Der Schlangendrache klatscht in die Hände. Er liegt schon am Boden. Ein Wettergott trampelt ihm auf dem Rücken herum und klatscht ebenfalls – kräftiger als das Ungeheuer. Seine Arme sind noch weiter ausgespannt. „Eine aggressive Szene“, sagt Thomas Staubli, „man muss die Chaosmacht mit ihren eigenen Mitteln bekämpfen, das ist die Botschaft. Gut gegen Böse, da ist jedes Mittel recht. So sehen das die populistischen Parteien heute noch.“
Thomas Staubli lehrt Theologie an der Universität Fribourg in der Schweiz. Er ist Spezialist für die Bilderwelt des Alten Orients, eine längst ausgestorbene Welt. Mit ihm treffen sich nur ein paar Frauen in dem viel zu großen Seminarraum: eine südkoreanische Theologin, zwei Berner Studentinnen der vorderasiatischen Archäologie und eine Assistentin. Der Raum wirkt ziemlich leer. Ein Button an Staublis Jackett fällt sofort ins Auge. „Menschenrechte abschaffen? Nie!“, steht darauf.
Er kann ihre Botschaften lesen
Ein Beamer wirft die Nachzeichnung eines neuassyrischen Bildes an die Wand. Vor etwa 2800 Jahren wurde es in einen kleinen Steinzylinder eingeritzt. Der Stein stammt aus dem Gebiet des heutigen Irak. „Übungen zur Glyptik“ heißt die Veranstaltung. Wer sich hierhin verirrt, sollte wissen, was Glyptik ist. Die Zahl der Spezialisten weltweit ist überschaubar. Glyptik ist Steinschneidekunst. Man schneidet, ritzt, bohrt und schleift Bilder und Zeichen in Gemmen, Amulette und Siegel.
„Die Stimme des Herrn erschallt über den Wassern“, heißt es in Psalm 29, „der Gott der Ehre donnert, der Herr, über großen Wassern... Der Herr hat seinen Thron über der Flut.“ Der klatschende Schlangendrache und der Wettergott, Abdruck eines Rollsiegels, liefern das Bild dazu: Der Wettergott bändigt die zerstörerische Flut; das Wasser soll dem Menschen dienen und ihn nicht bedrohen. Vorstellungen wie diese waren damals über den ganzen Orient verbreitet.
"Wie ein Blick in einen fernen Spiegel"
Schon als Schüler fesselte ihn ein Buch mit antiken orientalischen Figuren. Später, beim Theologiestudium in Fribourg, der nächstgelegenen Fakultät von Bern aus, stieß er auf den Autor dieses Buchs: Othmar Keel. Er wurde sein Professor und Mentor.
„Erst sind uns diese Bilder fremd“, sagt Staubli. „Aber dann sind sie wie ein Blick in einen fernen Spiegel.“ Konstanten werden sichtbar: Wie Menschen Feindbilder pflegen. Wie sie sich über Erträge freuen. Wie sie Außenseiter denunzieren. Wie sie die Liebe beschwören. Und wie Einzelne dann doch über sich hinauswachsen, im Sünder einen Bruder erkennen und in der Fremden eine Schwester. Und die alten Bilder helfen, vieles in der Bibel zu verstehen, was sonst unverständlich bliebe. Zum Beispiel die auf Roll- und Stempelsiegeln. Archäologen fanden unzählige im Nahen Osten: in Gräbern und Ruinen, manche auch auf Märkten und im Antikenhandel.
Jahrtausende waren Siegel das Rückgrat des Handels. Ein Händler schickte ein Gefäß auf Reisen: mit Öl, Myrrhe, Wein. Er band den Deckel zu, presste eine feuchte Tonschicht aufs Verschlussband und rollte das Siegel darüber – oder drückte seinen Stempel drauf. Der Ton trocknete. Das unversehrte Relief zeigte dem Empfänger: Niemand hat die Ware angerührt. Nichts wurde ersetzt, gepanscht oder gestreckt.
Die Namen der zwölf Söhne Jakobs in Onyxstein
"Siegel sind auch für den Handel da“, betont Staubli. „In erster Linie sind sie Amulette.“ Woher er das weiß? „Manche der ältesten fand man in Gräbern von Kindern und Frauen, die vorzeitig an Seuchen oder im Kindbett starben.“ Die Bilder auf den Siegeln zeigen, was die Menschen fürchteten und hofften, was sie wünschten und abwehrten, woran sie glaubten und womit sie spielten.
