An Ultra-Orthodox Jew wears and white robe and prayer shawl while walking between Muslim women in the Old City of Jerusalem, on Rosh HaShanah, the Jewish New Year, and the Islamic New Year, September 21, 2017. Both religions follow the lunar calendar.
An Ultra-Orthodox Jew wears and white robe and prayer shawl while walking between Muslim women in the Old City of Jerusalem, on Rosh HaShanah, the Jewish New Year, and the Islamic New Year, September 21, 2017. Both religions follow the lunar calendar. Photo by Debbie Hill/UPI [NUR FUER DEUTSCHLAND FREI! GERMANY SALES ONLY!]
UPI/laif
Von wegen Diskriminierung der Nichtjuden
Gibt es eine Ungleichbehandlung der Religionen im Staat Israel? Volker Beck, grüner Politiker und Religionsfachmann, stellt das infrage. Er äußert Kritik an einem Text der Münchener Literaturprofessorin Barbara Vinken in der Januarausgabe von chrismon. Sie hatte für uneingeschränkte Religionsfreiheit und Toleranz in Deutschland plädiert, an Israel aber kritisiert, dass es Bürger jüdischer Religion privilegiere und Andersgläubige diskriminiere
dpa Picture-Alliance
03.01.2018

"Nur in einem säkularen Staat, nicht in einer Theokratie, wie sie zum Beispiel Ajatollah Khomeini im Iran durchgesetzt hat, oder im Staat Israel, der die Bürger jüdischer Religion privilegiert und Bürger anderer Religionen diskriminiert, ist freie Religionsausübung oder Religionslosigkeit möglich", schreibt die Literaturprofessorin Barbara Vinken in der Januarausgabe von chrismon. Ob die Autorin Israel tatsächlich mit der iranischen Theokratie gleichsetzen wollte, lässt die Interpunktion offen. In einem Atemzug mit dem Iran nennt sie Israel allemal und ohne Beleg behauptet sie, in Israel würden Nichtjuden vom Staat diskriminiert, und legt nahe, die freie Religionsausübung oder Religionslosigkeit sei in Israel nur eingeschränkt, wenn überhaupt, möglich. Das ist vielleicht der lange Schatten eines Mythos. Der Realität halten die Behauptungen nicht stand.

Das jüdische Volk hat vor 70 Jahren mit der Gründung des Staates Israel, der Wiedererrichtung seiner nationalen Heimstätte, das Ziel der zionistischen Bewegung vollendet. Bereits die Hakhrazat HaAtzma’ut, die israelische Unabhängigkeitserklärung von 1948, formuliert die zwei Grundprinzipien des jüdischen und demokratischen Staates:

Erstens: Israel ist Heimstatt des jüdischen Volkes. "Der Staat Israel wird der jüdischen Einwanderung und der Sammlung der Juden im Exil offenstehen."

dpa Picture-Alliance

Volker Beck

Volker Beck, von 1994 bis 2017 Bundestagsabgeordneter des Bündnis 90/Die Grünen und von 2013 bis 2017 religionspolitischer Sprecher seiner Fraktion, ist Lehrbeauftragter am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien der Ruhr-Universität Bochum (CERES).

Zweitens: Es gelten gleiche Rechte für alle Staatsbürger. "Er (der Staat Israel) wird sich der Entwicklung des Landes zum Wohle aller seiner Bewohner widmen. Er wird auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Visionen der Propheten Israels gestützt sein. Er wird all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht, soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen. Er wird Glaubens- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Sprache, Erziehung und Kultur gewährleisten, die heiligen Stätten unter seinen Schutz nehmen und den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen treu bleiben." (Die Erklärung in deutscher Übersetzung finden Sie hier.)

