel indem wir Handelshemmnisse aufbauen. US- und EU-Subventionen für Landwirte wirken in diese Richtung. Dagegen kommt kein Bauer in Afrika an. Wenn wir wirklich etwas verändern wollen, müssen wir unseren Reichtum teilen.
Warum lieben Sie das Radio?
Ich mag die Dichte, die sich durch Töne und Geräusche vermittelt! Sie helfen mir, vieles zu erzählen, was ich sonst mühsam und unvollkommen beschreiben müsste. Wie klingt eine Stadt, wie klingt eine Gegend? Auch die Stimmen der Menschen, wie sie etwas sagen – das transportiert viele Informationen. Leider geht die Tendenz in den Sendern eher in Richtung nationale und regionale Themen. Wenn doch über Afrika berichtet wird, dreht es sich meist um Krisen. Das hat wieder ein schiefes Afrikabild zur Folge. Auch das Internet bringt viel Veränderung. Aber es es bietet auch Chancen. Es ist einfacher, ein Portal zu finanzieren als einen Sender oder einen Verlag. Das könnte Möglichkeiten für richtig gute Berichterstattung schaffen.
Geisendörfer Preis
Der Preis wird seit 1983 alljährlich im Gedenken an den protestantischen Publizisten Robert Geisendörfer (1910–1976) für herausragende publizistische Leistungen verliehen – in diesem Jahr in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk am 16. Oktober in München. Bettina Rühl erhält den Sonderpreis der Jury. Alle Preisträger unter robert-geisendoerfer-preis.de