Sie stehen an jeder größeren Straßenkreuzung in unserem Stadtteil: junge Venezolaner, die gegen die sozialistische Regierung von Nicolás Maduro protestieren. Sie werfen dem Staatspräsidenten vor, das vor der Pleite stehende Land in eine Diktatur zu führen und fordern Neuwahlen. Wie mittlerweile fast alle Venezolaner sind sie recht dünn, von der andauernden Lebensmittelknappheit gezeichnet. Manche tragen Augenschutz und Helm, andere haben sich die gelb-blau-rote Flagge Venezuelas umgürtet oder ihr Gesicht mit Tüchern verhüllt. Und sie schwenken ihre Banner und erinnern an die Verstorbenen: über 40 Tote in 50 Tagen Straßenprotest.
Spontane Straßensperren, abgeriegelte Autobahnzufahrten, brennende Müllreste auf dem Asphalt, Tränengas und Schlagstöcke – seit Wochen herrscht Ausnahmezustand in Caracas und anderen venezolanischen Städten. Anhänger der Opposition, auch viele Ältere, demonstrieren in Massen. Immer wieder kommt es zu Gewalt zwischen Protestlern und regierungstreuen bewaffneten Gruppen. Bei uns zu Hause und in der Kirche schrecken wir regelmäßig zusammen, wenn wieder die Schüsse der Nationalgarde zu hören sind. Jeder fragt sich, wie lange das so weitergehen wird.
Gemeindeveranstaltungen sind zurzeit kaum möglich, weil wir niemanden in Gefahr bringen wollen. Gottesdienste habe ich aber bisher noch nicht abgesagt. Über Whatsapp-Gruppen machen die Nachrichten schnell die Runde: Straßensperren, geplante Demonstrationswege, Dokumentationen von Übergriffen und Gewalttaten, öffentliche Reaktionen. Und ich erfahre, ob ich meinen Sohn morgen zur Schule schicken kann.
Die Lage ist noch chaotischer und die Situation noch verfahrener als je zuvor. Präsident Maduro hat kürzlich angekündigt, eine kommunale verfassungsgebende Nationalversammlung einzuberufen, um die Verfassung zu reformieren. Die Protestierenden vermuten, dass er die Absicht hat, die Gewaltenteilung zu kippen.
Aussicht auf Beruhigung sehe ich keine. Die Regierung bewegt sich kaum. Es scheint, dass sie auf Zeit spielt und mit der Ermüdung der Proteste rechnet. Aber so wird das Land kaum zur Ruhe kommen.