Es ist vier Uhr morgens. Seit zwei Stunden stehe ich hinterm Absperrband der Polizei und starre auf den Toten, der dreißig Meter vor mir in einer Seitenstraße unter einem Baum liegt. Leiche Nummer fünf in den vergangenen neun Stunden. Stadtteil Malate, im Herzen der philippinischen Hauptstadt Manila. Stundenlang bin ich diese Nacht im Auftrag der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch von Tatort zu Tatort gehetzt.
Polizisten und Ermittler der Spurensicherung laufen um den Leichnam herum, fotografieren Patronenhülsen, malen mit Kreide weiße Kringel auf den Asphalt, messen aus unerfindlichen Gründen den Abstand vom Toten zum Polizeiwagen, der erst nach der Schießerei eingetroffen ist, durchsuchen den Inhalt von Hosen- und Brieftaschen. Ich zoome mit der Kamera heran. Der Tote trägt ein rotes Hemd. Neben der geöffneten rechten Hand liegt ein Revolver. Ein Polizist nimmt einen Kugelschreiber aus seiner Brusttasche, schiebt ihn zwischen Abzugsbügel und Abzug, hält die Waffe in den Lichtkegel einer Taschenlampe, lange genug, dass es die Journalisten hinter dem Absperrband sehen können. Dann verschwindet die Waffe in einer Plastiktüte und der Tote in einem Leichenwagen.
Ein Polizist zündet sich eine Zigarette an, zieht den Rauch tief ein, blickt mürrisch in die Kameras und berichtet. Zivilpolizisten hätten einen Drogendealer, bewaffnet und zu allem bereit, am Ende einer dunklen Gasse gestellt. Drei Schüsse. Notwehr. Ein Revolver neben einem namenlosen Körper als Beweisstück. Ansonsten: keine Augenzeugen, kein großes Spektakel. Ganz normal. Manila Vice. Alles Weitere morgen im Polizeibericht. Dann klatscht der Polizist in die Hände und ruft den Medienleuten zu, dass die Show nun zu Ende sei. Ab nach Hause.
„Alles Lüge“, raunt ein Anwohner im Nachthemd, nachdem die Polizei verschwunden ist. Der Tote sei unbewaffnet gewesen. Es gebe Augenzeugen, drei Jugendliche hätten alles beobachtet und Fotos gemacht. Woher er das weiß? „Das hat Jay-R erzählt.“ Wir sollten es mal in dem Videospielladen dort drüben an der nächsten Straßenecke versuchen. Er zeigt mit dem Finger auf einen Laden, über dessen Eingang bunte Leuchtreklame flackert. Da hocke Jay-R die meiste Zeit bis in die frühen Morgenstunden an Spielkonsolen und ballere die Zeit weg.
Es kostet Zeit und Überredung, ein Treffen mit den Zeugen zu arrangieren. Ihre Bedingungen: keine Namen, keine Fotos, Treffen an einem öffentlichen Ort ihrer Wahl. Eine Stunde später sind Christian und Jason, beide Teenager, auf der Empore eines Mini-Marts, wo Kunden ein schnelles Frühstück einnehmen können, ein paar Hundert Meter vom Tatort entfernt. Sie tragen Baseballkappen und Sonnenbrille. Zwei Freunde stehen Schmiere. Die beiden Jungs sitzen nervös und angespannt an einem leeren Tisch vor einem Panoramafenster, von dem aus sie die Straße überblicken können. Zeugen kann die Polizei überhaupt nicht gebrauchen. Immer wenn sich die Türe öffnet und ein Kunde den Laden betritt, zucken sie zusammen. Christian schaut dann zu seinen Kumpels herunter. Nicken. Daumen hoch. Alles in Ordnung. Ich spendiere Kaffee und Donuts. Nach ein paar Schlucken Moccachino entspannen sich die beiden und beginnen zu erzählen.