Gleiche Bürgerrechte für alle

Seit 1992 wird in Israel die Religionsfreiheit zudem mit dem "Grundgesetz über die Menschenwürde und Freiheit" geschützt (dazu: Shimon Shetreet, Walter Homolka: Jewish and Israeli Law – An Introduction. Berlin/Boston, 2017, S. 299). Muslime, Christen, Bahai, Drusen und alle anderen kleineren religiösen Minderheiten genießen die gleichen Bürgerrechte wie Juden. Auch für Religionslose haben die Gerichte gegen Widerstände der Exekutive eine Anerkennung ihres Status vorgesehen. Selbstverständlich haben alle Gläubigen Zugang zu ihren heiligen Stätten, die Christen zu ihren Kirchen, die Muslime zum "al-aram asch-scharif", die Bahai zu ihren Schreinen in Haifa und die Juden zur Klagemauer. Während der jordanischen Besatzung Ostjerusalems (1948–67) hatten die Juden hingegen keinen Zugang zur Klagemauer, die Juden wurden aus dem jüdischen Viertel vertrieben und es wurden 58 Synagogen zerstört (vergleiche dazu Yitzhak Reiter: Jerusalem and Its Role in Islamic solidarity. New York, 2008, S. 136)

Es gibt zwar rechtliche Differenzierungen, die aber keine Benachteiligungen sind: Christliche und muslimische Araber können im israelischen Militär dienen, sind aber anders als Juden, Drusen und Tscherkessen dazu nicht verpflichtet. Eine ähnliche, aber heftig umkämpfte Ausnahme gibt es für einige orthodoxe jüdische Gruppen. Die bisherige Regelung für sie wurde allerdings vom israelischen Supreme Court gerade aufgehoben.

Eine formale Trennung von Staat und Religion gibt es in Israel nicht. Das ist richtig. Und in bestimmten Bereichen wie im Familienrecht haben die Religionsgemeinschaften, aber eben nicht nur die jüdische, Vollmachten und Handlungsbereiche, die sie bei uns spätestens seit dem Kulturkampf verloren haben. Wie weit dies gehen soll, ist rechtlich wie innenpolitisch Gegenstand vieler Auseinandersetzungen. Zivile Eheschließungen gibt es nicht. Sie sind nach israelischen Recht nur bei den Religionsgemeinschaften möglich, die auch grundsätzlich für alle anderen personenstandsrechtlichen Fragen zuständig sind. Das ist ein Erbe osmanischer Rechtstradition aus der britischen Mandatszeit. Allerdings erkennt der israelische Staat im Ausland geschlossene Ehen an, auch gleichgeschlechtliche, lange bevor dies in Deutschland der Fall war. Wer hieraus eine Nähe zu theokratischen Systemen konstruieren will, müsste zumindest mitteilen, dass es sich um die erste multireligiöse Theokratie handelt.

Soziale Ungleichheiten jenseits des Rechts

Das öffentliche Leben in Israel ist in vielen Bereichen – wie bei Feier- und Ruhetagen – an der jüdischen Tradition der Bevölkerungsmehrheit ausgerichtet. Aber auch in Deutschland orientieren sich Ladenschluss- und Feiertagsgesetze inklusive der umstrittenen Regelungen zu den Stillen Tagen an den christlichen Traditionen der Bevölkerungsmehrheit. Sonn- und Feiertage sind sogar im Grundgesetz verankert: in Artikel 140 Grundgesetz in Verbindung mit Artikel 139 Weimarer Reichsverfassung.

Jenseits des Rechts gibt es in Israel in der Gesellschaft, innerhalb der jüdischen Mehrheit zwischen Ashkenazim, Sephardim, Mizrachim und den äthiopischen Juden (Beta Israel) wie gegenüber den verschiedenen Minderheiten, soziale Ungleichheiten, die viel mit der Geschichte des Landes und seiner sozialen Gruppen sowie der Einwanderungshistorie zu tun haben. Ein Land wie Deutschland, in dem der Bildungserfolg stark von der sozialen Herkunft abhängt, muss darüber nicht die Nase rümpfen. Eine israelische Regierung, die mehr Energie auf die Überwindung dieser Ungleichheiten verwenden würde, würde sich um Stabilität und Zukunft des Landes verdient machen.

