chrismon: In den vergangenen Monaten ist viel passiert: Der Mord in Freiburg, die Attacke auf einen Obdachlosen, die „Nafri“-Debatte. Wird es üblicher, in Zeitungsberichten die Herkunft von Straftätern und Verdächtigen zu nennen?
Lutz Tillmanns: Ja, ich nehme das so wahr. Es ist gesamtgesellschaftlich ein größeres Thema geworden. Nach der Berichterstattung zu den Silvesterübergriffen in Köln vor einem Jahr haben wir gut 20 Beschwerden wegen der Herkunftsnennung von Tätern bekommen. Die haben wir alle als unbegründet bewertet, weil der Sachbezug da war. Aussagen der Polizei, von Zeugen und Opfern über tatverdächtige „Nordafrikaner“ waren eindeutig.
Hat die Zahl der Beschwerden zugenommen?
Nicht wirklich. Wir haben 2016 circa 1830 Beschwerden erhalten. Davon haben sich nur 56 auf Ziffer 12.1 bezogen, den Passus, der die Herkunftsnennung von Tätern und Verdächtigen in der Berichterstattung regelt. Das ist im Verhältnis nicht auffällig mehr als in den Vorjahren.
"Jeden Vorfall individuell bewerten, nicht pauschal"
Vor einem Jahr haben Sie gesagt, der Pressekodex sei nie fertig und „im Licht der Zeiten und der gesellschaftlichen Diskussionen zu sehen“. Muss der Presserat den Passus verändern?
Im März 2016 haben wir nach einer Diskussion mit Experten entschieden, ihn in der jetzigen Form zu belassen. Dennoch nehmen wir auch eine Verunsicherung in den Redaktionen wahr, wie sie mit dieser Richtlinie umgehen sollen. Also wollten wir einen Leitfaden vorlegen. Die Arbeit daran stellte sich allerdings als schwieriger heraus als gedacht. Wir haben die Beschwerden der letzten Jahre und unsere Ergebnisse dazu untersucht. Dabei haben wir gemerkt, dass wir aus den dem Presserat vorgelegten Fällen nicht ohne Weiteres eine Handlungsempfehlung im Sinne einer Best-Practice-Anleitung basteln können. Auch stellen wir fest, dass die Positionen in der Praxis noch sehr streitig sind. Daraus entnehmen wir, dass wir über konkrete Handlungsanleitungen noch intensiver
sprechen müssen.
Obwohl die Zahl der Straftaten von Migranten den Polizeistatistiken zufolge nicht höher ist als bei Deutschen, ist das der Eindruck vieler Bürger. Die Sächsische Zeitung nennt seit vergangenem Juli immer die Herkunft der Täter – auch wenn sie deutsch sind. Bekommt man so ein realistischeres Bild?
Ich halte das für keine gelungene Form. Das Bemühen der Sächsischen Zeitung ist natürlich das gleiche wie das des Presserats: Diskriminierung vermeiden. Aber auch die Polizei berichtet nur über relevante Fälle und nicht immer über jeden. Dadurch kommt bei den Medien ein verzerrtes Bild über Straffälligkeit von Migranten an. Die Methode der Sächsischen Zeitung liefert also trotzdem kein besseres Abbild der Realität. Der Presserat hält die Redaktionen an, jeden Fall individuell zu bewerten und nicht pauschal. Wir versuchen einer Stereotypisierung vorzubeugen.
Wenn die Herkunft eines Täters genannt wird, verlangt der Pressekodex einen „begründbaren Sachbezug“. Ist die Tatsache, dass ein Täter auch Flüchtling ist, ein stärkerer Sachbezug als vor einem Jahr?
Nein. Dass jemand Flüchtling ist, hat keinen „automatischen“ Bezug dazu, ob er Straftaten begeht. Da muss man präziser vorgehen: Hat der Fall mit transnationaler Kriminalität zu tun? Nennt der Täter seine Nationalität selbst als Grund für seine Taten? Erwähnt der Richter die Herkunft explizit? Handelt es sich um einen Fahndungsaufruf, der Hinweise liefern könnte, wohin der Täter will? Das sollte die Redaktion in ihrem Beitrag herausarbeiten.
Im vergangenen Jahr sind Polizeimeldungen aufgetaucht, in denen Täter mit „marokkanischem“ Aussehen gesucht wurden. Diese Bezeichnungen landeten teils ungeprüft in Zeitungen.
So was darf nicht sein. Nur weil etwas in einer Polizeimeldung steht, darf es eine Redaktion nicht eins zu eins veröffentlichen. Es gibt kein „marokkanisches“ Aussehen. Das ist kein Grund für die Herkunftsnennung, sondern ein klassischer Fall von Stereotypisierung. Marokkaner, die nicht betroffen sind, müssen sich dadurch betroffen fühlen. Das ist eine klare Verletzung des Pressekodex.