Ingrid Heimbach, 74:
Sport war für mich immer sinnlose Bewegung. Vertane Zeit. Da lese ich lieber oder löse Kreuzworträtsel. Manche Leute sagen ja, sie könnten beim Joggen ihren Gedanken nachhängen. Aber rumträumen kann ich auch, wenn ich auf dem Sofa liege. Überhaupt bin ich am liebsten zu Hause, rauche meine Zigaretten, höre Nachrichten, mache mir am späten Nachmittag auch mal eine Flasche Weißwein auf. Mir fehlt es dann an nichts.
Als ich ein Kind war, wohnten wir in der Uckermark an einem See, da bin ich viel herumgetobt Aber das war kein Sport, sondern Spiel, niemand schrieb uns etwas vor. Wir fühlten uns frei.
Auf dem Gymnasium erfuhr ich, was Sport bedeutet: losrennen, wenn die Lehrerin pfeift. Bewegung auf Kommando. Oder turnen an Geräten. Grauenhaft! Manchmal musste ich auch lachen, wenn die Lehrerin die Übungen vormachte. Im Zeugnis stand hinterher: Ingrid stört den Sportunterricht.
Sport ist vertane Zeit
Seitdem habe ich Sport vermieden. Es gab da noch den Versuch, Tennis zu spielen, mit Anfang dreißig. Das war damals schick. Ich dachte, es geht ohne Anstrengung. Man zieht einen kurzen Rock an und wird im Sommer braun. Mir fehlte jeder Ehrgeiz. So lernte ich natürlich nichts, traf immer ins Netz, kein Vergnügen. Später habe ich mal einen Jazzdance-Kurs besucht. Zu schöner Musik tanzen, so hatte ich mir das vorgestellt. Doch der Lehrer war Balletttänzer, man musste an Stangen üben und sich dabei die ganze Zeit im Spiegel beobachten. Albern sah das aus. Einmal habe ich mich gekrümmt vor Lachen. Da hieß es: Es wäre besser, wenn Sie nicht mehr kommen.
Trotzdem war ich immer auf Trab. Ich war 25 Jahre lang Hauptschullehrerin, mehrmals am Tag bin ich die Treppen in der Schule rauf und runter. Dann hatte ich den Haushalt, zwei Kinder. Als ich in Rente ging, sah ich keine Notwendigkeit, mich grundlos zu bewegen. Mal zum Auto gehen, einkaufen fahren oder zum Frisör. Aber doch nicht durchs Dorf spazieren, wo ich früher dauernd Schüler traf. Oder etwa in den Wald. Da wimmelt es von Joggern, Radfahrern und Ausflüglern.
Plötzlich hatte ich Angst zu gehen
Ich bin bequem geworden. Aber ich bin nicht zu dick. Auch nicht krank. Doch dann bin ich letztes Jahr nach Sylt in den Urlaub geflogen und die letzte Treppenstufe aus dem Flugzeug heruntergefallen. Vornüber aufs Rollfeld. Zum Glück hatte ich mir nichts gebrochen, nur Prellungen. Aber plötzlich hatte ich Angst zu gehen. Ich traute mich nicht mehr vor die Tür. Noch nicht einmal bis zum Auto. Sobald ich auf der Straße stand, fing ich an zu zittern, und mir wurde schwindelig.
Mir war klar, wenn ich weiterhin allein leben will, dann muss ich etwas tun. Du brauchst eine Personaltrainerin, sagten meine Kinder. Ich: Wie bitte, ist das nicht etwas nur für reiche Promis? Nun ja, teuer sei es schon, meinten sie. Aber die kommt zu dir nach Hause, und ältere Menschen wie dich trainiert sie auch.
Als Allererstes hat sie mir vorgemacht, wie ich gehe. Sie tippeln, sagte sie, mit durchgedrückten Knien. Deshalb sei ich so unsicher beim Gehen. Sie hat mir sozusagen einen Spiegel vorgehalten, das war bitter. Dann haben wir aufstehen vom Sessel geübt, ohne sich abzustützen, und auf einem Bein stehen, weil das Selbstvertrauen gibt, oder Kniebeugen, die mochte ich weniger.
Und ich musste zügig über den Wohnzimmerboden von Teppich zu Teppich laufen. Kein Problem, dachte ich. Dann hat die Trainerin Bücher zwischen die Teppiche gelegt, ganz flache. Aber sobald ich die sah, hielt ich an, als stünde ich vor einem Berg. So hat sie mir bewusst gemacht, dass das Hindernis nur in meinem Kopf war. Irgendwann konnte ich über die Bücher schreiten, ohne zu zögern. Wir sind dann auch rausgegangen, erst hielt ich mich an ihr fest, dann lief ich alleine. Inzwischen kann ich wieder einen Bordstein runtergehen, ohne Angst zu haben, dass ich falle.
Ich kann nicht behaupten, dass mir das Spaß gemacht hat. Aber ich hatte ein Ziel. Wieder allein einkaufen fahren. Wieder verreisen können. Die Flugzeugtreppe hinunterkommen. Das kann ich jetzt alles wieder. Ich werde sicher nicht mein ganzes Leben ändern. Eigentlich mache ich weiterhin nur das, wozu ich Lust habe – und eben ein paar Übungen, die ein bisschen anstrengend sind. Weil sie mir meine Freiheit wiedergeben.
Protokoll: Ariane Heimbach