Am Ende hat Michael Packebusch die "Bild"-Schlagzeilen kaum mehr ertragen. Aber was sollte er tun? Er konnte die Zeitung ja nicht irgendwo hinlegen, wo die Kunden sie nicht sahen. An Tagen mit Politikskandalen und Promikrisen packte er den Stapel vor sich auf den Tresen, nichts Gutes ahnend. Es kam dann meistens schlimmer. Nach sieben Jahren in einem Laden für Tabakwaren und Zeitschriften kennt man seine Kunden, vor allem jene, die jede Schlagzeile dazu animiert, wortreich über die Schlechtigkeit der Welt zu sinnieren. Es gibt viel zu erzählen, wenn der Tag lang ist. Michael Packebusch schienen am Ende die Tage unendlich zu sein.
Manchmal nahm er eine Art passive Notwehrhaltung ein, die Schultern sackten auf Brusthöhe, die Mimik war so eindeutig wie die einer Comicfigur. Bei vielen Kunden nutzte das wenig. Sie redeten drauflos. Sie wollten vor allem mit ihm reden.
Michael Packebusch redet selbst gern, so ist es ja nicht, und er war sozusagen die halbamtliche Beschwerdestelle im Stadtteil, einem gutbürgerlichen im Herzen Frankfurts. Am Dornbusch sind die Mieten hoch, die Autos wuchtig, die Parks hübsch, gut situierte Jungfamilien leben hier, mehr Senioren als andernorts, solche mit viel Zeit.
So trifft sich der Stadtteil im „Zigarrenhaus am Dornbusch“, wo es auch Grußkarten gibt, Toto, Lotto und Rubbellose. Und so schön ist der Laden, so gemütlich, kaum größer als eine Wohnküche, alte Holzregale rundherum, ein Laden wie aus einer anderen Zeit. Dazu der Geruch wie bei Großvater selig, nach Pfeifentabak, nach Zigarren. Es gab einen Moment im Leben Michael Packebuschs, da erblickte er in diesem Laden das rettende Ufer. Er hatte Wirtschaftsinformatik studiert, er hatte bei einer Consultingfirma gearbeitet, er hatte eine schicke Wohnung, einen alten Porsche, eine Rolex. „Aber ich hatte nie Zeit, es zu genießen.“ 2001 nahm er ein Sabbatjahr und fuhr mit dem Motorrad die Panamericana hinunter, bis nach Feuerland, er schrieb sogar ein Buch darüber.
Zurück in Frankfurt am Main, ödete ihn sein Beraterjob bald wieder an, die endlosen Konferenzen, die Wichtigtuer. Er schmiss hin, machte in Computer, Marketing, war Barmann, war Manager in einem Hotel in Afrika, wo man ihm nicht das vereinbarte Gehalt zahlte. Wieder kam er zurück, noch rastloser auf der Suche nach einem Weg zwischen Selbstbestimmtheit und Sicherheit. In den Frankfurter Wintermonaten stürzte er in tiefe Depressionen. 2006 las er das Angebot mit dem Kiosk, da griff Michael Packebusch zu. Nebenan die Sparkasse versprach regen Kundenverkehr, die U-Bahn-Station vis-à-vis. Diese kleine Welt gab ihm Halt.