Christian und Jason spielten auch an diesem Abend an den Computern des Videospielladens. Gegen 2.35 Uhr fuhr ein Motorrad in die Gasse hinter dem Laden. Kurz darauf hörten sie Schreie. „Wir haben gesehen, wie ein Mann, der einen Helm trug, einen anderen Mann gegen einen Baum drückte und immer wieder auf ihn einschlug“, sagt Jason, knetet mit der rechten Hand die Finger der linken und wippt mit dem Oberkörper. „Yeah, Mann, dann fielen drei Schüsse, und wir sahen den Motorradfahrer wegfahren“, sagt Christian. Es sei noch ein weiterer Mann dagewesen. Gleich nachdem der erste Schütze verschwunden war, fielen vier weitere Schüsse. Kurz darauf erschienen Polizisten und sperrten die Seitenstraße ab.
„Wir sind auf einen Wassertank hinterm Haus geklettert. Von dort hat man eine gute Sicht auf die Gasse“, erzählen die Teenager. „Wir haben Fotos gemacht“, sagt Christian und zieht sein iPhone aus der Tasche, scrollt durch seine Ordner, bis er das richtige Foto gefunden hat. „Hier, schau. Das ist der Tote. Siehst du eine Waffe? Nein! Der ist unbewaffnet.“ Als die Polizisten die Jungs entdeckten, befahlen sie ihnen zu verschwinden. Erst später erfuhren Christian und Jason, dass es offiziell heißt, der Mann sei bewaffnet gewesen und hätte auf die Polizisten geschossen. „Nein, Mann. Das stimmt nicht. Warum behauptet die Polizei so etwas?“ Christian würde jetzt gerne gehen. Eine letzte Frage: Warum erzählt ihr das alles? „Wir sind gegen Drogen. Aber wir sind auch dagegen, dass Unschuldige ermordet werden. Wir fühlen uns nicht mehr sicher“, sagt Jason.
Dass meine Nachbarn diese Gewaltorgie bejubeln, hätte ich nie geglaubt
Seit zehn Jahren lebe ich in Manila. Und seit dem Amtsantritt von Präsident Rodrigo Duterte im Juni 2016 verfolge ich diesen verstörenden Drogenkrieg in meiner Wahlheimat mit wachsender Sorge. Wenn mir jemand vor zwei Jahren gesagt hätte, dass Filipinos dazu fähig sind, Tausende tote Landsleute zu akzeptieren und diese Gewaltorgie auch noch zu bejubeln, ich hätte es nicht für möglich gehalten.
Es war gar nicht mal überraschend, dass ein Typ wie Rodrigo Duterte mit seiner Vision einer neuen philippinischen Gesellschaft die Wahl gewann. Ein hemdsärmeliger 71-Jähriger, der versprach, aufzuräumen, den Sumpf aus Korruption, Armut, Vetternwirtschaft, Rechtlosigkeit, Straffreiheit trockenzulegen. Der den Papst einen „Hurensohn“ nennt, eine vergewaltigte australische Nonne verhöhnt und behauptet, eigenhändig Verbrecher erschossen zu haben. „Tötet sie alle und beendet das Problem“, schlug er vor und versprach, 100 00 Leichen in die Bucht von Manila werfen zu lassen. In dem von Korruption, Machtmissbrauch und Verbrechen gebeutelten Inselstaat, wo sich Eliten bereichern und die Armen vom Wirtschaftswachstum so gut wie ausgeschlossen sind, kam das gut an. Viele Filipinos verehren Duterte wie einen Messias. Seine Wahl ist ein Denkzettel der Zornigen und Enttäuschten an die Oligarchie, die seit Jahrzehnten das Volk mit leeren Wahlversprechen belügt, Steuergelder in die eigenen Taschen stopft und keinerlei Konsequenzen fürchten muss.
Die philippinische Gesellschaft hat sich schon in Dutertes erstem Amtsjahr verändert. Für oder gegen den Präsidenten zu sein, das spaltet Familien, macht Freunde zu Feinden und Fremde zu erbitterten Gegnern. Wie viele Menschen tatsächlich in diesem Drogenkrieg getötet wurden, ist schwer zu ermitteln. Laut Polizeistatistik: 3155 in Polizeioperationen getötete Drogendealer, über 2000 Drogenmorde durch Auftragskiller, über 7000 ungeklärte Mordfälle. Also bis zu 12 00 Tote in einem Jahr. Täglich werden es mehr.
