Wiesbaden
Der Blick des älteren Herrn wandert durchs Klassenzimmer: von der Lehrerin, die an der Tafel steht und gerade die Begriffe „Staat“ und „Regierung“ an die Tafel schreibt, zum Heft, das vor ihm auf dem Tisch liegt. Mit dem Ende seines Bleistiftes fährt er sich durch seinen grauen Bart. Ganz offensichtlich weiß er nicht, was hier von ihm erwartet wird. Er schreibt die Begriffe von der Tafel ab: Staat, Regierung. Die Lehrerin von der Wiesbadener Akademie für Integration ahnt, wie sich ihr Schüler fühlt. Auch sie kam vor vielen Jahren als Flüchtling nach Deutschland und musste mühsam die Sprache lernen.
Die Akademie gehört zur schiitischen Imam-Hossein-Moschee in Wiesbaden. Sie befindet sich im gleichen modernen Bürohaus. „Zu uns kommen vor allem Afghanen“, sagt Dawood Nazirizadeh. „Die müssen oft sehr lange auf ihren Asylbescheid und damit die Bewilligung des Sprachkurses warten, und bei uns können sie schon einmal anfangen.“ Der 33-jährige Unternehmensberater hat die Akademie für Integration mitbegründet und ist im Vorstand der Moschee.
Viele Muslime sehen es als religiöse Pflicht, anderen zu helfen. Wohl auch deshalb haben sich muslimische Gemeinden in den vergangenen zwei Jahren mehr noch als andere Institutionen um Geflüchtete gekümmert, haben sie aufgenommen, ihnen bei Anträgen geholfen und Deutsch beigebracht. Das hat jedenfalls die Studie „Engagement für Geflüchtete – eine Sache des Glaubens“ der Bertelsmann-Stiftung vom März 2017 ergeben.
Julia Gerlach
„Na ja, wir werden uns wohl daran gewöhnen“, sagt Shokoh Javanbakht, Mutter von Dawood Nazirizadeh. Sie deutet nur an, wo die Konfliktlinien laufen: „Ich fordere die Menschen auf, sich auf das Leben hier einzulassen. Zum Beispiel was die Frauen angeht. Da sehen viele nur, dass Frauen hier frei sind, und schließen daraus, dass sie unanständig seien“, sagt sie. „Aber es gibt ja auch hier Grenzen und Regeln. Der größte Unterschied ist, dass in unseren Ländern die Frauen immer jemand haben, der auf sie aufpasst. Ich fordere die Frauen auf, Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen und etwas daraus zu machen.“
Stuttgart
Zuffenhausen ist typisches Industrieschwaben, schmale Straßen, Kopfsteinpflaster und Geranien. Auf Klingelschildern und Werbetafeln für Restaurants und Autowerkstätten stehen Namen wie Altün, Cem und Attras. Im ersten Stock eines Bürogebäudes hat der Ditib-Regionalverband sein Büro.
Ditib ist der größte der islamischen Verbände in Deutschland. Er unterhält 960 Moscheegemeinden in Deutschland. In vielen ländlichen Regionen gibt es nur Ditib-Moscheen. Und er ist Teil der staatlichen türkischen Religionsbehörde. Im Frühjahr 2017 wurden manche Ditib-Imame verdächtigt, ihre Gläubigen im Dienst der türkischen Regierung zu bespitzeln und die Erkenntnisse nach Ankara zu melden.
Die Regionalverantwortliche für die Betreuung der Flüchtlingshilfe, Aysun
Pekal, hat die Engagierten zweier Ortsgruppen zusammengetrommelt. Sie sollen berichten, was in ihren Gemeinden los ist. „Wir waren in zwei Unterkünften und haben aufgenommen, was die Menschen dort brauchen. Decken, Geschirr und Töpfe. Das haben wir dann gebracht“, sagt eine der Frauen. „Unsere Frauenführerin hat die Wünsche in ihrem großen Buch notiert“, sagt sie. Emine Vural, eine andere ältere Frau mit blaue Kopftuch, nickt und deutet auf eine dicke Kladde vor sich.
Frauen, die nur gebrochen Deutsch sprechen, fordern die Neuen auf, Deutsch zu lernen. Und sie merken plötzlich, wie sehr sie selbst in Stuttgart-Zuffenhausen zu Hause sind. Emine Vural etwa lebt schon seit zwei Jahrzehnten in Deutschland, sie hat ihre Kinder durch die Schule gebracht und immer viel gearbeitet. Deutsch hat sie kaum gelernt. Alles Wichtige sagt sie lieber auf Türkisch. „Wer weiß, wenn das mit der Flüchtlingsarbeit so weitergeht, wird womöglich auch Frau Vural noch einen Deutschkurs machen“, sagt Aysun Pekal und berührt Emine Vural freundschaftlich am Arm.
