Bettler vor der Heilig-Geist-Kirche in der Altstadt in München.
Bettler vor der Heilig-Geist-Kirche in der Altstadt in München.
Foto: mck/epd-bild -
Die evangelische Kirche pocht auf eine menschliche Arbeitswelt
Portrait Eduard KoppLena Uphoff
27.04.2015

Diese Entwicklung war vor zehn Jahren noch nicht absehbar: Dreißig Prozent aller Arbeitnehmer sind heute in Jobs, die es ihnen schwer oder unmöglich machen, von ihrem Einkommen zu leben und ihr Leben (und ihren Lebensabend) vernünftig zu planen. Warum? Sie sind geringfügig oder teilzeitbeschäftigt, sie stecken in „Midi-Jobs“, sind Leiharbeiter oder haben Zeitverträge. „Atypisch“ nennt man diese Jobs, und so tut es auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Solche Jobs sind, wie die Kirche in ihrer neuen Denkschrift schreibt, nur zu rechtfertigen, wenn sie eine Brücke schlagen in eine gesicherte Anstellung oder überhaupt heraus aus der Arbeitslosigkeit. Die Realität ist eine andere: Der Ausnahme- wird zum Dauerzustand. Geringe Einkünfte und unsichere Perspektiven begleiten die Menschen viele Jahre. Und nicht selten bis ins Alter.

„Solidarität“? „Selbstbestimmung“? Davon können sie nur träumen. Die evangelische Kirche überprüft in ihrer Schrift die Arbeitswelt genau unter diesen zwei Perspektiven. Sie fragt: Wie steht es um den Zusammenhalt der Gesellschaft und wie weit ist diese Arbeit selbstbestimmt? Zugespitzt gefragt: Sorgen sich Menschen noch um andere? Kommen in diesem Wirtschaftssystem die Menschen noch zu ihrem Recht? Oder herrschen Egoismus und Selbstentfremdung? Der EKD geht es nicht um rasche Momentaufnahmen zu aktuellen Problemen geht. Sie stellt Fragen zu den großen Trends. Es spricht für die evangelische Kirche, dass sie so gründlich ansetzt. So werden etliche Fehlentwicklungen umso deutlicher.

Viele verdienen deutlich zu wenig

Ja, es gibt Grund zur Sorge. Der soziale Zusammenhalt zeigt deutliche Brüche, und viele Menschen werden in ihrer Arbeit missbraucht. Widersprüche kennzeichnen zunehmend die Arbeitswelt: Die Agenda 2010 hat viele Menschen in Lohn und Brot gebracht, aber etliche von ihnen verdienen deutlich zu wenig. Die digitale Vernetzung erlaubt Kommunikation rund um die Welt, aber sie dringt eben auch bis in das intimste Privatleben ein. Der Wohlstand insgesamt steigt, aber Einkommen und Vermögen sind ungerechter verteilt als je zuvor. Die Autoren der Denkschrift kämpfen für mehr Gerechtigkeit – für das, was sie „eine Gesellschaft gerechter Teilhabe“ nennen (S. 14).

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Die evangelische Kirche weist besonders auf die Probleme hin, die im Bereich der „personennahen Dienstleistungen“ bestehen. Dazu zählt sie neben dem Dienstleistungsgewerbe besonders die vielen sozialen Tätigkeiten – von der Erziehung über die Betreuung bis zur Pflege. Hier ist ihr Urteil vernichtend: Es fehle an einer verlässlichen Infrastruktur, an einer angemessenen Bezahlung, an gewerkschaftlicher Organisation. Auch dass es viel Schwarzarbeit gebe, kritisiert die Kirche – zugunsten der Arbeitskräfte.

Die Kirche spricht auch von einer Reihe gemeinsamer Aufgaben mit den Gewerkschaften. Beiden Institutionen geht es darum, zugleich für eine Wertebasis in der Gesellschaft zu kämpfen – ein „Gemeinschaftsethos“ – und für die Befriedigung individueller Bedürfnisse der Arbeitnehmer. Der Kirche kann es nicht reichen, dass die Arbeitnehmer nur als Rädchen im Wirtschaftsgetriebe gelten. In Anlehnung an einen viel zitierten Satz aus der Migrationsgeschichte kann man sagen: Wir suchten Arbeitnehmer, es kamen Menschen.