Aber der Kampf gegen die Drogen ist sichtbar und massenwirksam, schauerlich und faszinierend. Redaktionen aus aller Welt schicken ihre Reporter vorbei. Ein solches Interesse bekommen die Philippinen ansonsten nur, wenn Taifune oder Tsunamis das Land verwüsten.
Carsten Stormer
Carlo Gabuco
Im Ausland kommt das Morden nicht gut an. Menschenrechtsgruppen kritisieren Selbstjustiz und Polizeiwillkür. Die Europäische Union verlangt, dass demokratische Normen eingehalten werden, und diskutiert, ob sich der Inselstaat unter Duterte von einer Demokratie in eine
Autokratie verwandelt. Wenn andere mahnend den Zeigefinger heben, zeigt der Präsident ihnen den Mittelfinger und wird dafür bejubelt.
Schuld an der PR-Misere haben, wenn es nach Duterte und seinen Anhängern geht, die Medien. Sie würden Kampagnen betreiben, um die Philippinen im Auftrag fremder Mächte zu destabilisieren. Und so tobt auf den Philippinen gleichzeitig ein Informationskrieg in den sozialen Medien. Den hat das Duterte-Lager längst gewonnen. Unzählige Pro-Duterte-Gruppen und -Blogger, tausendfach gefälschte Profile und Bots verbreiten Falschbehauptungen, Propaganda und Diffamierungen. Journalisten traditioneller Medien schauen staunend zu, wie Fakten, Rechercheergebnisse und der gesunde Menschenverstand im Getöse untergehen. Kollegen erhalten im Internet Morddrohungen, Kolleginnen wird gewünscht, dass sie von Drogenabhängigen vergewaltigt werden.
Neunjährige sollen künftig strafmündig sein, politische Gegner werden weggesperrt
Auch mich trifft der Zorn. Im Januar dieses Jahres drehte ich für die „New York Times“ einen Film über den Drogenkrieg. Der Film sorgte für viel Wirbel, und ein wutschnaubender Präsident warf der „New York Times“ und deren Mitarbeitern vor, einen Coup zu planen, um die Regierung zu stürzen. Die Journalisten seien von der Opposition bezahlte Agenten. Obwohl mein Name nur kurz auftauchte, geisterten bald Aufrufe durchs Netz, mir eine Lektion zu erteilen. Ich will mich nicht einschüchtern lassen, doch das Kalkül der Trolle geht auf. Wenn ich mit meinem Motorrad durch Manila fahre, schaue ich nun öfter in den Rückspiegel, ob mich jemand verfolgt. Mopedfahrer, die an roten Ampeln neben mir halten, beobachte ich misstrauisch. Wenn ich mein Haus verlasse, sondiere ich die Gegend. Nach einer Auslandsreise kontrolliere ich zuerst mein Gepäck, ob jemand darin Drogen deponiert hat.
Bürgerrechtsgruppen demonstrieren gegen die außergerichtlichen Hinrichtungen. Einstige Widerstandskämpfer gegen die Marcos-Diktatur warnen vor einem Rückfall in die Tyrannei. Ehemalige Mitglieder von Todesschwadronen beschuldigen den Präsidenten, Morde persönlich in Auftrag gegeben zu haben. Von Gewissensbissen geplagte Polizisten quittieren den Dienst, weil sie Verdächtige ohne Gerichtsurteil erschießen sollten. Und nach langem Zögern bricht nun die mächtigste aller Institutionen auf den Philippinen ihr Schweigen: die katholische Kirche. Zumindest Teile davon.
Carlos Ronquillo ist einer von denen, die gegen das Blutvergießen predigen und den Zorn des Präsidenten erregen. Seine Kirche in Manilas Stadtteil Baclaran ist ein neoromanisches Ungetüm an einer vielbefahrenen Hauptstraße. Auf 5000 Quadratmetern finden hier elftausend Gläubige Platz.
