chrismon: Wo sind Sie zu Hause?
Anna Thalbach: Mein Zuhause ist mein kleiner Schlag, mein rechtsfreier Raum, meine Wohnung. Mit meinem Bett, meinen Büchern, meinen Bildern an der Wand, Tassen und Düften.
Und was ist Heimat?
Thalbach: Das kann ich schwer benennen, weil sich gerade alles auflöst! Mein Berlin ist nicht mehr da. Ich wohne in Berlin-Mitte nahe bei der Zionskirche. Wenn ich dort heute mit meinen Hunden vorbeigehe, denke ich an die Leute, die damals davorstanden und für den Fall der Mauer gekämpft haben. Von denen wohnt niemand mehr da. Es treibt mich immer wieder in einen Konflikt. Auch in der Bronx haben jetzt Banker ihre Lofts und Greenwich Village ist kein Künstlerviertel mehr. Alles ist vergänglich. Das gilt offenbar auch für eine Kultur und einen Kiez. Trotzdem kriege ich die Krise, weil hier keiner mehr berlinert. So wie ich Berlin als Kind und Jugendliche erlebte, vor dem Fall der Mauer, hatte es etwas von Understatement. Das ist weg.
Kirsten Fehrs: Diese Wahrnehmung von Heimat ist immer mit Sehnsucht verbunden. Heimat ist, was ich suche. Meine Heimat sind meine Beziehungen zu Menschen, die mich herausfordern, die mich lieben. Wenn ich Dithmarschen besuche, wo ich herkomme, fühle ich Heimat als Erinnerung. Ich wurde in die Deichlandschaft hineingeboren. Das ist eine ganz tiefe Verbundenheit, angefangen bei den Gerüchen: das Meer, das Getreide, wenn es getrocknet wird. Aber im Laufe meines Lebens hat sich dieses Zugehörigkeitsgefühl verändert. Jetzt bin ich in Hamburg zu Hause.
Thalbach: Wenn ich Schminke rieche oder Puder, fühle ich mich auch zu Hause, denn das kenne ich mein Leben lang. Meine Mutter hat mich schon als Säugling mit ins Theater genommen.
Das klingt, als hätte Heimat viel mit Gewohnheit zu tun, mit dem, was einen als Kind geprägt hat.
Thalbach: Da fängt ja Heimat an: Wo du herkommst, wo du anfängst, zu sehen, zu hören, zu gehen und zu sprechen – alles, was du brauchst, um die Welt irgendwie zu verstehen.
In der Geschichte größerer Städte war der ständige Wechsel Realität – Hamburg, die Hafenstadt, Berlin mit verschiedenen Kiezen, die mal westdeutsch, mal ostdeutsch oder türkisch geprägt waren. Was ist es, das verbindet?
Thalbach: Kommunikation ist ein wichtiger Schlüssel. Wenn man Menschen vor vollendete Tatsachen stellt, werden sie ungemütlich. Wenn man überrannt wird, ob von neuen, solventen Mietern oder Armeen, ist zunächst Kommunikation gar nicht möglich: Das sorgt für Konfliktpotenzial und Unverständnis.
Fehrs: In Hamburg kommen bei 1,8 Millionen Einwohnern mehr als 60 Prozent von außerhalb. Das ist derzeit durch die Flüchtlinge besonders augenfällig. Ich erlebe Kulturorte als neue Startpunkte von Kommunikation. Die Kunsthalle hat zum Beispiel nach der Neueröffnung einen Monat lang keinen Eintritt gekostet.
Gruppen mit Geflüchteten, Migranten und Einheimischen sind dorthin gegangen. Der Raum war erfüllt von Sprachenvielfalt und Lebendigkeit – Menschen aller Couleur im Dialog mit der Kunst. Diese Orte sind für mich Heimat, weil sie sie auch infrage stellen. Ich würde mich langweilen, wenn alles immer gleichbliebe.
"Wir haben uns selbst wieder gefragt: War da nicht irgendwas mit Maria und Josef?"
Was ist das Fremde für Sie?
Thalbach: Für mich ist das Böse fremd. Irgendjemand hat mal in den Raum gestellt, das Böse sei natürlich und das Gute unnatürlich. Aber mir als liebendem, neugierigem Menschen ist das fremd.
