Die Affäre um den Fußballprofi Mesut Özil, der gestern erklärte, nicht mehr für die deutsche Nationalmannschaft spielen zu wollen, so lange er "dieses Gefühl von Rassismus und Respektlosigkeit verspüre", kennt fast ausschließlich Verlierer.
Nils Husmann
Das Foto mit Erdogan war ein großer Fehler, der mitnichten unausweichlich war. Der Spieler Emre Can, der ebenfalls schon für die deutsche Nationalmannschaft auflief, kam Erdogans Bitte um einen Termin nicht nach. Dieser Weg hätte auch Gündogan und Özil offen gestanden. Doch während Gündogan Tage nach dem Fototermin immerhin öffentlich einräumte, "dass man die Aktion nicht guten finden muss", ließ Özil durch sein langes Schweigen eine Chance verstreichen, die er gestern endgültig verspielte. Es mag sein, dass Fußballprofis in einer Blase leben und keine politisch denkenden Menschen sind; eine Aussage des Freiburger Fußballspielers Nils Petersen aus dem Frühjahr deutet darauf hin. Özil erklärte, er habe das höchste Amt des Landes seiner Familie respektieren wollen. Eine so empfundene Loyalität ist ein Dilemma für einen Menschen, der zwei Heimaten hat. Wer nur eine hat, kann sich diesen Zwiespalt vielleicht auch gar nicht vorstellen. Und doch darf man von einem Fußballprofi, der immer auch Vorbild ist, erwarten, dieses Dilemma wenigstens um das Verständnis dafür zu ergänzen, dass viele Menschen – auch in Deutschland – den türkischen Präsidenten zurecht sehr kritisch sehen.
Auch viele Deutschtürken warten auf ein offenes Wort
Auf so ein offenes Wort warten übrigens möglicherweise nicht zuletzt auch viele Deutsche mit türkischem Hintergrund: 2,8 Millionen Menschen hierzulande haben einen türkischen Pass oder türkische Vorfahren. Weniger als 500 000 von ihnen wählten Ende Juni Erdogan – unter den mehr als zwei Millionen übrigen Deutschtürken sind sicher auch viele, denen Mesut Özil vor den Kopf trat, indem er nicht ein kritisches Wort über einen türkischen Präsidenten verliert, der sein Land rücksichtslos umkrempelt.
Özils Fehler entschuldigt oder rechtfertigt aber nicht den unverhohlenen Rassismus, der dem gebürtigen Gelsenkirchener seit Mai entgegenschlägt. Dieser Hass macht uns alle zu Verlierern. Viele Deutsche hängen immer noch dem "Sommermärchen" von 2006 nach. Damals entstand das Bild eines Landes, das die Welt bei sich begrüßt. Und 2014, als Deutschland Weltmeister wurde, war Özil Stammspieler – das war ein Signal an die vielen Menschen mit Migrationshintergrund, dass man es in Deutschland ganz nach oben schaffen kann – und dazu gehört. Aber schon 2016, lange vor dem Foto, zeigten sich Risse in diesem Bild. Verantwortlich war der AfD-Politiker Alexander Gauland mit seinem unsäglichen Hinweis, jemanden wie Jerome Boateng (Özils Teamkollege) wollten viele nicht zum Nachbarn haben. Natürlich ruderte Gauland schnell zurück, wie man es von der AfD inzwischen kennt – das sei ein Missverständnis und alles nicht so gemeint gewesen. Aber wieder hatte die Masche der Spalter funktioniert: Der Korridor des Sagbaren war größer geworden.
Offenkundig hatten nun viele nur darauf gewartet, ihren Rassismus auch gegen einen Nationalspieler auszuleben. Anders ist die Wucht, mit der Özil in sozialen Netzwerken und am Spielfeldrand beleidigt wurde, kaum zu erklären. Übrigens traf diese Wut auch Ilkay Gündogan, obgleich dieser eingeräumt hatte, dass das Foto zu Irritationen führen könnte. Dass Özil seinen Rücktritt nun mit Rassismus begründete, macht vieles von dem, was wir uns vom Fußball erhofften, auf einen Schlag zunichte.
Die Doppelmoral des DFB
Verlierer ist auch der DFB, der in dieser Affäre nie eine klare Linie fand. Erst stützte der Verband die Spieler, dann verschleppte man das Thema - und nach dem Ausscheiden in der Gruppenphase ließ es die DFB-Spitze um Oliver Bierhoff und Reinhard Grindel durch schwammige Äußerungen zu, dass Özil zum Sündenbock für das sportliche Aus in Russland wurde. Gegen rassistische Anfeidnungen nahm die DFB-Spitze Özil nicht offensiv und klar in Schutz. Heute nun beschwört DFB-Präsident Grindel die "im Grundgesetz verankerten Menschenrechte, das Eintreten für Meinungs- und Pressefreiheit sowie Respekt, Toleranz und Fairplay". Ein Bekenntnis zu diesen Grundwerten sei für jede Spielerin und jeden Spieler erfolrderlich, die für Deutschland Fußball spielen. Was für eine Doppelmoral! In der Regel haben DFB-Repräsentanten wenig Hemmungen, nicht nur Fotos mit autoritären Staatsführern zu machen, sondern gern auch Geschäfte. An der Winter-WM in Katar 2022 will man schließlich auch mitverdienen. Und der russische Putin wurde von DFB-Ehrenspielführer Lothar Matthäus hofiert, der wiederum kein Problem damit hatte, im Boulevard zu raunen, Özil fühle sich nicht wohl im deutschen Nationaltrikot.
Wo Verlierer sind, gibt es auch Gewinner. Es sind nur wenige – und die Falschen. Erdogan gehört dazu; wohltuend dürfte er zur Kenntnis nehmen, wie er westliche Gesellschaften spalten kann. Und die AfD darf bestaunen, wie salonfähig sie den Hass gemacht hat. Ein Blick in die Kommentarspalten im Internet genügt, um das zu sehen.
Was bleibt, ist die vage Hoffnung darauf, dass auch in dieser Krise eine Chance steckt. Ausgerechnet der Fußball – die schönste Nebensache der Welt – legt Fragen offen, über die zu reden und (fair!) zu streiten lohnt. Wer sind wir eigentlich, was ist uns wichtig? Wie geht es Menschen, die zugewandert sind und die noch eine Verbundenheit zur Heimat ihrer Eltern und Großeltern spüren? Was gehört zu einer gelungenen Integration? Und wer ist verantwortlich dafür – nur die "Neuen"? Oder auch die Mehrheitsgesellschaft, die Neue aufnimmt?
Özils Erklärung mangelt es an Selbstkritik, ja, aber sie enthält auch einen traurigen Satz, über den nachzudenken sich lohnt: "Wenn wir gewinnen, bin ich Deutscher, aber wenn wir verlieren, bin ich ein Immigrant." Dieser Satz hat nicht nur mit einem Fußballspieler zu tun – er geht uns alle an.