Die deutsche Diskussion über das Kopftuch von Musliminnen an Hochschulen, die Anlass für den Artikel von Barbara Vinken ist, würde in Israel auf nachhaltiges Unverständnis stoßen. Dort gehören muslimische Frauen mit Hidschab genauso wie Juden mit Kippa oder Jüdinnen mit Kopftuch oder Perücke zum universitären Alltag.

Angriffe auf die Religionsfreiheit in Deutschland

Dass auch die in Deutschland herrschende, hinkende Trennung von Staat und Kirche nicht vor Angriffen auf die Religionsfreiheit schützt, zeigen die Kopftuchverbotsversuche in den Bundesländern. Das krasseste Beispiel ist das Berliner sogenannte Neutralitätsgesetz: Der Berliner Landesgesetzgeber verwechselt hierbei nämlich weltanschauliche Neutralität mit dem Verbannen der Religion aus dem öffentlichen Raum auf Kosten der Religionsfreiheit. Denn das Gesetz untersagt allen Beamten und Bediensteten nicht etwa nur das Tragen von "sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole[n]"  (Kreuz, Davidstern, Schahada), es verbietet auch pauschal das Befolgen aller religiösen Bekleidungsvorschriften (Ordenstracht, Kopftuch, Kippa). Gesetzgeberisches Motiv war unverkennbar das Verbot des muslimischen Kopftuchs, der Rest sind Kollateralschäden des Gleichheitsgebots. Wenn das Berliner Abgeordnetenhaus kein Einsehen hat, wird es das Bundesverfassungsgericht erneut richten müssen.

Dies zeigt: Nicht das religionsverfassungsrechtliche Verhältnis von Staat und Religion, sondern die verfassungs- oder höchstrichterliche Durchsetzung rechtlicher Gleichheits- und Freiheitsgarantien garantiert am Ende die freie Religionsausübung aller Bürgerinnen und Bürger.

Infobox

Gibt es eine Diskriminierung von Nichtjuden in Israel? Lesenswert dazu sind auch folgende Beiträge: 

Norbert Janz: Vom Staat privilegiert. In Israel gehört Religion zum Alltag, doch das Judentum spielt eine ganz besondere Rolle. (Jüdische Allgemeine)

Ulrike Putz: Bewohner Israels dürfen sich nicht "Israelis" nennen (Spiegel online)

Tessa Szyszkowitz: Sturmwarnung. Israel im geistigen Bürgerkrieg (profil.at)

 

 

 

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.
Permalink

Mit den Ausführungen von der Herrn Beck ist dann aber immer noch nicht geklärt, ob es einen Unterschied zwischen dem Anspruch und der Wirklickeit gibt. Gibt es ihn, wie signifikant ist er, ist er noch tolerabel?

Wie immer lohnt es sich, Texte genau zu lesen, bevor man sich äußert. Wer den Text von Barbara Vinken liest, wird darin ein deutliches Plädoyer für eine tolerante, multireligiöse Gesellschaft finden. Ein Vergleich, gar eine Gleichsetzung eines Mullahregimes mit Israel ist darin nicht zu finden. Das wäre auch absurd. Zur Sache: In mancherlei Hinsicht bemüht sich Israel um ein friedliches Nebeneinander von Israelis und Palästinensern, Juden und Muslimen. In der Unabhängigkeitserklärung und in Gesetzestexten ist das zugrundegelegt. Das ist unbestreitbar. Wie das im täglichen Leben aussieht, ist die zweite Frage. In der Infobox zum Beitrag von Volker Beck sind Links zu finden, in denen Beispiele für Diskriminierung genannt werden.

Permalink

Interpunktion und Grammatik – ich danke Chrismon – lassen nichts offen in meinem Satz:

„Nur in einem säkularen Staat, nicht in einer Theokratie (…), oder im Staat Israel, der die Bürger jüdischer Religion privilegiert…“ Dagegen stellt Volker Beck in dankenswerter Weise klar, dass Israel die Bürger jüdischer Religion nicht von Staats wegen, nicht aufgrund seiner Verfassung privilegiert. Auch die Verfassung der Bundesrepublik ist keine säkulare in dem Sinne, in dem die französische Verfassung die Trennung von Kirche und Staat festlegt.   