Man erörterte die großen Fragen des Lebens
Sieben Jahre später, 44 Jahre alt, keine Frau, keine Kinder, durchtrainiert, betont jung und modisch gekleidet, schlich er zuweilen hinter dem Tresen auf und ab wie ein Raubtier hinter Gitterstäben. Er machte aus seiner Unlust keinen Hehl. „Ja, was wollen Sie denn tun?“, fragten ihn die Leute. „Ich verkaufe den Laden und fahre mit dem Motorrad los.“
„Und wohin?“
„In den Süden, weit weg von hier.“
An einem Frühlingstag des vergangenen Jahres steht Matthias Ringling im „Zigarrenhaus am Dornbusch“, sieht, wie Michael Packebusch rotiert, hört die Sprüche über die „Bild“-Schlagzeilen, hört die speziellen Kunden über Gott, die Welt und Michael Packebusch reden, sieht die alten Holzregale. Und weiß: Hier will ich sein. Die speziellen Kunden zweifelten: „Einer wie du in einem Laden wie diesem?“
„Warum nicht?“
Matthias Ringling, Matteo genannt, aufgewachsen unweit vom Dornbusch, verheiratet seit zehn Jahren, Vater eines Kindes, will im 53. Jahr seines Lebens zur Ruhe kommen, will mehr Zeit für die Tochter haben. Sieben Jahre ist sie alt, gesehen hat er sie nur die Hälfte ihres Lebens. Er ist Tourbegleiter für Rock- und Popmusiker, seit mehr als 30 Jahren, Deep Purple kutschierte er mit der Limousine durchs Land, mit Iron Maiden schlug er sich die Nächte um die Ohren, Udo Lindenberg führte ihn in seine geheime Hotelbar. Jeden Tag auf der Autobahn, jede Nacht in einem anderen Hotelzimmer, Groupies, Drogen, Alkohol. „Man rutscht da mit rein“, sagt er.
Viele Jahre war Matteo Ringling fest angestellt gewesen bei einer großen Konzertagentur, dann zwangen sie ihn in die Freiberuflichkeit. Fortan konnte er gar nichts mehr planen, nicht den Urlaub, nicht mal die Hochzeitstage; 300 Gäste waren dabei, als er heiratete, die Band Reamonn spielte, Popstar Sasha sang ein Ständchen, Xavier Naidoo konnte leider nicht. „Es war eine schöne, wilde Zeit“, sagt Matteo Ringling, seine Stimme, sie knarrt wie eine alte Tür, spricht Bände. Aber: Auf Abruf musste er bereit sein. Und wenn sie ihn anriefen, ging es wenige Tage später auf Tour, fünf Monate pro Jahr war er unterwegs. Seine Frau, eine Bankerin, war im Grunde alleinerziehend. Sie kannte Michael Packebusch flüchtig, er hat mit ihrer Schwester studiert. Als sie zufällig bei ihm vorbeischaute, sagte er ihr, dass er verkaufen wollte. Zu Hause erzählte sie ihrem Matteo davon. Er war begeistert.
Sie waren alle gekommen. Die Sonne schien, vor dem Laden standen zwei kleine Tischchen. Es war ein Samstag im vergangenen August, und Michael Packebusch feierte Abschied, und Matteo Ringling gab seinen Einstand. Wie da quasi der Stadtteil Michael Packebusch umarmte und sich nach reichlich Sekt Wehmut breitmachte, meldeten sich auch in Matteo Ringling leise Zweifel. Würden sie ihn auch so in ihr Herz schließen? Würden sie dem Laden die Treue halten? „Da wurde ich ein bisschen nervös.“
"Die Zeit nicht einfach totzuschlagen, das ist schwierig"
Er hat jetzt ganz andere Ideen, ob sie sich mit Tarifa vereinbaren lassen, weiß er nicht. Das Saisonleben ist hart, im Sommer schuften die Menschen rund um die Uhr, um in den Wintern über die Runden zu kommen. „Und die Winter kriechen dir in die Knochen.“ Er will als Fitnesstrainer arbeiten. Er müsste im Sommer in Tarifa 100 Stunden pro Woche schaffen. „Keine schöne Aussicht“, sagt er. Er macht bald eine Trainerausbildung auf Mallorca. Vielleicht zieht er ganz dahin. Die Liebe hat ihm auf den Magen geschlagen. Schriftstellerin und Journalistin ist sie, Irin, Anfang 40, seit einer Ewigkeit lebt sie in Tarifa. Sie ist schön, alle kennen sie, alle mögen sie, Tarifa ist klein, die Auswandererszene übersichtlich. Sie lebt von Onlineartikeln und gibt Workshops für kreatives Schreiben. In den Mails, die er zur Weihnachtszeit schickte, schwärmte er überschwänglich. Dann sagte sie ihm, dass sie ein Kind wolle. Da ging er auf Distanz.