„Sie kommen im Ramadan, und wir haben für sie abends gekocht“, sagt Aysun Pekal. „Manchmal kommt jemand zum Beten.“ Außer dem Imam spricht in den türkischen Ditib-Moscheen kaum jemand Arabisch, und so fällt die Kommunikation mit den syrischen Geflüchteten schwer. Aysun Pekal betont, ihre Flüchtlingshilfe sei rein materiell ausgerichtet, es gehe nicht um Religion. Das hat einen anderen Hintergrund: Immer wieder kam der Vorwurf auf, auch vom Verfassungsschutz, Moscheegemeinden würden unter den Geflüchteten missionieren. Die Vorwürfe richten sich nicht gegen Ditib-Gemeinden, sondern eher gegen radikalere Vereine, doch die Abwehrhaltung spiegelt die aufgeheizte Stimmung wider.
„Gegenwart geschwisterlich gestalten“, so hat die Ditib ihr Hilfsprojekt für die Neuankömmlinge genannt. Es war das erste muslimische Projekt, das im größeren Stil mit staatlichen Mitteln gefördert wurde. Inzwischen hat das Bundesfamilienministerium weitere fünf Millionen Euro bereitgestellt. Bundesweit sollen 25 00 Patenschaften gestiftet werden. „Es ist schön, dass unsere Arbeit gewürdigt wird“, sagt Aysun Pekal.
Merseburg
Als 2015 die vielen Geflüchteten kamen, blickten die Stadtverantwortlichen der kleinen Stadt Merseburg alle auf Daniel Stahnke. Der sitzt für die SPD im Stadtrat, leitet den Bildungsausschuss. Vor Jahren konvertierte er zum Islam. Können die sich nicht kümmern? „Die“, das ist Stahnkes Moscheeverein, die El-Furkan-Gemeinde.
Das bröckelige Hotel zwischen Merseburger Bahnhof und Dom war einmal eine gute Adresse. Dann verfiel das Gebäude, überhaupt verfielen die Straßen im Zentrum der 36 00-Einwohner-Stadt nahe Leipzig. Im Frühjahr 2016 kaufte ein bosnisch-muslimischer Geschäftsmann, der als Flüchtling in den 90er Jahren nach Sachsen-Anhalt gekommen war, das alte Hotel. Eine Gemeinde entstand, die sich schnell veränderte: Zu den Bosniern kamen erste Geflüchtete aus afrikanischen Ländern, viele Afghanen und dann die Syrer. Die Gemeinde richtete sich mit ihrer Moschee und ihrem Kulturzentrum im Hotel ein. Kurz darauf meldete sich dann die Stadt. Ihr waren unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus Afghanistan zugeteilt worden. Man wusste nicht so recht, wer sich um sie kümmern sollte. Bald darauf zogen sie in die ehemaligen Hotelzimmer, Sozialarbeiter betreuen sie. Viele der afghanischen Jugendlichen verbringen ihre Freizeit in der Moschee und im Kulturzentrum. Sie kommen aus ihren Zimmern raus, treffen sich im Gebetsraum und reden. Oder sie üben vorm Hotel Radfahren.
Die Ankunft der Geflüchteten hat besonders in ostdeutschen Kleinstädten viel verändert: Gab es bis vor fünf Jahren kaum eine Handvoll Muslime in Merseburg, kommen nun freitags mindestens 300 zu den Gebeten. Die verlassenen Innenstädte werden wiederbelebt, Wohnblocks, die bereits im Rückbau waren, wieder bezogen. Vielleicht nehmen die Merseburger auch deshalb die neue muslimische Gemeinde überwiegend positiv auf.
Hamburg
Die Al-Nour-Moschee liegt im Hamburger Bahnhofsviertel: Dönerbuden, Billigshops und Sexkinos. Gerade ist das Mittagsgebet zu Ende. Muskelbepackte Jungs mit finsteren Blicken lungern auf dem Gehweg. Scheich Elsayed? Ja, den kennen sie: „Kommen Sie, wir bringen Sie hin“, sagt einer und geht voran, eine Rampe hinunter in ein Parkhaus. Ein plüschiger Teppichboden, eine reich verzierte Gebetsnische: Das hier ist die Moschee. Der stellvertretende Imam Elsayed Kamal hat sein Büro im ehemaligen Parkwächterhäuschen. Es ist eine arabische Moschee, zu den Gebeten kommen Menschen aus Nahost, dem Maghreb, Schwarzafrika, Afghanistan und sogar aus Indonesien.
