Jan Oltmanns: Ich bin ja hier der Gastgeber, darum wollte ich gleich zu Anfang sagen: Im Duckdalben duzen sich alle!
chrismon: Danke! Wart ihr schon einmal unterwegs, ohne zu wissen, wo ihr die nächste Nacht verbringen könnt?
Kathrin Beulshausen: Ich muss 16 gewesen sein, als ich mit meinem damaligen Freund die Fähre von Harwich in England nach Hamburg verpasste. Mit meinem letzten Kleingeld rief ich meine Mutter an: Mama, wir kommen zwei Tage später! Bevor sie anfangen konnte zu schreien, legte ich auf. Wir schliefen auf einer Bank und verbrachten die Zeit mit Obdachlosen. Ein Ire erklärte mir, warum mein Name von einer Heiligen stammt – Kathrin, Catherine. Das weiß ich heute noch!
Stefan Wehrheim: Früher habe ich Radtouren mit Freunden und Geschwistern gemacht. Zur Not legten wir uns im Schlafsack an den Wegesrand. Das war wunderbar. In der Jugendherberge sind das besonders entspannte Gäste: Die kommen abends angefahren, haben nicht reserviert und sind voller Urvertrauen, dass sie schon irgendwo unterkommen. Zur Not stellen wir in einem Tagungsraum Pritschen auf – und die sind glücklich.
Jan: Dafür bin ich zu ängstlich, ich muss immer wissen, wo ich die nächste Nacht verbringen kann. Ich habe mal in Paris den Zug nach Hause verpasst. Der nächste fuhr sieben Stunden später. In dieser Zeit was zu erleben, ohne sich zu weit vom Bahnhof zu entfernen: Das ist genau das Gefühl, das unsere Gäste im Duckdalben haben. Die dürfen ihr Schiff auch nicht verpassen. Unsere wichtigste Aufgabe ist, dass die Technik funktioniert, besonders das Internet. Die Seeleute wollen die Zeit nutzen und mit ihren Familien skypen. Die gehen mit ihren Tablets und Smartphones durchs Haus und zeigen ihren Leuten zu Hause, wo sie sind. Wir werden so immer mehr einbezogen in das Familienleben auf der anderen Seite der Welt. Ich höre oft jemanden rufen: "Jan, komm mal kucken, das ist mein Baby, das ist zwei Wochen alt!"
Kathrin Beulshausen
Stefan Wehrheim
Jan Oltmanns
Was ist eure erste Frage an den Gast?
Stefan: Zu uns kommen viele Gruppen, vom Kirchenchor bis zur Tagung von Wissenschaftlern. Ich habe Standardansprachen für jede Gruppe. Besonders ältere Lehrer haben immer noch die Vorstellung von der Autorität des Herbergsvaters im Kopf. Die sagen mir: "Herr Wehrheim, Sie müssen sofort die Hausregeln erklären!" Und erschrecken, wenn ich vor ihrer Klasse stehe und erzähle: In diesem Haus gibt es keine Regeln, nur drei Bitten. Und das reicht! Ich musste noch nichts renovieren, weil Jugendliche über die Stränge geschlagen haben.
Welche drei Bitten sind das?
Stefan: Nachtruhe ist ein schlimmes Wort, also bitte ich um Rücksicht: Denkt an eure Lehrer und daran, dass man ab 25 ein bisschen mehr Schlaf braucht! Zweite Bitte: Immer festes Schuhwerk anziehen, nicht barfuß rumlaufen! Drittens: Räumt eure Tische selbst ab und wischt sie sauber! Wenn die Lehrer sich darauf einlassen, dass die Schüler dieses Vertrauen zu schätzen wissen, haben sie eine entspannte Klassenfahrt.