Die Kirche hat dem Morden viel zu lange zugesehen. Wir müssen Haltung zeigen
Während draußen der Verkehr rauscht, wettert Pater Ronquillo gegen das Töten an. Ein rundlicher Mann im Messgewand, die Brillengläser von Hitze und Entschlossenheit beschlagen, der sich während der Messe auf eine Krücke stützt. „Der Kern allen Übels ist die Armut. Die verschwindet nicht, indem man Menschen tötet“, ruft der Priester von der Kanzel. „In Jesu Namen. Amen.“ „Amen“, hallt es tausendfach aus dem Kirchenschiff wider. Es sind deutliche, mutige Worte. „Die Kirche hat dem Morden viel zu lange zugesehen. Wir müssen Haltung zeigen, Zeichen setzen“, sagt der Geistliche nach der Predigt in seinem spartanisch eingerichteten Amtszimmer, während ein Rosenkranz durch seine Finger gleitet.
Für seinen Einsatz für mehr Nächstenliebe erntet Ronquillo SMS und E-Mails, in denen Unbekannte ihn im Schutze der Anonymität zum Teufel wünschen und manchmal mit dem Tode drohen. Ronquillo lächelt traurig und lässt seine Schultern hängen. „Ich glaube fest daran, dass Gott die Philippinen noch nicht aufgegeben hat.“ Haltung zeigen, auf der richtigen Seite stehen, darauf komme es ihm an, sagt der 61-Jährige. „Sehen Sie selbst“, sagt der Priester. Er ruft einen Diakon herbei, flüstert ihm etwas ins Ohr, während er mit dem Finger auf mich zeigt. Dann wünscht er einen schönen Tag und verschwindet.
Ich folge dem höflichen, wortkargen Diakon durch die Kirche hinaus auf den Vorplatz, auf dem Hunderte Gläubige vor dem Schrein der Madonna beten. Vor einem Seitenschiff wartet eine junge Krankenschwester im Arztkittel. Sie führt mich in eine Art Krankenstation. Auf einer Pritsche liegt ein schmächtiger Jugendlicher. In seinem Bein stecken zwei Kugeln. Er nennt sich Ryan, seinen richtigen Namen will er nicht nennen. 18 Jahre alt sei er. Er schreit auf, als die Krankenschwester die Schusswunde in seinem Oberschenkel mit einem Skalpell öffnet, um sie zu säubern. „Die Kugel wandert. Uns fehlen die Mittel, um sie rauszuoperieren“, sagt die Krankenschwester.
Ins Krankenhaus will Ryan nicht, das sei zu gefährlich. Seit einer Woche verstecke er sich hier aus Angst vor den Mördern seiner Freunde. „Ich habe ein Massaker überlebt, die kennen meinen Namen“, sagt er, und Tränen laufen über seine Wangen. „Deshalb bin ich auch noch nicht zur Polizei gegangen. Man hört ja immer wieder, dass Polizisten dahinterstecken, wenn Dealer erschossen werden.“
Sieben Freunde starben. Sie hörten laute Musik in der Wohnung eines Freundes, sie tanzten, tranken Bier, um das Wochenende einzuläuten. Die Motorräder, die vor dem Haus hielten, hörten sie nicht. Die Fahrer trugen Helme und Maschinenpistolen. Sie feuerten ins Wohnzimmer. Ryan schleppte sich verwundet ins Bad und versteckte sich dort. Ja, einer der Freunde hätte was mit Drogen zu tun gehabt, erzählt Ryan. Die anderen aber nicht. „Warum wollten sie uns töten?“
Kaum jemand weiß, wo er sich versteckt. Nicht die Eltern, nicht die Freundin. Manchmal telefoniert er mit Kumpels. Die warnen ihn davor, zurückzukehren. Die Nachbarn tuschelten, dass er ein Drogendealer sei. Ein Todesurteil. Nur hier, in den Gemächern der Kirche, fühlt er sich sicher. Um seinen Hals baumelt ein Kruzifix. Drei Mal am Tag bete er, dass sein Leben verschont bleibt. „Ich werde auf jeden Fall vor Gericht aussagen“, sagt Ryan. „Das bin ich meinen toten Freunden schuldig.“