Am 26. August 1824 ließ in einem Wohnzimmer in Trier ein Pfarrer Wasser über den Kopf des kleinen Karl Marx rinnen, wodurch er vom Juden zum evangelischen Christen wurde. Die Familie wollte kein Aufheben von der Sache machen, deshalb wurde das Ritual zu Hause und nicht in einer Kirche vollzogen. Karl war damals sechs Jahre alt. Damit war eine Weiche für sein Leben gestellt: Der Junge konnte nicht mehr Rabbi von Trier werden wie sein Großvater oder sein Onkel väterlicherseits. Und auch nicht Rabbi von Nijmegen in Holland wie sein Großvater mütterlicherseits.
58 Jahre später, am 17. März 1883, wurde in London jener Mann zu Grabe getragen, der der Welt eine der wirkmächtigsten Schriften aller Zeiten hinterließ. Darin hat er seinen ureigenen Weg gefunden, den Menschen doch noch das Heil zu verkünden. Marx verspricht das Paradies auf Erden: die kommunistische Gesellschaft, in der es kein Privateigentum gibt, die Produktionsmittel allen gehören. Marx schreibt, es sei möglich, "heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe". In dieser Gemeinschaft werde keiner mehr ausgebeutet. Alle seien frei, alle gleich, und alle hätten genug zu essen.
Ein biblisches Motiv: die Befreiung von der Fronarbeit
Der Spross einer jahrhundertealten Rabbinerfamilie verkündet das Paradies: Ein Zufall scheint das nicht zu sein. Sogar sein auserwähltes Volk hat er gefunden: das Proletariat, das den historischen Auftrag hat, die Menschheit für immer von der Fron zu befreien. Während Moses sein Volk aus der Knechtschaft der Ägypter führte, führt Marx die Menschheit aus der Knechtschaft der Bourgeoisie.
Es ist, als transponiere Marx Textstellen der Heiligen Schrift. Etwa diese als Beschreibung des ungezügelten Manchester-Kapitalismus seiner Zeit: "Und sie hielten die Kinder Israel wie einen Gräuel. Und die Ägypter zwangen die Kinder Israel zum Dienst mit Unbarmherzigkeit und machten ihnen ihr Leben sauer mit schwerer Arbeit in Ton und Ziegeln und mit allerlei Frönen auf dem Felde und mit allerlei Arbeit, die sie ihnen auflegten mit Unbarmherzigkeit." Oder diese als Beschreibung der sozialistischen Zukunft: "Und der Herr sprach: Ich habe gesehen das Elend meines Volkes in Ägypten und habe ihr Geschrei gehört über die, so sie drängen; ich habe ihr Leid erkannt und bin herniedergefahren, dass ich sie errette von der Ägypter Hand und sie ausführe aus diesem Lande in ein gutes und weites Land, in ein Land, darin Milch und Honig fließt."
Nicht nur, dass Marx derlei Inhalte in die moderne Sprache übersetzt, er schlägt auch immer wieder mit bildgewaltigen Sätzen einen biblischen Ton an und zitiert Begriffe und Szenen aus der Bibel. Diese Anklänge finden sich nicht nur in Briefen und Artikeln oder im "Kommunistischen Manifest" von 1848, sondern auch im "Kapital" (der erste Band erschien im Jahr 1867).
Die Geburt der Industrie - ein Kinderraub wie bei Herodes
Da spricht er vom "ununterbrochenen Opferfest der Arbeiterklasse" oder, wenn er die Akkumulation des Kapitals geißelt, von Adams Biss in den Apfel und der Erbsünde. Da ist die Rede von einer "Martyrologie der Produzenten" und oft von Propheten. Es gibt Abschnitte mit Titeln wie "Genesis der kapitalistischen Pächter" (Genesis wie das erste Buch des Alten Testaments), oder er spricht vom "großen herodischen Kinderraub", als es um die Geburt der Industrie geht. Er bezieht sich damit auf eine biblische Legende: Nach der Weihnachtsgeschichte des Matthäusevangeliums ließ König Herodes alle neugeborenen Jungen in Betlehem rauben und töten, um Jesus von Nazareth zu beseitigen.
Ilona Jerger
Marx, der wirtschaftliche Prozesse analysiert, wird oft regelrecht hinweggetragen von religiösen Symbolen. Dass der Wissenschaftler, der mit kühlem Kopf nach den "ökonomischen Bewegungsgesetzen der Gesellschaft" suchen, Herkunft und Psyche ein Schnippchen schlagen will, könnte man als seine persönliche Dialektik verstehen. Sogar als er den Begriff der Arbeit fassen wollte, griff er auf eine biblische Erzählung zurück, die vom Sündenfall, und schrieb: "Du sollst arbeiten im Schweiße deines Angesichts! war Jehovas Fluch, den er Adam mitgab."