"Die Seeleute sind unsere Freunde, weil 90 Prozent dessen, was wir essen und nutzen, über den Seeweg zu uns kommen"
Jan: Welches Schiff, welches Land? Das ist oft unsere erste Frage an die Gäste, weil wir eine Statistik führen, woher die Leute kommen. Es macht auch Spaß, das zu erraten. Mitunter spreche ich jemanden auf Koreanisch an, und der sagt: I am a Japanese! Aber dann weiß man das auch. Die zweite Ansage ist: Ihr könnt euch fühlen, als wäre keiner zu Hause! Guckt alles an, nehmt das Haus in Beschlag! Nur ganz selten werden wir enttäuscht. Wir sprechen die Seeleute als Freunde an, weil wir finden, dass sie unsere Freunde sind. Die sind für uns unterwegs, 90 Prozent der Dinge, die wir in Deutschland essen oder nutzen, sind wenigstens teilweise über den Seeweg hergekommen. In den 31 Jahren Duckdalben hat es sich nicht mal eine Handvoll Seeleute verbeten, als Freund angeredet zu werden. Einer sagte mal zu einem meiner Kollegen: I am not your friend, I am the captain. Der Kollege hat das toll gekontert. Ok, my friend captain.
Stefan: Wie lange bleiben die Seeleute bei euch?
Jan: Im Schnitt drei Stunden, es übernachtet aber niemand bei uns. Manche Frachter sind bis zu 36 Stunden im Hafen. Die Seeleute haben nicht immer frei, es gibt Dienste an Deck. Große Schiffe fahren wir drei, vier Mal an, um Seeleute zurückzubringen und neue zu holen.
Kathrin: Meine erste Frage als Concierge an Gäste ist meistens: Waren Sie schon mal in Hamburg? Viele kommen gar nicht mit einem konkreten Anliegen zu mir, sondern wollen einfach unterhalten werden. Der Concierge steht in der Regel in der Nähe der Rezeption und kümmert sich um die besonderen Wünsche.
Zum Beispiel?
Kathrin: Neulich stand ein Junge vor mir, zehn, zwölf Jahre alt. An seinem Hemd fehlte ein Knopf, den hielt er in der Hand. Er wollte wissen, ob ich den Knopf wieder annähen könnte. Seine Eltern waren ausgegangen, ohne ihn. Also haben wir ihm den Knopf angenäht. Wir besorgen die Theaterkarte, die es eigentlich gar nicht mehr gibt. Oder kaufen Souvenirs für gestresste Geschäftsleute, die ihrer Frau was mitbringen wollen, aber keine Zeit haben, selbst zu gehen. Vielen Gästen ist es auch ganz wichtig, dass ihnen jemand zuhört, egal was sie erzählen. Manchmal höre ich Geschichten auch zum 15. Mal.
Stefan: Das kenne ich!
Kathrin: Das Hamburger Wetter ist so ein Thema, ich flippe innerlich fast aus, wenn sich alle beschweren. Aber nach außen bleibe ich höflich. Es darf kein Funken Ironie in meine Reaktion geraten. Gäste spüren sowas.
Stefan: Freundlichkeit beschwört manchmal die nächste Geschichte herauf.
Kathrin: Trotzdem: Wenn ich höflich und zugewandt bin, wird auch nach dem 15. Gespräch übers Wetter immer noch ein gutes Gefühl bleiben. Stefan, wie lange sind die Gäste denn bei euch in der Herberge?
"Es ist ein besonderer Schlag Mensch, der mit Frau und Kindern in Stockbetten schläft"
Stefan: Im Schnitt etwa vier Tage. Manche bleiben im Sommer zwei Wochen. Das ist ein besonderer Schlag Mensch, der mit Frau und Kindern in Stockbetten schläft. Feriengäste bauen persönliche Beziehungen zu unseren Mitarbeitern und uns auf. Das ist schön und macht unseren Job besonders. Aber es ist auch eine Herausforderung: Im Sommer kommen keine Schulklassen. 47 Zimmer sind mit Urlaubern belegt. Das sind Einzelanspruchsgruppen wie in einem Hotel, die alle die gleichen Fragen stellen und die gleichen Geschichten erzählen, was sie tagsüber so erlebt haben.
Du bist Herbergsvater in dritter Generation. Was hat sich, verglichen mit der Zeit deiner Eltern und Großeltern, verändert?