Jeder Mensch soll selbstbestimmt leben können

Nicht nur im Inhalt, sondern auch im Ton gibt sich diese Denkschrift verbindlich und vermeidet jede Radikalkritik wirtschaftlicher Missstände. Das Wort "Kapitalismus" taucht nur zwei Mal auf - rein im historischen Zuisammenhang, "Monopole" gibt es gar nicht, die "Ausbeutung" - zwei Mal im Text - ist ebenfalls ein historisches Phänomen. Auch dies ein versöhnlicher Brückenschlag Richtung Unternehmen – aber vielleicht auch eine entgangene Möglichkeit, links-protestantische Milieus einzubinden. Aber das war vielleicht auch gar nicht die Absicht der Kirche. Es ist einer Kerngedanken der Denkschrift, dabei zu helfen,  "Elemente einer kommunikativen Arbeitsmoral" zu entwickeln, wie Heinrich Bedford-Strohm, der EKD-Ratsvorsitzende, bei der Vorstellung der Schrift in Frankfurt am Main betonte. Es gehe um die Kooperation aller Beteiligten, um entschlossene Offenheit für neue Probleme, um die Bereitschaft zur Kreativität. Warum? "Damit alle in dieser Arbeitswelt ihr Recht bekommen. Niemand soll auf der Strecke bleiben", so Bedford-Strohm. Eine Wirtschaft, bei der alle kooperieren, wächst über das reine Geldverdienen und die Gewinnmaximierung hinaus. "Das nutzt den Arbeitnehmern wie den Unternehmen", so Bedford-Strohm. Und der Sinn der Arbeit trete wieder in der Vordergrund: der Dienst an der Gemeinschaft.

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Das Wort „gerechte Teilhabe“ lässt erst gar nicht das Missverständnis aufkommen, es gehe darum, Vermögen gerecht oder gar gleichmäßig zu verteilen, sondern es betont: Jede und jeder soll in dieser Gesellschaft mitmachen, seinen Platz finden können. Das Ziel sei, dass „jeder Mensch in Freiheit selbstbestimmt leben kann und in die Gesellschaft integriert ist“ (S. 135). Diese Formulierung ist hinreichend sozialkritisch, aber auch weit davon entfernt, revolutionäres Pathos zu beflügeln.

Etwas mehr Schärfe wäre angemessen

Haben die Autoren der Denkschrift ausreichend im Blick, wie sehr sich die Arbeitswelt international verschoben hat – Stichwort Globalisierung? Das kann man bestätigen. Wird das Prekariat, das sich in Europa massiv entwickelt, klar benannt und kritisiert? Da wäre – siehe die hohe Jugendarbeitslosigkeit in südeuropäischen Ländern – durchaus noch mehr Schärfe angemessen. Gibt es kritische Anmerkungen zum Ungleichgewicht zwischen der beruflichen Situation der älteren und der jungen Arbeitnehmer heute, die sich mit Praktika, Teilzeitarbeit und Honorarverträgen durchschlagen? Hier ist die Kirche sehr deutlich, und sie bemängelt, dass durch die neuen Technologien auch "prekäre und entgrenzte Beschäftigungsverhältnisse" entstehen, so der Wirtschaftswissenschaftler Gustav A. Horn, der Vorsitzende der Kammer für soziale Ordnung. Zuhause am Computer arbeiten? "Rein technisch gesehen endet diese Arbeit nie", beklagt der Ökonom.

Und was ist mit den unterschiedlichen Einkommensverhältnissen von Männern und Frauen? Die Faktenlage ist unstrittig: Je nach Vergleichskriterien ist das Einkommen von Frauen acht bis 22 Prozent geringer als das der Männer. Auch das beklagt die Kirche, wenn man auch in der Denkschrift für ein paar Hinweise zur Abhilfe dankbar gewesen wäre.

13 Millionen Deutsche sind armutsgefährdet

Eine weitere Klage der Kirche rechtfertigt schon allein die Herausgabe dieser Denkschrift: Die zunehmend ungerechte Einkommensverteilung in Deutschland. 13 Millionen Menschen in Deutschland seien armutsgefährdet (2013). Da heißt es, konsequent und mit Macht  auf eine „angemessene Verteilung des Wohlstands und der Wohlstandsentwicklung zu achten“ (S. 53). Die Kirche sieht sich gemeinsam mit den Gewerkschaften aufgerufen, dafür zu kämpfen, dass „verantwortliches wirtschaftliches Handeln und eine entsprechende Sozialpolitik sich speziell an der Situation schwächerer gesellschaftlicher Gruppen orientiert“ (S. 134). Dechiffriert bedeuten diese getragenen Worte: Zuerst für die Armen sorgen! Diese Kritik ist keine austauschbare Trendansage, sondern eine klare, nachdrückliche Aufforderung: Wir dürfen in Deutschland die Armen nicht wirtschaftlich und sozial abhängen.

Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zu Arbeit, Sozialpartnerschaften und Gewerkschaften. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2015. ISBN 978-3-579-05977-8

Und endlich freut sich der Leser, einen alten gemeinsamen Bekannten von Kirche und Gewerkschaften wiederzutreffen: die „Allianz für den freien Sonntag“. Der arbeitsfreie Sonntag hat es so schwer wie noch nie, die Digitalisierung der Arbeit ist einer von vielen Gründen dafür. Aber was recht und wichtig zu sagen ist, muss auch gesagt werden, trotz der zunehmenden Beliebtheit von verkaufsoffenen Sonntagen, die nicht mehr Geld in die Kassen der Geschäfte spülen, sondern den Umsatz nur auf die Wochentage unterschiedlich verteilen.

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Es heißt immer: Die jungen Menschen müssen sich durchschlagen. Das stimmt so nicht! Ich bin 54 jahre alt und Mutter von drei Kindern. Ich bin seit November 2013 geschieden, war aber zuvor mit einem ehemaligen bundesdeutschen Grenzzollbeamten verheiratet. Vor 17 jahren hat sich mein Exmann von der deutsch/ österreichischen Grenze auf ein Binnenzollamt nach Marburg versetzen lassen. Dadurch wurde ich arbeitslos, schrieb eine Bewerbung nach der anderen, bekam aber immer nur befristete Stellen. Zur Zeit habe ich wieder eine, dieses Mal befristet für 7 Monate. Danach habe ich keinen Arbeitslosenanspruch und Hartz 4 steht mir nicht zu, weil ich Hausbesitzer bin. Ich mußte letzten Monat noch meine Gerichtskosten für die Scheidung abbezahlen. Meine letzte Stelle hatte ich bei der evangelischen Kirche für 9 Monate. Auch kein Anspruch auf Arbeitslosengeld, keine Krankenkasse,kein Geld, um Hund und Katze zu füttern. Dann aber in zahnärzlicher Behandlung. Durch eine schwere Paradonthose mußten mir alle Zähne gezogen werden. Ohne Zähne bekomme ich mit 100 % iger Sicherheit gar keine Stelle mehr. Also sparen für Zähne. Das kostet mich etwa 10.000 €. Einen Hund und eine Katze habe ich auch noch zu füttern. Den Hund habe ich nach der Trennung von meinem Exgatten übernommen, die Katze habe ich dazugenommen, damit der Hund nicht den ganzen Tag allein ist, wenn ich dann mal wieder ganztags eine Stelle habe. Zur Zeit habe ich diese für eben 7 Monate bei der katholischen Kirche, wenn mir nicht mal wieder innerhalb der Probezeit gekündigt wird. Ich habe das Gefühl, das ist jetzt an der Tagesordnung. Man holt sich Leute in den Betrieb, wenn die Festangestellten ihren Resturlaub nehmen müssen oder diverse Op´s durchführen müssen. Dann ist man gut genug! Danach darf man wieder verschwinden! Der Lebenslauf wird immer grotesker...die Lust zu leben schwindet komplett. Man fragt sich von morgens um 4.00 h bis nachts um 3.59 h : Wofür? Womit habe ich mir das verdient? Und wenn der Hund nicht eine fütternde Hand bräuchte, dann würde es mich wahrscheinlich schon lange nicht mehr geben!!!
Ich habe übrigens jahrelang ehrenamtlich für die evangelische und für die katholische Kirche gearbeitet. Wer sich in einer derartigen Situation wie ich befindet, ist ehrlich gesagt nur noch total enttäuscht von Allem, was er bisher getan und geleistet hat. Und nur noch verzweifelt! Und meine Krankenkasse übernimmt so gut wie nichts und man fragt sich: Wofür habe ich die eigentlich jahrelang bezahlt????????
So ist das Leben....wahrlich kein Zuckerschlecken!!!!