Selbst wer die vielen Anspielungen auf Religiöses als Persiflage versteht, kommt nicht umhin, darin eben doch die tiefe Verbundenheit von Karl Marx mit seiner Herkunft zu erkennen. Er tat es den Gelehrten von Talmudschulen, die unermüdlich alte Schriften studierten, auch insofern nach, dass er jahraus, jahrein im Lesesaal des British Museum in London saß und las. Nie interessierte ihn ein Brotberuf, mit dem er seine Familie hätte ernähren können. Nie setzte der promovierte Philosoph auch nur einen Schritt in eine Fabrik. Feldstudien waren ihm fremd, er führte das Leben eines Schriftgelehrten. Tausende Bücher und Zeitschriften exzerpierte er aufs Gründlichste und hinterließ riesige geschnürte Ballen mit schier unleserlichen Notizen.
Die Mutter von Karl Marx blieb ein Leben lang die fromme Rabbinertochter
Die äußere Abkehr Karls vom Judentum war bereits durch die Taufe des Vaters vorbereitet worden. 1819, im Jahr nach Karls Geburt, hatte sich die antisemitische Stimmung im Deutschen Bund immer weiter aufgeschaukelt und war mit den "Hep-Hep-Krawallen" so laut geworden, dass man sie nicht mehr überhören konnte. In vielen Städten war es zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen Juden gekommen unter den Rufen von "Hep! Hep! Jude verreck’!". Da Karls Vater als Jude keine Anwaltskanzlei hätte führen dürfen, konvertierte Heschel und wurde zu Heinrich. Karls Mutter Henriette konnte sich erst später zur Taufe durchringen, blieb jedoch ihr Leben lang die fromme Rabbinertochter, die sie immer gewesen war. Nichts hätte sie lieber gesehen, als dass auch ihr Sohn Rabbi geworden wäre.
Da mag man kaum an Zufall glauben, dass einer von Karl Marx’ zentralen Begriffen "Entfremdung" ist, zusätzlich genährt von der Erfahrung, den größten Teil seines Lebens als staatenloser Exilant verbracht zu haben. Marx hat damit eine zentrale Erfahrung vieler Menschen getroffen, und ein Großteil seiner Strahlkraft rührt bis heute daher, dass Menschen hoffen, diese Entfremdung überwinden zu können – zum Beispiel dadurch, dass sie andere Werte und Tätigkeiten ins Zentrum ihres Daseins stellen möchten als Geld, Lohnarbeit und Kommerz.
Marx weigert sich beharrlich, dieses nicht-entfremdete Leben, das seine Theorie verspricht, auch nur zu skizzieren, sieht man von der einzigen, vagen Stelle ab ("morgens jagen, mittags fischen, abends Viehzucht treiben"), die oben zitiert ist. Weder lässt er sich dazu hinreißen zu beschreiben, wie eine kommunistische Gesellschaft funktioniert, noch eine kommunistische Wirtschaftsweise. Für den Materialisten Marx sind diese Leerstellen konsequent. Man kann, so seine Überzeugung, das gute Leben nicht im Vorhinein konzipieren. Zunächst müssen sich die Verhältnisse ändern.
Hier liegen die Unterschiede zu Christen, Utopisten, gläubigen Juden oder Muslimen: Sie alle formulieren ihre Ideen, ihre Ziele, wie ein faires, ein gerechtes Leben aussehen sollte. Marx hingegen überschüttete jeden Genossen mit Hohn und Spott, der idealistisch an die Weltveränderung heranging. Für ihn war das Gefühlsduselei.
Klassenkämpfe waren nicht die einzigen Lokomotiven der Geschichte
Dass die Menschen nach kommunistischen Revolutionen regelmäßig in der Hölle landeten, sollte niemanden davon abhalten, sich mit Marx’ Analysen zu befassen. Dass er den Kapitalismus systemisch betrachtete, ist seine historische Leistung. Auch hat er Entwicklungen wie Globalisierung, Finanzkrise oder die totale Kommerzialisierung vorhergesagt. Unzutreffend hingegen ist sein Bild des Menschen. Wenn Religion und Ethik, aber auch Kunst und Rechtsprechung mehr oder weniger zum Spiegel der ökonomischen Verhältnisse degradiert sind, wird man den vielfältigen Talenten, unserer Psyche und Kreativität nicht gerecht. Denn eines ist sicher: Nicht nur Klassenkämpfe und Revolutionen waren die Lokomotiven unserer Geschichte, sondern auch Ideen und einzelne Menschen. Er selbst ist das beste Beispiel.