Beck führt auf eine entscheidende Frage, die ich anders beantworte als er – und zwar ohne damit Israel zu diffamieren oder gar, am anderen Ende der selben Skala, mit dem Iran gleich zu setzen, im Gegenteil. Die grundlegende Frage ist, in Becks Worten:

Zählt „das religionsverfassungsrechtliche Verhältnis von Staat und Religion“ (1) oder genügt „die verfassungs- oder höchstrichterliche Durchsetzung rechtlicher Gleichheits- und Freiheitsgarantien“ (2)? Genügt „am Ende“ (welch eine Verlegenheit!) die polizeilich oder durch sonst welche Maßnahmen gestützte, jeweils ad hoc angesagte „Durchsetzung“ (2), oder handelt es sich bei der Religionsfreiheit um Grenzen, die durch die staatliche Gewalt in der Freiheit der Religionsausübung, in der Trennung von Kirchen und Staat zu respektieren sind (1) – Stichwort Kirchenasyl – oder eben nicht respektiert werden. Das ist die Alternative, die Beck wie einen gordischen Knoten behandelt, und wie Beck – Ordnung muß sein – denken viele.

Ich meine: Das Problem besteht, ist nicht gelöst, und ist durch Durchschneiden des Knotens nicht zu lösen. Eine verfassungsrechtliche Trennung von Kirche und Staat brächte dagegen einer Lösung näher, und zwar nicht nur im Verhältnis zu den leitkulturell etablierten Kirchen, sondern auch für die Standards, welche die religiösen Richtungen hinzutretender Gemeinschaften zu entwickeln hätten (Stichwort Religionsunterricht).

Sollte es sich, zweitens, im Falle Israels und der Palästinenser nicht um religiös motivierte, sondern um rein staatspolitisch interessierte Durchsetzungen handeln, so würde das die Sache nicht besser machen.

Permalink

Herr Beck hat mit seiner Antwort vollkommen recht, er ist sogar viel zu freundlich.
Kurze Fragen an die Herausgeber und die Autorin: wie genau werden Christen in Israel diskriminiert? Wieviele Christen sind aus Israel ausgewandert wegen Diskriminierung? Wieviele Moslems wandern aus Israel wegen Diskriminierung aus?

Permalink

Frau Prof. Dr. Barbara Vinken benutzt, wie auch andere Fachleute, statt ‘Demokratie’ ‘Theokratie’, andere, wie der israelische jüdische Historiker Slomo Sand, ‘Ethnokratie’. Shlomo Sand lehrt an einer Universität in Israel und ist dort dementsprechend, wie viele andere kritische Geister aus den eigenen Reihen, Diffamierungen ausgesetzt.
Die Demokratie in der Verfassung/auf dem Papier entspricht keineswegs der Umsetzung durch den Staat Israel.
Die Ausführungen bezüglich von Herrn Volker Beck sind Fiktionen/Wunschträume ?
In der Realität s i n d die nichtjüdischen Bürger in vielen entscheidenden Aktionen Bürger 2. Klasse und benachteiligt.
In der “Anmerkung der Redaktion” wird die Sentenz verwendet :“ In mancherlei Hinsicht BEMÜHT SICH Israel um ein friedliches Nebeneinander von Israelis und Palästinensern...”
Wenn in Arbeitszeugnissen die Formulierung “ bemüht sich “ steht, weiß jeder Arbeitgeber, was er von der Qualifikation des Bewerbers zu halten hat,
also eine versteckte verräterische Beurteilung bezüglich größeren Defiziten --- und die gibt es genug dokumentierte für den Staat Israel.
Eine Gleichsetzung der iranischen und der israelischen Theokratie in dem einen Satz ist einer verkürzten unglücklichen Formulierung zu verdanken,
da ich dies dieser integren Verfasserin nicht zutraue und damit eine Anlaß für die, die Israel vor JEGLICHER Kritik beschützen wollen und mit solchen unkritischen und unsachlichen Leserbriefen zu reagieren.