Fehrs: Ein toller Satz. Das gezielt zerstörerische Böse erschüttert uns alle im Moment. In Jordanien konnte ich mit einer armenischen Christin und deren Familie sprechen. Sie waren eine Zeit lang in IS-Gefangenschaft. Die Mutter und die Kinder mussten ansehen, wie andere gequält wurden. Wenn man ihnen in die Augen schaute, war zu spüren, dass die nicht mehr bei sich zu Hause waren. Das war schrecklich. Heimat ist dagegen Sehnsuchtsort. Ein wichtiges Thema also, weil wir zunehmend mit Menschen zu tun haben, die Schreckliches erlebt haben und die einen Ort suchen, um wieder bei sich anzukommen.
Es gibt in Deutschland Menschen, die Angst vor dem Fremden haben. Und Leute, die heimatlos auf dem Weg hierher sind. Was können wir tun, um die einen wie die anderen zu beheimaten?
Thalbach: Natürlich fängt es mit der Sprache an, so früh wie möglich. Die ist der Schlüssel zu fast allem. Um Unberechenbarkeit einzudämmen, musst du die Türen eben aufmachen.
Da muss man die eigene Angst vor dem Fremden überwinden.
Thalbach: Natürlich. Als Teenager habe ich mich in Berlin auch mit den Türken-Jungs auseinandersetzen und mich gegen ihre Sprüche wehren müssen. Dass ich kein Kopftuch trage, gibt mich nicht zum Abschuss frei. Wie in einer Ehe oder Freundschaft ist das ein Geben und Nehmen: Man muss sich kennen- lernen. Und dass man sich mal nicht versteht, heißt ja nichts Grundsätzliches.
Fehrs: Begegnungen verändern alle. Die anfängliche Verunsicherung fragt: Kann ich einen Weg finden, um mich mit jemandem zu verständigen, der meine Sprache nicht spricht? Wir kennen viele Iranerinnen und Afghanen, die Religion als Drangsal erlebt haben und ihren muslimischen Glauben deshalb nicht verinnerlichen konnten. Viele haben sich in unseren Gemeinden taufen lassen. Nach langen Gesprächen. Diese Gespräche haben auch die Gemeinden verändert. Wir haben uns selber wieder gefragt: Wie war das mit Maria und Josef? Die eigenen Traditionen werden wieder lebendig, weil man die beiden auf Herbergssuche, auf der Flucht nach Ägypten wahrhaftig vor sich sieht.
Tauschen Sie sich innerhalb der Gemeinden darüber aus?
Fehrs: Was glauben Sie, was da los ist? Wenn in Gemeinden in Hamburg auf einmal Lesungen in Farsi gehalten werden und das Evangelium auf Plattdeutsch: Da geschieht interkulturelle Öffnung. Schlicht weil es nicht anders geht. Sonst versteht man sich ja nicht. Und das funktioniert.
Thalbach: Das ist bestimmt lustig.
Fehrs: Ich erlebe das im Moment als neue Frage an die eigene Heimat. Gerade jetzt zeigt sich diese an vielen Stellen noch mal neu: Sie öffnet sich. Medial wird viel auf das Thema Angst gesetzt. Aber ich erlebe viele Menschen, die sich im Aufbruch befinden.
Thalbach: In einem Bericht habe ich gelesen, dass ängstliche Menschen mehr konsumieren, dass ein kapitalistisches System also ein Interesse an einer verängstigten Gesellschaft hat.
Fehrs: Ein interessanter Gedanke. Ich bin dennoch überrascht, wie sich die Offenheit erhalten hat, wie die Hiesigen nach wie vor auf die Angekommenen zugehen. Das hätte sich nach Köln drastisch ändern können.
Aber das hat es doch!
Fehrs: Es gibt deutliche Anfragen. Und die Ängste werden nochmal anders artikuliert. Aber ich habe nicht erlebt, dass daraus Repression oder Aggression entsteht. Eher, dass man sich noch mal neu begegnen will und fragt: Ist es wirklich so?
"Heimat hat auch mit Freiheit zu tun"
Der Begriff Heimat galt bei der jungen Generation lang als „out“, verstaubt. Derzeit hängen sich die Jüngeren an dem Begriff nicht sonderlich auf. Sie sind eine Rucksackgeneration, die viel unterwegs ist, „in der Welt zu Hause“. Ist Heimat eine Illusion?
