Die katholischen Besucher des muslimischen Mittagsgebets sind alle gegangen. Ein einziger Mann ist in der türkisch-deutschen Ditib-Moschee beim Hauptbahnhof von Münster noch zugange: Der Gemeindevorsitzende fährt mit dem Staubsauger durch den Gebetsraum. Geschickt umrundet er einen auf dem blauen Teppich schlafenden Afrikaner. Dann sagt er freundlich guten Tag, verschwindet kurz, um zu telefonieren. Fünf Minuten später steht ein anderer Mann im Türrahmen, Muhittin Demir, von Beruf Kinderarzt, auch er vom Vorstand der Gemeinde. Und der weiß einiges zu erzählen zu den Themen Toleranz und offene Gesellschaft.
Antimuslimische Gewalttaten und Respektlosigkeit gebe es nicht aus religiösen Gründen, sagt er. Das habe mit vielem anderen zu tun, zum Beispiel mit der sozialen oder politischen Prägung der Täter. Und mit Unwissen. "Ich glaube nicht, dass Leute, die uns kennen, was gegen uns machen." Deshalb plädiert er für größtmögliche Offenheit gegenüber allen Interessierten. In einer lebendigen Uni-Stadt wie Münster mit seinem "Riesenpotential an Wissenschaftlern", so hat er sich überlegt, müsste es doch eigentlich möglich sein, zu Abendgesprächen zusammenzutreffen. Kommunikation, die es möglich mache, dass sich Muslime und Nichtmuslime besser kennenlernen. Rund 200 Besuche von Schülergruppen gebe es bereits im Jahr. Die türkisch-deutsche Gemeinde wird in der Öffentlichkeit freundlich beachtet. Von antiislamischen Übergriffen spricht Demir nicht, aber es ist spürbar ein Thema für ihn.
Das Katholikentagsmotto "Suche Frieden" hätte passender und aktueller nicht ausgewählt werden können. Noch bevor in den vergangenen Monaten die antisemitischen und islamfeindlichen Übergriffe verstärkt in die Schlagzeilen kamen, hatten sich die Veranstalter des Katholikentags 2018 in Münster dieses Motto gewählt. Sie dachten dabei auch an den Westfälischen Frieden, in dem nach jahrelangen Verhandlungen in Münster und Osnabrück der Dreißigjährige Krieg 1648 beendet werden konnte.
"Eine völlig überflüssige Scheindebatte über den Islam"
Die Friedensstadt Münster hat 2018 eine ähnliche Botschaft zu vermitteln: die der religiösen Toleranz. "Mit Katholiken in Deutschland ist Ausgrenzung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus nicht zu machen", hatte der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Thomas Sternberg, im epd-Interview gesagt. Es gehe um die "Verrohung des gesellschaftlichen Diskurses" und darum, "Propagandisten und Lautsprecher argumentativ in ihre Grenzen zu verweisen", so Felix Genn, der Bischof von Münster. Wer die Juden beschimpfe, der beschimpfe auch die Christen. Es sei ebenso eine "völlig überflüssige Schein-Debatte, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht". Sie bestärke nur "irrationale Vorurteile und Ängste".
Ausgerechnet in der Mitte der Gesellschaft, in der Mittelschicht, die historisch gesehen die Entwicklung der Demokratie und die Rechtsentwicklung vorangebracht hat, hat sich heute Ausländerfeindlichkeit festgesetzt und wabert ein diffuser Antisemitismus. Das ist eine Riesenlast für die Kirche. Gerade Christen sollten sich an die eigene Geschichte erinnern und sie in Beziehung setzen zur muslimischen Judenfeindschaft. Und da zeigt sich: "Die antisemitischen Einstellungen und Handlungen in muslimischen Ländern haben nie die Tiefen und Barbarei der christlichen Judenverfolgung erreicht", so David Ranan, Fellow am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin, Autor des Buches "Muslimischer Antisemitismus".
Wie eng Religion und Gewalt zusammenhängen, ist beim Katholikentag Thema der "Jerusalemer Trialogrunde" im Historischen Rathaus von Münster. Mönch, Rabbiner und Islamgelehrter unterhalten sich darüber, wie Gewalt zu bekämpfen und Toleranz zu fördern ist. Rabbiner David Bollag aus Efrat/Israel ist sich sicher: "Gewalt ist nicht das Resultat von Religion. Auch wenn es keine Religion gäbe, gäbe es Gewalt." Gleichwohl hätten die Religionsgemeinschaften die Aufgabe, "Gewalt zu vermindern oder zu verhindern".
"Talibantexte gibt es in allen Religionen"
Muhammad Sameer Murtaza, Islam- und Politikwissenschaftler von der Tübinger Stiftung Weltethos, sieht das Problem nicht ganz so entspannt. "Talibantexte lassen sich in den Schriften aller Religionen finden. Und diese Texte lassen sich auch missbrauchen." Juden, Christen, Muslime – sie alle hätten "den Namen Gottes mit Blut besudelt". Für die Zukunft helfe nur eine flächendeckende Friedenserziehung der jungen Menschen. "Frieden ist kein Geschenk, das von Himmel fällt, er erfordert Hingabe, Nächstenliebe", sagt der muslimische Wissenschaftler. Bei seinen regelmäßigen Besuchen in deutschen Moscheen musste er leider auch beobachten: "Für viele Muslime ist der Jude wie ein Außerirdischer." Unwissen ist oft der Nährboden für Vorurteile.