Stefan: Ich bin als Kind auf Sylt durch die Küche der Jugendherberge getobt, das ist heute wegen der Hygienevorschriften streng verboten. Wir unterliegen ja alle diesem Professionalisierungswahn. Im Jahr haben wir über 34 000 Übernachtungen. Das hat natürlich auch eine wirtschaftliche Komponente, die Verantwortung ist groß. Wenn meine Tochter den Computer zum Absturz bringt und die Abrechnung futsch ist, ist das ärgerlich. Das kam bei der Registrierkasse, die meine Eltern früher hatten, nicht vor. Bei der stand der Schlüssel auf Null, da passierte nichts, wenn ich drauf herumgedrückt habe.
Was macht ihr, wenn ihr als Gastgeber schlechte Laune habt?
Kathrin: Ich kann es mir nicht erlauben, schlechte Laune zu zeigen. Aber man kann signalisieren, wenn etwas zu viel ist. Es gibt Kulturen, die kein Nein akzeptieren, erst recht nicht von einer Frau. Sie sagen zum Beispiel: I want to talk to your boss. Trotzdem lächele ich freundlich weiter, wenn mein Chef dem Gast nochmal das Gleiche erzählt wie ich.
Stefan: Wenn ich schlechte Laune habe, haue ich schon mal gegen die Wand in meinem Büro. Die Stelle sieht man schon. Das passiert aber selten – und schon gar nicht vor Gästen. Meine Frau und ich haben nachts Rufbereitschaft. Wenn jemand seine Zimmerkarte drinnen vergessen hat, klingelt bei uns nachts das Telefon: "Können Sie mir bitte meine Zimmertür aufmachen, meine Frau schläft schon." Ich sage dann immer: Meine Frau schläft auch schon, aber natürlich komme ich gern. Ich bin Dienstleister, sowas gehört dazu. Aber ich bin auch ein Mensch und einfach müde, wenn ich nachts raus muss. Dann darf man auch mal schlechte Laune haben.
Jan: Ein Massengutfrachter kam regelmäßig nach Hamburg, mit bulgarischer Crew. Wir nannten sie Bulgaren des Schreckens. Die sind grummelig und massiv aufgetreten. Eine Kollegin fasste sich ein Herz und fragte die Männer: "Wisst ihr eigentlich, dass wir euch die Bulgaren des Schreckens nennen?" Die sind aus allen Wolken gefallen. Von Stund an waren sie freundlich. Man muss Menschen auch mal sagen, dass sie nerven. Die Seeleute haben es verdient, dass wir ehrlich zu ihnen sind. Sie haben wenig Zeit, gerade deshalb muss ich als Gegenüber handfest sein. Wenn einer zu mir kommt und seinen Satz mit You don't have einleitet – puh, da kriege ich einen Hals. Meine Antwort: Listen! What we don't have, you don't need.
Kathrin (lacht): Das versuche ich auch mal!
Jan: So ein Spruch bricht die Spannung, danach kann er mit allem kommen, was er will. Ich versuche auch, meinen Kollegen die Frage How can I help you? abzugewöhnen. Seeleute brauchen keine Hilfe. Man kann sie gleich fragen, was sie brauchen, was man konkret für sie tun kann. Helfen ist von oben nach unten, aber Gäste sind ein Gegenüber.
Kathrin: Empfinden deine Gäste das auch so? Oder sehen sie dich als Dienstleister?
Jan: Die allermeisten sind froh und dankbar, dass wir so ein breites Angebot haben. Gestern war ein riesiger Ukrainer da, Schuhgröße 48, seine Schuhe waren kaputt. Bei uns gibt es Klamotten, aber überwiegend in asiatischen Größen. Wir hätten ihn gern in die Stadt in ein Geschäft gefahren. Das geht doch nicht, dass ein Seemann ohne Schuhe an Bord geht! Er sagte: "Gib mir bitte einfach Kleber!" – und war happy. Wir erleben auch tragische Sachen. Ein Seemann ging in Mexiko an Bord, aber seine Koffer waren verloren gegangen. Der wusch jeden Abend seine Unterwäsche von Hand aus. In Hamburg hatte er zum ersten Mal die Zeit, seine Situation zu verbessern. Nach fast zwei Wochen! Mit dem sind wir sofort los, um ihn einzukleiden.
Kann man sich Gastfreundschaft erkaufen?
Kathrin: Es gibt Gäste, die das denken. Aber es hängt immer vom Ton ab. Wenn jemand I want this! Now! sagt, geht es deshalb nicht schneller. Wenn mir jemand erklärt, dass er ein Problem hat und mich um Hilfe bittet, ist das etwas anderes. Der eine sieht mich als Mensch, der andere nicht.