Die Gefühle seien groß, sagt er, die Kränkungen auch. Jetzt rächt es sich ein bisschen, dass jeder sie kennt, dass jeder mit ihr fühlt. Zurzeit gehen sie sich aus dem Weg, was schwierig ist, weil sie Tür an Tür leben, sie hat ihm eine Bleibe vermittelt. Zwei weiße Häuschen bewohnen sie in einem gemeinsamen Hinterhof nahe der Altstadt mit ihren vielen Bars für die vielen Surfer. Einen Raum mit Bett hat er, ein Sofa, einen Tisch, zwei Stühle, eine Kochnische, 45 Quadratmeter. Sie sitzt in ihrem Häuschen und schreibt den ganzen Tag, er sitzt in seinem Häuschen, schaut Filme, liest. Die Zeit nicht einfach totzuschlagen, das ist schwierig, sagt er. Er befindet sich in einer Art Lauerstellung, etwas Großes rührt sich gerade in Michael Packebusch, ein Lebensprojekt könnte es werden...
Morgens schmeißt Anna den Laden, die Anna hat schon für Michael gearbeitet, „noch so ein Glücksfall“. Seine Sorge, die Kunden könnten ausbleiben, war unbegründet. Neuerdings kommen sogar die Senioren nicht mehr nur zum Einkaufen. Er stellt ihnen ein Stühlchen hin und gibt ihnen einen Kaffee aus. Eine ehemalige Opernsängerin, 86, sitzt fast jeden Tag auf diesem Stühlchen und erzählt und erzählt, und er hört zu, weil er es mag, wenn Menschen von sich erzählen. Der Radiomoderator steht immer noch ab und an hinter dem Tresen, Michaels spezielle Kunden werden auch langsam seine. Sie vermissen Michael, das schon, sie mailen ihm, sie skypen. Sie sprechen oft von ihm. Was er wohl gerade macht? Was er wohl gerade vorhat? Er wolle wieder nach Frankfurt, hat neulich die IT-Managerin gesagt und gelächelt.
Wer in die Ferne reist, kommt sich näher, heißt es. Nie hätte Michael Packebusch gedacht, dass ihn Heimweh plagen könnte. Er vermisst sein Frankfurt, er vermisst die Leute. Tief gehen die Freundschaften nicht in Tarifa, jeder sei sehr mit sich selbst beschäftigt. Michael Packebusch ist zurzeit intensiv mit sich selbst beschäftigt. Einen Roman hat er zu schreiben begonnen, „einen über humanistische Fragen“, sagt er, „über die Gesellschaft mit ihren Widersprüchen“, das ist es, das Lebensprojekt, „angelegt so auf fünf Jahre“. Zwei DIN-A4-Seiten hat er schon.
„Ich bin frei.“
Wenn man wenig braucht, ist das ein Segen, sagt Michael Packebusch. „Ich bin frei.“ 800 Euro braucht er in Tarifa pro Monat zum Leben, das Geld aus dem Ladenverkauf allein dürfte noch lange reichen. Bedürfnislosigkeit, das ist ein Ziel. Seine Altersversorgung hat er ohnehin verloren, Finanzkrise 2008. In Frankfurt lebte er in einer Wohnung am Westhafen, direkt am Mainufer, beste Lage, nicht eben preiswert, sehr stilvoll. Er sagt, dass er sich vielleicht bald was Kleines in Frankfurt suchen will. Wenn es gut läuft als Fitnesstrainer, wenn das Geld einigermaßen stimmt, will er pendeln. Mallorca – Frankfurt, Ibiza – Frankfurt oder eben von Tarifa aus. Dann wieder sagt er: „Vielleicht klappt es ja doch mit dem Aussteigerleben.“ Jetzt im Sommer kommt er auf Besuch, er liebt ja die Frankfurter Sommer, am Mainufer besonders. „Ich werde bestimmt auch im Laden vorbeischauen“, sagt er, „dann erzähle ich mal in Ruhe.“
Irgendwer wird immer da sein, wenn Michael Packebusch ins „Zigarrenhaus am Dornbusch“ kommt. Matteo Ringling ja auf jeden Fall. Er hat viel Zeit zuzuhören.