Vom Hafen der griechischen Insel Chios kann ich hinüber zur türkischen Küste sehen. Es sind nur wenige Kilometer. Von dort kommen die Menschen, die den Gewaltregimen in Syrien oder dem Iran entkommen sind und oft auch in der Türkei Schreckliches erlebt haben. Die Landwege nach Europa sind dicht, so kommen sie übers Meer, nachts, damit die Küstenwache sie nicht entdeckt. Endlich auf Chios, also in der EU angekommen, weinen viele, vor Erschöpfung, Erleichterung, Traurigkeit. Wenn sie bald darauf vom EU-Abkommen mit Ankara erfahren, sind sie schockiert und fassungslos.
Dieses sieht vor, dass alle über die Türkei auf die griechischen Inseln Geflüchteten in die Türkei zurück und dort Asyl beantragen müssen. „Glaubt wirklich irgendjemand“, fragte mich verzweifelt eine Frau aus Syrien, „dass wir uns mit Kindern und Babys zu vierzig in ein Schlauchboot setzen und die lebensgefährliche Überfahrt wagen würden, wenn die Türkei für uns sicher wäre?“
Es gibt eine Anhörung, ein sogenanntes Admissibility Interview, in dem die Geflüchteten darlegen können, warum sie nicht zurück in die Türkei können. Ich bin mit sieben anderen Jurastudenten auf der Insel und biete den Geflüchteten Rechtsberatung an. Dabei bereiten wir sie auch auf diese Anhörung vor. Manche verschweigen aus Angst vor den Behörden ihre Erfahrungen in der Türkei, dabei geht es um genau diese. Immer mehr Medien berichten von Erschießungen an der syrisch-türkischen Grenze, von willkürlichen Verhaftungen, Schlägen, Zurückschiebungen und Diskriminierung.
Sie sollen zurück in die Türkei, wo vorher auf sie geschossen wurde
Die Menschen, mit denen ich hier spreche, bestätigen dies. Ein 18-jähriger Syrer etwa berichtete mir von seiner Flucht. An der syrisch-türkischen Grenze hätten türkische Wachen auf seine Gruppe geschossen. Sein Freund sei getroffen worden und gestorben. Er selbst habe es auf die andere Seite geschafft, wo die Wachen ihn verfolgt und festgenommen hätten. Er sei geschlagen und getreten und wieder zurück nach Syrien gezwungen worden. Eine Chance, Asyl zu beantragen, habe er gar nicht bekommen. Bei einem späteren Versuch habe es geklappt. Nun wartet er auf seine Anhörung.
Nur wer die generelle Vermutung, dass die Türkei ein sicheres Rückführland sei, für seinen individuellen Fall widerlegen kann, kriegt eine Chance, für das richtige Asylverfahren in der EU zu bleiben. Für diese Menschen kommt die nächste Hürde: Im sogenannten Substantive Interview geht es um ihre eigentlichen Fluchtgründe und die Entscheidung, ob sie Asyl bekommen. Auch hier gilt: Wer schlecht vorbereitet ist, hat kaum eine Chance. Diese Informationslücke versuchen wir ein bisschen zu schließen.
Manche harren bis zu einem Jahr auf Chios aus, auch Mütter mit kleinen Babys, alte Menschen, Folteropfer, in einem dreckigen, von Ratten überlaufenen Camp. In Deutschland freut man sich, dass weniger Menschen ankommen. Aus den Augen, aus dem Sinn?