Fehrs: Der fremde Ort kann Heimat werden. Das Unattraktive an Heimat spielten einst Sonja Ziemann und Rudolf Prack vor der Bergkulisse: Und alles weint und ist voller Sehnsucht! Das ist die Empfindung von Heimatvertriebenen, die sich wünschen, dass es so wird, wie es mal war. Ein Sehnsuchtsland, das es nicht mehr gibt. Mit dem Rucksack unterwegs zu sein ist mir viel näher. Denn da packe ich meine Fragen, meine Träume ein. Wir sind in einer sehr mobilen Welt, die mich neugierig macht.
Thalbach: Aber dann hat man in seinem Rucksack – bestimmt – den ein- oder anderen Gegenstand...
Thalbach und Fehrs: ...den man unbedingt von zu Hause mitnehmen muss.
Thalbach: Sonst fühlt man sich nicht zu Hause.
Fehrs: Was ist das bei Ihnen?
Thalbach: Ich habe immer mein Kissen dabei, egal, wo ich hinfahre – meine Heimat im Rucksack.
Fehrs: Ich habe neben der Bibel immer ein Buch dabei, das Freunde für mich geschrieben und gemalt haben.
Frau Thalbach, Ihre Familie ist sehr mobil. Sie sind damit aufgewachsen, dass Ihre Eltern viel unterwegs waren, Ihre Tochter hat das auch erlebt. Wie haben Sie ihr eine Heimat gegeben?
Thalbach: Ich habe meiner Tochter so früh wie möglich beigebracht, dass ich immer wiederkomme. Das war das Wichtigste. So war es für Nellie nie ein Problem. Das ist eine Vertrauenssache, die man mit einem Kind wirklich klären muss. Du kannst es nicht einfach zu Hause lassen und es weiß nicht, wann du wiederkommst. Das größte Geschenk an jemanden, den man liebt, ist doch, dass er sich nicht um dich sorgen muss, dass er jederzeit unbesorgt gehen kann. In unserer Familie hat das über die Generationen hinweg funktioniert. Nellie ist auch Rucksacktouristin. Mit 16 ist sie auf einem Schiff über den Atlantik gesegelt, weit weg. So was hätte ich mich nie getraut. Heimat hat auch mit Freiheit zu tun.
Fehrs: Im religiösen Zusammenhang könnte ich es nicht schöner formulieren. Wir bezeichnen das als Segen „Geliebt in die Freiheit“.
Der Soziologe Peter Berger hat sich mit dem Unbehagen der Modernität beschäftigt. Er sagt, dass es neben der sozialen auch eine metaphysische Heimatlosigkeit gebe, die gerade die Kirchen und Religionen träfe.
Fehrs: Die Menschen sind viel stärker in religiösen Themen unterwegs, als wir Kirchenleute manchmal denken. Viele erkennen nur nicht mehr, dass unsere Religion das meint, was sie empfinden. Sie verstehen unsere Worte nicht. Ihre Sprache ist eine andere. Um diese Menschen zu erreichen, sollten wir ihre Sprache lernen. In Hamburg ist die Vielsprachigkeit alltäglich. Es ist unsere Aufgabe, uns in Menschen einzufühlen und ihnen von Liebe, Glaube und Hoffnung so zu erzählen, dass sie in unserer Tradition wieder zu Hause sein können.
Thalbach: Da ist auch viel Misstrauen, ein Stück weit verständlich.
Fehrs: Die Frage ist, wie ich in die Begegnung hineingehe. Ich finde eines der schönsten Bibelworte: „Wir sind nicht Herren des Glaubens, sondern Gehilfen der Freude.“
"Künstlerisches Handeln und Denken setzt sich mit der Heimat auseinander"
Welche Rolle hat das Feiern als ein Stück Heimat?
Thalbach: Feiern ist beim Film und am Theater üblich. Beim Film gibt es das Bergfest zur Halbzeit und das Abschlussfest. Diese Feiern dienen schlicht der Teambildung. Freundschaft, Gemeinschaft und Vertrauen entstehen durch gemeinsam Erlebtes.
