Es lohnt sich nachzulesen, was die Reformatoren wirklich lehrten. Erstens waren sie überzeugt: Jede Ordnung, die den öffentlichen Frieden sichert, Rechtschaffene schützt und Übeltäter bestraft, ist gottgewollt. „Wenn die Fürsten etwas befohlen haben, was von öffentlichem Nutzen ist, muss man ihnen gehorchen“, schrieb Philipp Melanchthon in seinen Grundbegriffen des Glaubens, den Loci Communes von 1521. Nicht aus Not, sondern aus Überzeugung: „Die Liebe verpflichtet uns dazu.“
Zugleich lebten die Reformatoren in Feudalgesellschaften. Die Menschen waren der Fürstenwillkür ausgesetzt. Melanchthon lehrte daher zweitens: Man muss gottlose Befehle verweigern: „Wenn die Fürsten etwas, das gegen Gott ist, befehlen würden, darf man ihnen nicht gehorchen.“
Aber die Reformatoren fürchteten Aufruhr mehr als Unrecht. Daher ergänzte Melanchthon drittens: „Wenn sie etwas mit tyrannischer Gewalt aufzwingen, ist die Obrigkeit um der Liebe willen zu ertragen, wenn ohne öffentlichen Aufruhr und ohne Aufstand nichts verändert werden kann.“ Das heißt: Lieber Unrecht erdulden als Bürgerkrieg zulassen.
Erst unter dem Eindruck der Bartholomäusnacht, dem Massaker an den Pariser Protestanten 1572, formulierte Johannes Calvins Nachfolger in Genf, Theodor von Beza, ein Widerstandsrecht: „Wenn ein König seinen Untertanen eine götzendienerische Religion aufzwingen will, bricht er mit den Geboten Gottes, von dem er doch seine Autorität bezieht. Er ist also nicht mehr König, sondern Tyrann. Seine Autorität leitet sich nicht mehr von Gott ab, und seine Bürger haben das Recht, ihn seines Amtes zu entheben.“ 1581 sagten sich niederländische Provinzen von der Herrschaft Philipps II. von Spanien mit dieser Begründung los – lange, lange vor der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung.
Und lange vor der französischen Revolution. Diese setzte die Hoffnung auf einen säkularen Nationalstaat mit gewähltem Parlament frei. Offen blieb, welche Rolle die Kirchen darin haben würden. Doch statt den Wandel zu gestalten, suchten konservative Lutheraner den Schulterschluss mit den Fürsten, die seit Luthers Zeiten die evangelischen Kirchen als Bischöfe verwalteten, und stellten den ersten Teil der Obrigkeitslehre ins Zentrum ihrer Theologie. „Gehorsam“ avancierte zum zentralen Begriff: Kinder seien Eltern Gehorsam schuldig, Untertanen der Obrigkeit und Gläubige Gott. Widerstand sei gottlos.
Um das zu begründen, mussten sie die Bibel selektiv lesen. Vollständig fordert das vierte Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren ...“ nicht Gehorsam in der Erziehung, sondern die Versorgung der Alten: „... auf dass du lange lebst in dem Land, das dir dein Gott geben wird“ (2. Mose 20,12). „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat“ aus Römer 13,1 steht Apostelgeschichte 5,29 entgegen: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ Und als Jesus sagte, „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“, zeigte er auf eine Münze mit dem Bild des Kaisers, dem somit die Münze gehört. Gottes Ebenbild aber, der Mensch, gehört Gott (Markus 12, 13–17).