An der Wand hinter dem Schreibtisch hängt das Foto der Kapernaum-Kirche. 2012 kaufte die Gemeinde das Gebäude. Die erste Kirche, die in eine Moschee umgewandelt wird. Das schürte die Emotionen, vor allem Empörung.
Umso glücklicher machte es die Gemeinde, als die Lokalpresse im September 2015 eine ganz andere Geschichte erzählen konnte: Die Parkhausmoschee hatte sich in einen großen Schlafsaal für Flüchtlinge verwandelt, die auf der Durchreise nach Skandinavien in Hamburg keinen Anschlusszug bekommen hatten. „Es war eine unglaublich aufregende, sehr anstrengende und sehr emotionsbeladene Zeit“, erinnert sich der Imam.
Heute schlafen keine Flüchtlinge mehr in der Moschee. Doch die Gemeinde ist doppelt so groß geworden. Die Freitagspredigt wird nun zweimal gehalten. Manchmal kommen 2500 Menschen. „Auch an den anderen Tagen haben wir Imame kaum noch eine freie Minute“, sagt Elsayed Kamal. Früher konnte man ihn nach dem Freitagsgebet ansprechen. Heute vergibt er Termine. Geflüchtete bitten um Hilfe bei Anträgen, andere sind traumatisiert und brauchen psychologische Unterstützung. „Viele Familien fallen auseinander, Ehen zerbrechen“, sagt Imam Elsayed. Jugendliche distanzieren sich von ihren Eltern. Frauen merken, dass ihnen in Hamburg ganz viel offensteht, und sie verlassen ihre Männer. Elsayed sagt, er rate ihnen, nicht gleich auseinanderzugehen – auch wegen der Kinder.
Daniel Abdin ist Vorstandsvorsitzender der Moscheegemeinde. Er hat für die Schura, den Rat der Gemeinden in Hamburg, den Staatsvertrag unterzeichnet: „Die Neuankömmlinge sind oft baff, wenn sie sehen, wie selbstverständlich wir mit Vertretern der Christen und Juden umgehen. Es ist uns wichtig, ihnen dieses friedliche Miteinander vorzuleben“, sagt er. Der bundesdeutsche Islam ist anders als der, den die Geflüchteten aus ihren Heimatländern kennen: offener, gesprächsbereiter, vor allem aber die Religion einer Minderheit.
Berlin
Im Sommer 2015, als die Schlangen vor dem LaGeSo in Moabit, dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales, immer länger wurden, wandte sich die Stadt an die benachbarte muslimische Gemeinde: Ob die Wartenden wohl in der nahe gelegenen Moschee unterkommen könnten? Dann kam die Stadtmission, die vor der logistischen Herausforderung stand, mehr als 1000 Geflüchtete im Ramadan auf die Minute genau mit einer warmen Mahlzeit zum Fastenbrechen zu versorgen. Auch sie bat um Hilfe. Die muslimische Gemeinde sagte beide Male zu und packte an. Und weil das alles so gut lief, übernahm die gemeindeeigene gGmbH – einst gegründet, um die Kindertagesstätten zu führen – bald sogar den Betrieb einer großen Wärmehalle.
„Es sind viele neue Türen aufgegangen, Kontakte wurden geknüpft.“ Sagt Imam Abdallah Hajjir. Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck dankte ihm persönlich für sein Engagement. „Ich würde mir wünschen, dass mehr daraus entstehen könnte“, sagt Hajjir. Die Wärmehalle ist längst geschlossen, und viele Ehrenamtliche machen derzeit Pause. Zum einen weil die akute Not vorbei ist. Auch macht sich bei vielen Aktiven der Frust breit. Ist doch in der öffentlichen Wahrnehmung die Anerkennung längst von negativen Berichten über Islam und Muslime verdrängt worden. Und: So mancher ehrenamtliche Helfer hätte sich etwas mehr Dankbarkeit von den Geflüchteten gewünscht. Diese wiederum wollen nicht immer nur Hilfeempfänger sein. Manche unter den Geflüchteten kritisierten ihre Helfer auch: „Wie kann es sein, dass die Muslime hier seit Jahrzehnten am Rande der Gesellschaft leben?“, sagt ein junger Mann aus Syrien, der nur kurz zum Beten in die Moschee in Berlin-Moabit gekommen ist. „Wir werden das anders machen!“
Die Ankunft der vielen Geflüchteten hat die muslimischen Gemeinden in Deutschland weitergebracht. Ihre Sozialarbeit hat sich professionalisiert, ist sichtbarer geworden und bekommt deutlich mehr Anerkennung. Die Gemeinden waren für viele Neuangekommene die ersten Anlaufstationen. Und nicht wenige angestammte Muslime fühlen sich heute der deutschen Gesellschaft näher als zuvor.