Die Universität in Fribourg ist ein moderner Bau mit langen Fluren, in denen man sich gut verirren kann. Wer nach dem Weg fragt, weiß erst gar nicht, in welcher Sprache er die Auskunft bekommt. Hier wird auf Französisch und Deutsch unterrichtet. Staublis Büro liegt in einem dieser Gänge: ein schmaler, langgezogener Raum mit Büchern und Zeitschriften bis unter die Decke. Von dort aus führt Staubli den Besucher an den Fakultäten für Sport und Mathematik und an einem Fitnessstudio vorbei – ins Bibel- und Orientmuseum. Es ist sein Werk, 1999 hat er es eingerichtet, Statuetten, Stelen, Stierbilder, Steingottheiten in Schaukästen gestellt, Erklärungstafeln verfasst.
Warum zog Jesus auf einem Esel in Jerusalem ein?
Staubli will das Menschheitserbe an Bildern öffentlich machen. Die Universitätsstadt Fribourg schmückt sich damit. Eine kürzlich geschaffene „Bibel- und Orientdatenbank“ im Internet mit Fotos und Beschreibungen macht die Bilder nun noch besser zugänglich. Staubli will, dass jeder sie sich ansehen kann, egal wo er sich auf der Welt befindet.
Bilder beantworten Fragen, die sich bei der Lektüre des biblischen Textes stellen. Warum zog Jesus auf einem Esel in Jerusalem ein? Antike Darstellungen zeigen, wie die Lasttiere seit der Bronzezeit das Leben erleichterten. Man erkennt Noble auf Eseln, die Treiber und die Zügelhalter begleiten sie. Man begrub Esel sogar in eigenen Gräbern. Esel sind störrisch und daher nicht für den Krieg zu gebrauchen, sie symbolisieren den Frieden. Auch deshalb erwartete der Prophet Sacharja, der Messias werde auf einem Esel einherreiten. Was Jesus dann tat.
Wie wurden die Psalmen aufgeführt? Einige Psalmen enthalten dazu Hinweise: „Nach der Weise der Lotusblumen“, heißt es etwa zu Beginn von Psalm 45. Die Lutherbibel deutscht hier ein und schreibt „Lilien“. „Gemeint sind wohl Trompeten“, sagt Staubli. Im Grab des legendären Pharaos Tutanchamun fanden sich Trompeten, deren hölzerne Trichter als Lotusblumen gestaltet waren.
Mit den Kirchenreformen kam das Engagement für Ökumene
Staubli vermutet, dass man Psalmen in musikalischen Prozessionen aufführte, wie sie auf Bildern überliefert sind. Archäologen fanden auch Reliefs von Musikern in Toranlagen. Die Musik ist Staublis Thema. Als Schüler spielte er Oboe im Jugendorchester. Heute singt er in einer Berner Kantorei, in einem Kammerchor und solistisch im Oktett.
Als Kind kniete er mit seinen Eltern in Andacht vor einem Kreuz, daran kann sich Thomas Staubli noch erinnern. Dann kam das Zweite Vatikanische Konzil. Seine Kirche modernisierte sich. Die Familie kaufte sich einen Fernseher und installierte eine Dusche. Zeitgleich hörten die Andachten auf. „Duschen statt beichten“, so hat Staubli vor vielen Jahren einmal einen Aufsatz für eine akademische Tagung in Bayern überschrieben.
Er wuchs in der Jugendarbeit der katholischen Kirche auf. Mit den Kirchenreformen kam das Engagement für Ökumene mit den Evangelischen und für eine bessere Welt. „Ich verband in meiner Jugend überhaupt nichts Schlechtes mit der katholischen Kirche“, sagt Staubli: keine Hierarchie, keine Denkverbote, schon gar keinen Missbrauch.
Ein abgemagerter und unfrisierter Nomade hält Zügel
Staubli verbrachte ein Studienjahr in Israel. Ihm war klar: Priester wird er nicht. „Zweiklassengesellschaft“ nennt er die Trennung von Priestern und Laien in der katholischen Kirche. „Ich empfinde sie als unbiblisch“, sagt er. Umso mehr faszinierte ihn sein Professor Othmar Keel und wie er die Bilder aus der biblischen Umwelt erklärte. Staubli heiratete. Seine Frau Silvia Schroer, 58, lehrt Altes Testament an der Uni Bern. Die beiden haben mehrere Aufsätze und Bücher gemeinsam geschrieben.