So betrachtet war seine Taufe nicht nur eine Entfremdung, sondern eine Befreiung: Der hochbegabte Denker konnte, statt Rabbi von Trier, Rabbi für die Welt werden.
Er war ein Rabbi für die Welt
Schön, dass Karl Marx auch einmal in einem weiteren, christlich-humanistischen Horizont dargestellt wird, statt nur im Rahmen volkswirtschaftlicher Detailfragen oder gar nur in ideologisch-propagandistischer Vereinfachung reduziert auf Stalin, die Schüsse an der Mauer und den Trabi. Christen und Marxisten ziehen durchaus an einem Strang, das sollte allgemein mehr in den Vordergrund gestellt werden.
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Eigenartige Janusköpfigkeit
Dass der olle Marx ein Schlimmer war, der die "Religion....degradiert" hat und dabei auch gleich noch Ethik, Kunst und Rechtsprechung mitdegradiert hat, weiß jeder anständige Mensch. Wieso er es aber dann doch zum "Rabbi für die Welt" gebracht haben soll, kann nur erstaunen.
Fritz Kurz
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Faszinierender Blickwinkel
Auf Karl Marx auf diese Weise zu schauen ist spannend und bereichert die Debatte zum 200. Geburtstag, der nächstes Jahr gefeiert wird. Ich jedenfalls habe das so noch nie gesehen. Toller Diskussionsbeitrag.
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Faszinierende Aussichten
Tolle Diskussionsbeiträge wie der vorliegende sind in der Tat nächstes Jahr verstärkt zu erwarten. Dieses Jahr durfte sein Hauptwerk 150 Kerzen auf der Torte ausblasen, da gab es schon einen kleinen Vorgeschmack darauf. Wortgewaltiger Mahner! Engagierter Kämpfer! Guter Freund eines Fabrikanten! Verliert im Schachspiel gegen seine Haushälterin, die er ansonsten schwängert! Rundum faszinierende Persönlichkeit!
Bei so viel Lob und Tiefblickerei in Marxens Hinter-, Unter- und Abgründe braucht sich erfreulicherweise niemand zu befassen mit seinen schnöden Argumenten gegen das uns allen ans Herz gewachsene politische und wirtschaftliche System.
Thea Schmid
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Revolution von oben
Wenn man versucht, Marx in die Gegenwart zu transportieren und anzuwenden, stellt man fest, dass seine Theorie auf dem Kopf steht - die Revolution kommt nicht von „unten“, von der „Arbeiterklasse“ (Neudeutsch „Human Resources“), sondern von „oben“, von den Konzernen, d.h. die digitale Revolution, d.h. Vollautomatisierung und Robotisierung der Herstellungsprozesse! Was außerdem kommt, wird Kapitalismus in purer Form des menschen-losen Kapitals sein, was sich Marx gar nicht vorstellen konnte. Die größte weltbewegende Erfindung unserer Zeit ist die Entkopplung der materiellen und immateriellen Wirtschaft, der Finanzmärkte mit ihren spekulativen „Produkten“ von der Realökonomie. Man hat somit Wertschöpfung ohne Produktion. Mechanische Fähigkeiten werden durch Roboter ersetzt, das Sammeln von Wissen durch künstliche Intelligenz aus dem Big Data.
Die technologische Revolution schafft das arbeitende Proletariat ab, aber das bedeutet, sie ersetzt es durch das Digitariat, digitale Nomaden und das arbeitslose Prekariat.
Der Kapitalismus erwies sich als sehr anpassungsfähig, er erscheint in ständig mutierender Variante. Und das ist das, was der österreichische Ökonom Josef Schumpeter vorhersagte - dass auch die freie Marktwirtschaft sich ständig an die globalen Gegebenheiten anpassen muss. Damit wurde der Kern der marxistischen Philosophie - Dialektik, der Kampf der Gegensätze - abgeschafft. Die Substitution der Technologie für menschliche Arbeit ruft ein Dilemma hervor, das bis jetzt noch keine Gesellschaft lösen konnte, schrieb 1998 John Gray, damals Professor für Ökonomie, Uni. Oxford, in seinem Buch „False dawn“ (Falsche Dämmerung). Am Ende könnte man sagen, wie Mark Fisher in seiner Broschüre „Capitalist realism“ von 2009: „Es ist leichter, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus“…
Es ist interessant, dass Frau Jerger die Wurzeln des Marxismus im Judentum findet, wo das Judentum auch in den Wurzeln des Christentums steckt. Dabei hat der Realsozialismus im damaligen Ostblock die christliche Religion bekämpft, nach dem Motto von Marx, dass die Religion das Opium des Volkes sei…
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