Jan: Passiert es eigentlich, dass Männer zu dir kommen und nach Puffs fragen?
"Die Frage nach Bordellen beantworte ich nicht"
Kathrin: Das ist mir nur ein einziges Mal passiert. Und dann wollte derjenige natürlich auch nicht für sich selbst, sondern für einen Freund gefragt haben. Die Frage nach Bordellen beantworte ich nicht. Unsere Conciergevereinigung, die Goldenen Schlüssel, vertritt die Haltung, dass wir alles für unsere Gäste tun, was moralisch und rechtlich vertretbar ist. Wie weit meine Moral geht, kann ich selbst entscheiden.
Jan: Ich stehe auf dem Standpunkt, dass jedes Kasino unmoralischer ist als ein Puff. Seeleute fragen danach. Ich habe das oft und, so gut ich kann, beantwortet, damit sie nicht übers Ohr gehauen werden.
Kathrin: Was schon vorkam: Ein Gast bat mich darum, für den nächsten Morgen ein Taxi zum Flughafen zu bestellen. Ich fragte, ob wir ihn wecken sollen. Er sagte: "Ja, wenn du raufkommst, Schatz, dann gern!" Da gehen meine Augenbrauen hoch und ich sage nichts mehr. Er entschuldigte sich für seine Bemerkung.
Ist Gastfreundschaft Nächstenliebe?
Jan: Jesus sagt: Was du getan hast einem meiner geringsten Brüder und Schwestern, das hast du mir getan. So möchte ich unser Haus verstehen. Uns besuchen Menschen, die sehr lange von zu Hause weg sind. Man tut gut daran, ihnen aufmerksam zu begegnen. Jesus hat sich seine ersten Freunde sicher nicht aus Versehen unter den Seeleuten gesucht. Wir machen das alles aus einer christlichen Motivation heraus, wollen aber niemanden dazu bringen, sich taufen zu lassen. In unserem Raum der Stille haben alle großen Religionen einen Platz.
Viele Menschen haben den Eindruck, dass die Welt voller Terror, Kriege und Konflikte sei. Spiegelt sich das bei euren Gästen wider?
Jan: Der einzige Konflikt, der auf die Schiffe durchschlug, war der Jugoslawienkrieg. Die Ukrainer und Russen tun sich bei uns nichts. Als der Iran und Irak im Krieg waren, saßen die Iraner und Iraker hier um den Tisch und haben heiß diskutiert, wie bekloppt das alles ist. Nur bei Jugoslawien war es anders. Wir wurden beschimpft, wenn wir die falsche Musik anmachten: "Ah, mach das aus, das ist serbischer Mist!" Die heutige Generation sagt zum Glück: "Er ist Serbe, ich bin Kroate, aber wir fahren zusammen zur See." Wenn die Welt ein besserer Ort werden soll, müssen wir Seeleute zu Politikern machen. Die wissen, wie man ordentlich miteinander umgeht.
Könnt ihr euch vorstellen, mit einem der anderen Gastgeber hier zu tauschen?
Jan: In der Jugendherberge wäre mir zu viel Trubel. Aber was du von deinem Hotelbetrieb erzählst, Kathrin – das würde ich gern mal machen!
Kathrin: Ab schulterlang müssen wir die Haare hoch tragen. Wir gucken mal, was wir mit dir machen (lautes Gelächter). Ich würde auch mit dir tauschen, Jan. Und bei dir, Stefan, würde ich gern mal wohnen.
Stefan: Hier im Duckdalben würde ich sofort eine Woche aushelfen, schon des Ortes wegen: Der Hafen ist toll, eine faszinierende Welt!
Jan, auf welchem Schiff fährst du gern mit?
Auf der "Ostfriesland". Das ist ein ganz schön eingerichtetes und umweltfreundliches Schiff, das vor einigen Jahren auf Erdgasbetrieb umgerüstet wurde.
Warum hast du dir gerade dieses Schiff ausgesucht?
Es bringt meine Familie und mich von Emden nach Borkum – und da haben wir dann Urlaub!