Im Palast von Megiddo im Norden des heutigen Israels fand sich eine Möbelintarsie aus Elfenbein von 1150 vor Christus. Die kunstvolle Schnitzerei zeigt, wie ein kanaanäischer Fürst besiegte Nomaden nackt vorführt und demütigt.
Dem Kampf der Kulturen etwas entgegensetzen
„Das fahrende Volk ist immer am Rand geblieben“, sagt Staubli. „Das hat sich bis heute nicht geändert. Wir gedenken des Völkermords an den Juden, das ist ein wichtiger Teil unserer Kultur. Der Völkermord an den Roma wird dagegen kaum beachtet.“
Womit sich Staubli jetzt gerade beschäftigt? Er will dem verbreiteten Gerede vom Kampf der Kulturen etwas entgegensetzen. Nicht mit einer Kampfschrift oder einem politischen Pamphlet. Staubli schreibt eine wissenschaftliche Abhandlung. Er will es ganz fundiert haben. Das Gebiet, auf dem er seinen Nachweis führt: die Bilderwelt von der syrisch-palästinensischen Landbrücke zwischen Mesopotamien und Ägypten.
Der zentrale Mythos der Bibel, die Geschichte vom Auszug Israels aus Ägypten, erweckt den Eindruck, Israel habe sich von Ägypten abgegrenzt. In Wirklichkeit hätten sich Israels und Ägyptens Kulturen über Jahrtausende vermischt, sagt Staubli. Man tauschte Waren aus und lernte voneinander, man ließ sich von den Ideen anderer anstecken, kopierte Lebensweisheiten – und grenzte sich gerade nicht ab. Staubli will die andere Geschichte der Menschheit erzählen: vom universal Gültigen, von den geteilten Sorgen und Sehnsüchten, von gemeinsamen kulturellen Errungenschaften. Nichts, was er erdichten müsste.
Im Entstehungsprozess der Bibel hatten Scharfmacher die Oberhand
Nein, es ist alles längst da gewesen. Man muss es nur wahrnehmen. Man muss sich vom Blick der Absonderungsideologen befreien, vom Blick der Nationalisten und religiösen Separatisten. Man muss wieder die Dinge sehen, wie sie waren – und nicht, wozu sie die Ideologen erklärt haben.
Die ägyptisch-israelische Ökumene fand auch ihren Niederschlag in der Bibel: Abrahams Erstgeborener stammt von der ägyptischen Sklavin Hagar. Mit seiner Frau Sara zieht er während einer Hungersnot nach Ägypten. Josef macht Karriere unter dem Pharao, weil er einer Hungersnot vorbeugen hilft. Als sein Vater Jakob stirbt, stimmen die Ägypter ein in die Totenklage. Eine ägyptische Prinzessin rettet das Leben des kleinen Mose, der im Schilfkörbchen ausgesetzt ist. Mose heiratet eine Midianiterin und eine Kuschiterin, Frauen aus den Nachbarvölkern, die den Ägyptern ebenfalls eng verbunden waren.
Doch im Entstehungsprozess der Bibel hatten lange Zeit die Scharfmacher die Oberhand. Sie denunzierten Ägypten pauschal als Sklavenhaus. Im 3. Buch Mose 18 unterstellt ein Autor den Ägyptern, sexuell ausschweifend zu sein. Angeblich entblößen sie die Scham ihrer Eltern, Töchter, Schwestern und Tanten und haben Sex mit Tieren.
Im apokryphen Buch der Weisheit Salomos (15,18) wird sogar behauptet, die Ägypter würden die niedrigsten Tiere anbeten, was die größte Dummheit überhaupt sei. Erstaunlicherweise übernimmt dasselbe Buch passagenweise Ideen aus dem ägyptischen Kult um die Göttinnen Isis und Maat, um das Verhältnis von Gottheit und Weisheit zu beschreiben.
Wie gut, dass die Bilder noch da sind
Abgrenzungsrhetorik schaffe eine engstirnige nationalreligiöse Ideologie, klagt Staubli. Wie gut, dass die Bibel eines gleich zu Beginn klarstellt: Alle Menschen stammen aus derselben Familie. Sie sind alle Geschwister. Wie gut, dass noch die Bilder aus dem alten Orient da sind. Sie erinnern an den geistigen und materiellen Reichtum, den Israel dem intensiven Austausch mit seinen Nachbarn verdankt.
Um fünf steigt Staubli in den Zug nach Bern. Von der Uni ist es nicht weit zum Bahnhof. Am Wochenende wird er wieder mit seinem Oktett singen. Er freut sich darauf. Musik verbindet.