RENZO GOSTOLI/Archivolatino/laif/RENZO GOSTOLI/Archivolatino/laif
Christine Drini war Pfarrerin in Rio de Janeiro. Dort sind jetzt die Massen auf der Straße - auch ihr ehemaliger Kollege. Er schrieb ihr in einem Brief, wieso
Portrait Hanna Lucassen, Redaktion chrismon, Redaktions-Portraits Maerz 2017Lena Uphoff
24.06.2013

Vor ein paar Monaten kehrte Auslandspfarrerin Christine Drini aus Brasilien zurück. Mit ein bisschen Wehmut, aber auch Erleichterung. Die Korruption, die alltägliche Gewalt, die Gegensätze zwischen Arm und Reich - es gab vieles, womit sie nicht gut klar kam ( Auf Wiedersehen, Rio). "Dass die Leute auf die Straße gehen, erstaunt mich gar nicht", sagt sie nun angesichts der Massenproteste, die seit Tagen Brasilien lahmlegen. Auch ein ehemaliger Kollege demonstriert mit: Pfarrer Mozart Noronha de Melo, 69. Der Pastor im Ruhestand arbeitet seit Jahrzehnten mit Favela-Bewohnern und engagiert sich auch politisch für soziale Gerechtigkeit. Was er zurzeit erlebt, schreibt er in einem Brief:  

"Querida Christine - liebe Christine. Die politische Situation ist ernst und besorgniserregend. Ich bin gerade von einer Demonstration zurückgekommen, an der mindestens 300.000 Personen teilgenommen haben. Die Polizei hat sie mit Rauchbomben, mit Gummigeschossen und Pfeffergas unterdrückt. Vilma, die Leiterin der Kindertagesstätte, und ich waren zusammen unterwegs. Wir wurden beide von Pfeffergas getroffen. Ich bin im Gesicht verletzt worden, beinahe bin ich hingefallen. Aber es geht uns gut. Du weißt ja: die Leute aus dem Nordosten sind zäh.

Liebe Freundin - das Volk hat es satt, betrogen zu werden: vom Bürgermeister, vom Landrat, von der Regierung Dilma. Die Preiserhöhungen im Nahverkehr, die die Proteste auslösten, wurden zurückgenommen. Aber darum geht es gar nicht mehr. Die Demonstranten fordern jetzt eine effiziente Gesundheitsversorgung, mehr Qualität im öffentlichen Bildungssystem, Verbesserungen im öffentlichen Nahverkehr, Sicherheit, weniger Gewalt und ein Ende der Korruption.
Und sie stellen die enormen Ausgaben für die WM-Stadien infrage. Für das Maracanã in Rio, wo das Endspiel stattfinden soll, sind mehr als eine Milliarde Reais (ca. 400 Mio Euro) ausgegeben worden. In Rio nehme ich an allen friedlichen Demonstrationen teil. Natürlich zeige ich denjenigen, die zu Gewalt aufrufen, randalieren und öffentliche Einrichtungen zerstören, meine Verachtung. Aber das ist eine Minderheit, die in die Bewegung eingeschleust  wurden."

Christine Drini sagt: "Der Brief von Mozart hat mich sehr ergriffen". Die Ereignisse in Brasilien verfolgt sie genau. Beindruckend findet sie den Witz auf manchen Plakaten der Demonstranten. Auf einem stand: "Desculpem o transtorno. O país está mudando.“ - „Entschuldigen Sie die Störung, das Land verändert sich gerade.“

 

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.