Herr Rudolf Kautz, Deutschland, BW, Stuttgart
Yvonne Seidel
Schachspielen hat ihn gerettet
Er war Trinker. Aber viele Züge im Voraus zu berechnen, das geht nur nüchtern
26.08.2015

Rudolf Kautz, 56:

Ich bedanke mich bei allen Menschen, die mit mir Schach gespielt haben in den Fußgängerzonen Deutschlands! Sie haben ge­holfen, dass ich den Mut nicht verlor und jetzt sogar eine normale menschliche Wohnung habe, eine Sozialwohnung in Stuttgart. 13 Jahre war ich wohnsitzlos, reiste von Stadt zu Stadt.

Ich schlief in Grünanlagen oder Bahnhofsunterführungen, und morgens stellte ich in der Fußgängerzone zwei Hocker hin, einen Karton als Tisch und ein Pappschild. Da stand drauf: „Liebe Leute! Wer spielt mit mir eine Runde Schach?“ Ich habe nie um Geld gespielt, aber ich bat die Spielpartner um eine Spende.

Das Schachspielen hatte ich im Krankenhaus gelernt, in Kasachstan. Ich war dort Fernmeldetechniker. 1992 hatte ich einen schweren Arbeitsunfall und verlor ein Auge. In meinem Zimmer war ein Patient, der hatte ein Magnet-Schachspiel dabei. Er brachte mir die Regeln und die wichtigsten Grundzüge bei. Von da an faszinierte mich das Schachspiel. Aber ich habe nie in einem Verein gespielt. In Kasachstan musst du viel bezahlen, um Mitglied in einem Schachclub zu werden.

Als Spätaussiedler zogen meine Frau und ich mit unseren ­ vier Kindern 1995 nach Deutschland. Meine beiden Großväter stammen aus dem Schwabenland. Ich war damals 36 Jahre alt. Aber ich fand mit meiner Ausbildung und mit meiner Behinderung keine Arbeit in Deutschland. Irgendwann lernte ich Alkoholiker kennen und fing an zu trinken. Der Kontakt zu meiner Familie brach ab. Sie wollte mit mir nichts mehr zu tun haben.

Ich landete auf der Straße. Vier Jahre lang habe ich getrunken. Die schlimmste Zeit meines Lebens. Ich wollte da raus. Das Schach­spielen hat mir das Leben gerettet. Denn als Trinker kannst du nicht Schach spielen. Dazu muss man nüchtern sein.

Seit ich trocken bin, spiele ich öffentlich Schach, zum Beispiel in Köln, Düsseldorf, Mainz und in ein paar anderen Städten. Manchmal bis zu 15 Partien an einem Tag. Dabei lerne ich viele Menschen kennen. Manche kommen regelmäßig zu mir, wenn sie wissen, dass ich wieder in ihrer Stadt bin. Es sind viele junge Leute darunter, Schüler und Studenten. Sie nehmen sich mehr Zeit als ältere Menschen. Und wir lernen voneinander.

Wenn ein Mensch sich hinsetzt, um Schach zu spielen, ist das seine Entscheidung. Ich sage nicht, dass ich schlecht spiele. Aber es gibt immer einen besseren Spieler. Und es gibt keinen, der keinen Fehler macht. So wie im Leben.

Das Leben auf der Straße ist schwer. In Stuttgart hatte ich ­sieben Jahre lang in einer Unterführung des Bahnhofs gelebt, mit Schlafsack, Schachspiel und allen meinen Sachen, aber voriges Jahr musste ich gehen: Das Wachpersonal der Bahn sagte, die ­Haltestellen der Bahn seien nur dazu da, dass die Fahrgäste auf die Bahn warten oder Besucher abholen. Na ja, das ist jetzt vorbei. Ein Freund riet mir, einen Antrag auf eine Sozialwohnung zu stellen. Und der Antrag ist tatsächlich bewilligt worden.

Jetzt habe ich die Schlüssel für eine Wohnung, meine Wohnung, und sogar einen Briefkastenschlüssel. Ich kann es kaum fassen. Ich kann jetzt wie ein Mensch duschen und mich mit heißem Wasser rasieren. Das Geld für Waschmaschine und ­Kühlschrank habe ich als „einmalige Hilfe“ bekommen. Und es sind nur vier Bushaltestellen bis zur Universität. Die Universität ist für mich wichtig, weil dort viele junge Menschen sind.

Die Mitspieler erzählen wenig von sich. Für sie ist es eine Abwechslung nach der Vorlesung oder vor dem Ausgehen. Sie kommen bei mir vorbei, weil sie wissen, dass ich Zeit habe für ein Spiel. Und es ist gut für meine Psyche. Ich bin unter Menschen und tausche mich mit ihnen aus. Es ist das Beste, was ich machen kann. Auch in der Königstraße darf ich inzwischen spielen, mitten in der Stuttgarter Fußgängerzone. Das hat mir die Stadtverwaltung jetzt offiziell erlaubt.

Mit dem Schachspielen mache ich weiter. Denn ich bin immer noch auf Spenden angewiesen. Die kleine Rente reicht nicht zum Leben. Und ich will meine Familie ja auch ein wenig unterstützen. Demnächst fahre ich nach Madrid zu einem Turnier. Die Teil­nahme hat ein Freund vermittelt. Ich bin ein reisender Schachspieler – mehr nicht.

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