Fehrs: ...und dessen Würdigung. Die Feier ist ja die Würdigung, dass etwas gut war – oder wird.
Thalbach: Ich kann besser liefern, wenn ich mich wohlfühle. Dazu sind Feiern notwendig: einander kennenlernen, das Vollbrachte, die Schöpfung sozusagen, zelebrieren. Einen Schlusspunkt setzen und Raum für Neues schaffen.
Fehrs: Eine meiner Aufgaben ist es, jeden Sonntag ein- bis zwei- mal hochgradig zu feiern. Mit Liturgie, Orgelmusik, Chor und Menschen, die etwas bedenken, bejubeln, betrauern. Viele – denen Kirche fremd ist, die dort also keine Heimat haben – gehen rein und mit Fragezeichen wieder raus. Heimat entsteht erst in innigen Momenten. Wenn die Anwesenden beim Segen empfinden: Da passiert was in mir. Wenn ein Gottesdienst Inszenierung bleibt, dann deshalb: Die Worte sind zu hören, der Geist ist aber nicht zu spüren.
Gibt es auch innerhalb Ihres kirchlichen Gebietes, Frau Fehrs, lokale Unterschiede? Es erstreckt sich ja von Sylt über Hamburg hinaus...
Fehrs: Innerhalb der Nordkirche haben wir viele Kulturen. Eine spannende Verbindung zwischen Ost und West, zwischen Metropole und ländlicher Region. Das sind Prägungen, die ganz tief sind. Wir aus dem ehemaligen Westen können von der Perspektive derer lernen, die zu DDR-Zeiten in Mecklenburg und Pommern im Krisenmodus zu leben hatten. Sie standen mit ihrer Kirche für etwas, was Staat und Partei nicht wollten, mussten viel ertragen, mit Klugheit und Charakter staatlicher Repression widerstehen. Wir lernen voneinander und entdecken dabei viel Gemeinsames.
Frau Thalbach, können Sie sich an Ihren Umzug von Ost- nach Westberlin erinnern?
Thalbach: Nein. Ich war vier, fünf Jahre alt. Aber die Entheimatung meiner Eltern war immer Thema. Meinen Vater hat es eher betroffen, aber der wollte eigentlich nicht weg. Meine Mutter ist dann mitgegangen. Für viele Westdeutsche ist es schwer zu verstehen, dass viele Menschen nicht aus der DDR wegwollten. Es liegt in der Natur des Künstlers, dass dessen Haltung immer mit Kritik und Infragestellung der Widersprüche in einer Gesellschaft einhergeht. Künstlerisches Handeln und Denken setzt sich so mit Heimat auseinander. Das eint auch alle Künstler in Syrien und wo es sonst gerade kracht: Die wollen da bleiben und versuchen, wieder eine Möglichkeit der Existenz und Fläche der Reflektion zu finden.
Fehrs: So ist es.
Thalbach: Das ging meinem Vater massiv so. Meine Eltern haben gekämpft, um Tagesbesuche machen zu dürfen. Ich habe ironischerweise 1989 meinen DDR-Pass gekriegt, wenige Monate bevor sie sich aufgelöst hat. Das war meiner Mutter irrsinnig wichtig. Sie sagte: Da bist du geboren, da kommst du her, ich möchte, dass du das beweisen kannst.
Fehrs: Bei einer Taufe von 13 Geflüchteten habe ich erlebt, wie das Christentum Heimat für sie geworden ist. Männer und Frauen, alle festlich gekleidet. Am Tag drauf habe ich sie gefragt, was sie gefühlt haben. Da sagt der erste: „Freiheit. Seit langem zum ersten Mal, dass Religion nicht mit Drangsal verbunden ist, sondern dass mein Leben ein neues sein kann.“ Seine Frau sagt: „Aber es ist auch ein schmerzhafter Weg gewesen. Das war der Verlust unserer Heimat. Diese Gemeinde ist unsere neue.“ Die dritte sagt: „Ich habe meine Würde wiedererlangt.“ Und der vierte: „Ich habe meine Angst verloren.“ So denke ich: Wir müssen miteinander reden, dann kommen wir beieinander an.
Der Zweck heiligt die Mittel
Oder: was sich eine Bischöfin so alles einfallen lässt.