Der Christ im Trio ist Pater Nikodemus Claudius Schnabel von der Dormitio-Abtei auf dem Zionsberg in Jerusalem, ein Benediktiner. Seine Analyse zur Toleranzfrage bringt er auf den Nenner: "Die Religionen haben ein Hooligan-Problem". Wie im Fußball gebe es unter den Fans gewaltbereite Täter. Diese teilten die Welt in Freund und Feind ein. Der Ordensmann argumentiert gegen Hass und Abwertung theologisch: "Wenn jeder Mensch Abbild Gottes ist (was Juden, Christen und Muslime gemeinsam glauben) – wer gibt mir dann das Recht, mich über andere zu erheben?" "Wir Christen haben unsere antijudaistische Geschichte aufgearbeitet", sagt er noch, das Thema sei aber "noch nicht zu Ende".
Sicher, es gibt viele positive Beispiele für die Überwindung des Antisemitismus. Einer, der vor vielen Jahrzehnten in der Friedensstadt Münster evangelische Theologie studierte, kann auch heute ein Vorbild sein: Martin Niemöller (1892 – 1984). In seiner Jugend war er ein glühender Antisemit ("Ein Jude ist kein Deutscher und kann keiner sein... Das Ideal der Juden ist der Händler, der unsrige ist der Held."). Niemöller war U-Boot-Kommandant im Ersten Weltkrieg, wurde später ein Mann der nazikritischen Bekennenden Kirche, musste deshalb 1938 ins KZ. Seit 1947 Kirchenpräsident von Hessen und Nassau, wurde er schließlich Präsident des Ökumenischen Rates der Kirchen. Überliefert sind von ihm die Sätze: "Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte."
Kaddor: "Du Scheißjude – einfach so dahingesagt"
Ähnlich wie Martin Niemöller argumentierte auf dem Podium "Antisemitismus in der Schule" Doron Kiesel, Direktor der Bildungsabteilung beim Zentralrat der Juden in Deutschland: "Die antimuslimischen Übergriffe werden auch von uns Juden als Bedrohung gesehen. Wenn Übergriffe EINE Minderheit betreffen, betreffen sie auch andere." Er beklagte, dass in den Ausbildungsplänen für Lehrer das Thema Antisemitismus nicht vorgesehen sei. "Die Schulzeit sind doch die einzigen Jahre, in der wir unsere Kinder vor uns haben." Endlich einmal ein konkreter Hinweis darauf, was sich ändern sollte.
"Du Jude" sagen manche Schüler zu anderen, um diese klein zu machen und als Opfer abzustempeln. Lamya Kaddor, Lehrerin, Pädagogin und Islamwissenschaftlerin an der Uni Duisburg-Essen, kennt eine ganze Pallette solcher Schimpfworte. "Du Scheißjude" zum Beispiel – oft "so dahergesagt, aber gerade das macht es schlimmer, nicht einfacher." Der Antisemitismus sei im Übrigen eine "Entlastung für unsere Männergesellschaft".
Der Vizepräsident des Zentralrats der Juden, Abraham Lehrer, zu einem Minipodium in der Altstadt angereist in einem gepanzerten Wagen mit Polizeieskorte, rief die Zuhörer dazu auf, schon bei den ersten Ansätzen antisemitischer Reden deutlich zu intervenieren: zum Beispiel wenn es heiße, dass Juden reich seien oder dass sie die Herrschaft übernehmen wollten. "Sagen Sie den Leuten, dass sie in Gefahr sind, sich missbrauchen zu lassen und dass sie sich auf einem Weg befinden, auf dem sie vielleicht gar nicht sein wollen."
Der Westfälische Friede - ein Vorbild für heute?
Auch wenn der Katholikentag begeistert am Westfälischen Frieden anzuknüpfen versucht, eignet sich dieser doch nur bedingt als Vorbild für heute. Die 178 Abgesandten der katholischen Mächte versammelten sich damals im katholischen Münster, die 235 Gesandten der protestantischen in Osnabrück. Beim Katholikentag in Münster ist eine starke Beteiligung der evangelischen Kirche selbstverständlich. Stellungnahmen und Erklärungen wurden damals durch berittene Boten hin- und hergebracht. Zu den kreativsten Kompromissen des Friedensvertrages von 1648 zählte, dass sich auf dem Bischofsstuhl von Osnabrück künftig ein Katholik und ein Protestant abwechselten. Das ging bis 1802 gut, als das Bistum säkularisiert wurde.
Gegen den Friedensschluss von 1648 protestierte ausgerechnet Papst Innozenz X. Er sah kanonisches Recht verletzt, weil die Kirche auf einige Güter verzichten musste. Er erklärte den Frieden für "null und nichtig, ungültig, unbillig, ungerecht, verdammenswert, verwerflich, nichtssagend, inhalts- und wirkungslos für alle Zeiten". Seine schäumende Kritik fand kein Gehör fand. Das machte der Frieden erst möglich.
"Hamas, Hamas - Juden ins Gas" unterscheidet sich vom Nazi-Hass
im Dritten Reich gegen Juden wie genau?
Können Sie den Unterschied bitte ausführen, und wie David Ranan seine These belegt?
Jeden Tag 4 antisemitische -gemeldete- Vorfälle, jede zweite Woche ein Angriff auf eine Synagoge, sind kein Indiz dafür, dass wir irgendeine Quelle oder ein Milieu für Judenhass in Deutschland kleinreden können.
Bitte bringen Sie zu diesem Thema mal ein Essay von Deniz Yücel - oder drucken Sie wenigstens sein "Nein, du darfst nicht" noch einmal ab.
Der fröhliche Atheist scheint mir der kundigere Religionsexperte mit der besseren deutschen Leitkultur zu sein, als in diesem evangelischen Artikel hier offengelegt.
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