Foto: Günay Mutlu
Privilegiertes Schrumpfvolk bestimmt
Mit knapper Mehrheit haben die Schweizer in ­einem Referendum beschlossen, den Zuzug von Ausländern zu ­begrenzen. Liberale Schweizer sind entsetzt. Doch jammern hilft nicht: Die Regierung muss innerhalb von drei Jahren das Votum umsetzen. Über das Für und Wider von Plebisziten
Tim Wegner
06.03.2014

chrismon: Entscheidet tatsächlich das Volk?

Wolfgang Merkel: Nur in der Theorie. In der Schweiz beteiligen sich durchschnittlich 43 Prozent der Bürger an Volksabstimmun-gen. Wenn von ihnen 23 Prozent mit Ja stimmen, kann ein Abstimmungsergebnis zum Gesetz werden. In Ausnahmen reichen auch weniger Stimmen. Es entscheidet nicht das Volk, sondern seine mittelschichts­dominierte Schrumpfversion.

Vor allem linke Parteien befürworten Volksentscheide...

...aber die Ergebnisse sind oft konservativ in Haushalts- und Sozialstaatsfragen: dann heißt ­es meist Steuern runter, Sozialausgaben senken. Viele Entscheidungen in Parlamenten sind liberaler, dort gibt es Verhandlungen und Kompromisse. Linke Parteien glauben gerne, dass Volksabstimmungen zu mehr ­Demokratie führen. Da aber meist nur eine sozial privilegierte Minderheit abstimmt, bedeutet das für mich: „Weniger Demo­kratie wagen.“

Welcher Antrieb steckt hinter Volksentscheiden?

Mitsprache, Angst, Weltanschauung...  Volksabstimmungen sind anfällig für egoistische Ent­scheidungen. So geschehen in Hamburg, als wohlsituierte Bürger gegen eine Bildungsreform stimmten – nur 23 Prozent der Wahlberechtigten! –, die den ­Kindern unterer Schichten größere Bildungschancen eröffnet hätten. In der Schweiz gab es in den letzten vier Jahren mit dem Minarettverbot, der Ausweisung kriminell gewordener Ausländer und der eingeschränkten Einwanderung drei spektaktuläre Entscheide, die gegen Fremde gerichtet waren. Keine Zeichen wachsender Toleranz.

Für welche Fragen taugen Plebiszite?

In Verfassungsfragen können ­sie zu einer größeren Legitimität beitragen. Das gilt auch für wich­-tige Entscheidungen zur Euro­päischen Union. Sie taugen ­nicht für die Haushaltspolitik oder komplexe Entscheidungen wie die Energiewende. Und man sollte Voten heraushalten, die Minderheitenrechte betreffen, etwa Religionsfragen. Die gehen häufig zu Lasten von Minderheiten aus.

Fühlen sich Bürger eines Landes, in dem es viele Volksabstimmungen gibt, ernster genommen als andere?

Ja, das ist das Positive, Plebiszite steigern die Systemzufriedenheit. Allerdings genügt es nicht, nur alle zwei Jahre ein nationales Referendum abzuhalten und wenige zweitrangige Fragen entscheiden zu dürfen. 

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Stellen Sie sich vor: Sie hätten in Deutschland die gesamte DDR Bevölkerung in den alten Bundesländern aufgenommen. Was wäre da los in der BRD.
Genau das passiert aber in der Schweiz: Eine Zunahme der Bevölkerung von 6 auf 8 Millionen. Mit allen Nachteilen, wie Zersiedelung, teure Mieten etc. Jedem rational denkenden Menschen ist klar, dass dies, ohne Verlust an Lebensqualität nicht so weitergehen kann.
Nun, vielleicht haben wir dannzumal finanzielle Verluste in der Schweiz, aber eine bessere Lebensqualität, als wenn wir dann plötzlich in einer 10 oder 12 Millionen Schweiz leben würden.

Uebrigens: Due EU könnte ja vorgehen, und die Abschottung ihrer Grenzen aufheben. Hunderte millionen Afrikaner würden sicher gerne in die EU gehen.