„Gehorsam“ kommt von „hören“. Doch wer heute Gehorsam sagt, meint eher blindes Befolgen. Der lutherische Theologe Paul Tillich (1886 bis 1965) brach mit der konservativen Theologie, die auf sprachlichen Analogien zum Feudalstaat insistierte. Er suchte nach zeitgemäßer Sprache, um die biblische Botschaft wieder hörbar zu machen. Gott könne nicht das höchste Wesen einer innerweltlichen Hierarchie sein, sagte er. Denn Schöpfer und Geschöpf sind kategoriell verschieden. Für Tillich ist Gott nichts Seiendes, sondern „das Sein selbst“. Glaube ist „Mut zum Sein“ – der Mut, den radikalen Infragestellungen durch Tod, Schuld und Sinnlosigkeit zu trotzen. Die Bejahung des Seins zeigt sich auch im Einsatz für das Leben. Auf Gott hören heißt, den Mut zum Sein zu erfahren – und in der Verantwortung für andere zu stehen.
Ist Gehorsam Christenpflicht? Wenn damit gemeint ist, dass man hinhören soll, was dem Leben dient, dann unbedingt. Sonst nicht.
Die 14-teilige Serie "Reformation für Einsteiger" folgt den Kapiteln des Buches von Philipp Melanchthon "Loci Communes 1521" (Grundbegriffe der Theologie).
Gehorsam für Existenz
Ich habe nicht viel – eigentlich gar keine – Ahnung von den angeführten Bibelzitaten und deren Deutung. Trotzdem scheint mir diese theologische Metaebene eher ein Lendenschurz: Die Reformation wäre sank und klanglos untergegangen, hätte sich die Bewegung nicht von Anfang an der Machtebene (den machtbesessenen Fürsten) ergeben (zB Junker Jörg). Der Preis für die Existenz der Reformation war die Unterwerfung unter die Fürsten, die sie gut für ihre Spielchen gebrauchen konnten, oder zarter gesagt: Gehorsam. Dass dieses von Anfang an natürlich heroisch (Ehe von Thron und Altar) aufgemotzt wurde - - – wer will schon als Batman von Fürsten Gnaden dastehen.
BONUS: Das Gleiche machte Paulus vor: Römer 13,1-2 „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet.“ Diese Unterwerfung, 1500 Jahre vor Luther, hatte das gleiche Konzept: ……wir sind artig und willens euch zu dienen, bitte tut uns nichts…….Wer kann so einer Charmeoffensive schon widerstehen?........In der DDR hieß die Unterwefungsformel: Kirche im Sozialismus. Und damit war nicht die katholische Kirche gemeint.
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Was kann Gehorsam kaufen?
Sie, liebe(r) Herr/Frau Wall.E, schreiben: "Der Preis für die Existenz der Reformation war die Unterwerfung unter die Fürsten". Nein, die Unterwerfung unter die je aktuelle Macht ist nie der Preis für etwas. Das Wesen der Macht besteht darin, die Unterwerfung auf jeden Fall zu fordern. Der Gehorsam ist keine kaufkräftige Währung. Das war im alten Rom und seinen Provinzen nicht anders als bei mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Feudalherren, der verflossenen Zone alias DDR und der voll im Saft stehenden zeitgenössischen demokratischen Macht. Wer nicht auf dem Boden der FDGO steht, kriegt eine aufs Dach. Mögliche Einlassungen, dass sich die tägliche Mitmacherei für den Normalmenschen nicht auszahlt, sondern ihn massiv beschädigt, sind unzulässig.
Ein bemerkenswerter Satz aus dem Artikel: "Um das zu begründen, mussten sie die Bibel selektiv lesen." Das ist der Witz von Thora, Bibel, Koran und sonstigen Heiligen Schriften. Da steht reichlich widersprüchliches Zeugs drin. Ohne das bringt es keine Schrift zu höheren Ehren. Schließlich sollen die Worte Gottes als Berufungsinstanz für Machtangelegenheiten dienen. Gott selber soll ja dem ganzen wirklichen, von widerstreitenden Interessen geprägten Treiben den höheren Sinn und Anstrich verleihen. Da muss schon so ziemlich jeder fündig werden können. Spätrömische Kaiser, Feudalherren, neuzeitliche Herrscher und zugehörige verantwortungsbewusste Demokratieliebhaber wurden und werden es auf jeden Fall.
Thea Schmid
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