Nicht immer hat chrismon mit seinen Beiträgen zu aktuellen Fragestellungen eine glückliche Hand, bei dem Gespräch mit der Schauspielerin Anna Thalbach und Kirsten Fehrs, der Bischöfin der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, über das Thema Heimat eher nicht. Sicher ist es Aufsehen erregend, wenn „in Gemeinden in Hamburg auf einmal Lesungen in Farsi gehalten werden und das Evangelium auf Plattdeutsch“. Ob da „interkulturelle Öffnung“ geschieht, oder nur das Exotische auf positiven Widerhall stößt, müsste genauer geprüft werden; aber sei‘s drum!
Auf einer ganz anderen Ebene liegt die Mitteilung: „Wir haben uns selber wieder
gefragt: Wie war das mit Maria und Josef? Die eigenen Traditionen werden wieder lebendig, weil man die beiden auf Herbergssuche, auf der Flucht nach Ägypten wahrhaftig vor sich sieht.“ Dies ist kein Werbeslogan eines Vereins zur Pflege der Volkstumskunde, sondern die ernst gemeinte Aussage einer evangelischen Bischöfin. Wie gut kennt sie eigentlich ihre Bibel?
Aus vielfältigen Krippenspielen ist das Motiv der „Herbergssuche“ bekannt; kein Wunder, lässt es sich doch phantasievoll szenisch ausmalen und gestalten, mit einer frierend dahin schlürfenden Maria und einem polternden Wirt. Da können auch Laienspieler im Konfirmandenalter ihre ganze schauspielerische Phantasie so richtig austoben.
Aber was hat dies mit den biblischen Weihnachtserzählungen zu tun? Mit dem Matthäusevangelium sowieso nichts; denn dort wohnen Jesu Eltern in Bethlehem, müssen also gar nicht auf Herbergssuche gehen. Nach Nazareth ziehen sie erst, als sie von Ägypten, wohin sie vor den Nachstellungen des Königs Herodes ausgewichen sind, wieder zurückkehren, aber wegen der Gewaltherrschaft seines Sohnes Archälaus sich nicht mehr in ihre Heimat getrauen, sondern sich in Nazareth in Galiläa niederlassen.
Lukas folgt einer anderen Tradition, nach der die Familie bereits vor Jesu Geburt in Nazareth wohnte, aber wegen eine von Kaiser Augustus angeordneten Volkszählung sich im Herkunftsort der Vorfahren des Mannes melden mussten, wo es zur überraschenden Geburt des Kindes kam. Für solche kurzzeitigen Übernachtungen standen vielerorts Karawansereien zur Verfügung; eine Geburtsstation gab es allerdings nicht, so wurde das Neugeborene kurzerhand in eine Futterkrippe gelegt, in der sich üblicherweise das Heu für die Tiere durchziehender Karawanen befanden. Vielleicht war es auch – der Bethlehemer Ortstradition entsprechend – eine Höhle, in der die Hirten nachts ihre Herden zum Schutz gegen Raubtiere und Räuberbanden unterbrachten. Von einer Herbergssuche und einem polternden Gastwirt weiß die biblische Erzählung dagegen nichts.
Schon gar nicht entspricht es biblischer Tradition, dass ein Flüchtlingskind aus
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Platzmangel in eine Futterkrippe gelegt werden muss. Da muss man schon Bischöfin sein, um auf einen solchen Gedanken zu kommen – oder den Unterschied zwischen Bibel und Krippenspiel nicht kennen.
Wenn man schon Empathie erzeugen und erlebbar machen will, warum dann nicht an den zum Sterben unter einem Wüstenstrauch abgelegten Ismael erinnern?
Er war in der Tat der Sohn einer Vertriebenen, Ausgewiesenen – einer Afrikanerin! Das passt also! Aber nein, er war ja kein Christ, keine Person, mit der man sich identifizieren kann! Passt also nicht!
So lesen wir unsere Bibel. Ist uns das eigentlich bewusst, wie selektiv einerseits und kombinationsfreudig andererseits wir mit ihr umgehen? Wozu brauchen wir sie dann eigentlich noch die Bibel, wenn wir uns unsere Grundlagentexte selbst schreiben können? Oder heiligt einfach der Zweck die Mittel?
Dr. Hans Maaß,
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