chrismon : Sie haben beide viel mit Texten zu tun – Sie, Frau Birthler, mit Stasi-Protokollen, Sie, Frau Haberlandt, mit Dramen und Drehbüchern. Was lesen Sie privat gerne?
Fritzi Haberlandt: Ich hab schon gelesen, bevor ich in die Schule ging. Lesen ist mein einziges Hobby. Mein Kultautor war eine Zeit lang Klaus Mann. Vor sieben Jahren, zur Schauspielschulzeit, war ich in seine Texte absolut verliebt. Dieses In-sich-gefangen-Sein, diese Sehnsüchte, das ist ja sehr kitschig und romantisch. Dann wieder sein Hang zur Selbstzerstörung. Da ich eher spießig bin und nicht so riesige Konflikte in mir trage, war Klaus Mann für mich einer, der alles hat, was ich nicht habe.
Marianne Birthler: Als ich jung war, hat mich „Der Steppenwolf“ von Hermann Hesse begeistert. Das Buch hat in mir eine tiefe Sehnsucht nach Bedeutung und Drama angesprochen. Die Hauptperson konnte nur leben mit dem Gefühl, er könne jeden Tag aus dem Leben gehen. Einer, der so heimatlos war, der seine Einsamkeit so zelebriert hat, das fand ich faszinierend. Dabei war das in einer Zeit, in der ich selbst behütet gelebt habe.
Haben Sie sich beide gegen das ruhige Leben im Elternhaus abgegrenzt?
Haberlandt: Nein. Ich möchte eigentlich so leben wie meine Eltern. Zum Beispiel sind meine Eltern schon immer zusammen. Die haben geheiratet und verstehen sich bis heute gut. Das würde ich auch gern schaffen. Aber ich weiß, dass ich mir das nicht einfach vornehmen kann, und dann wird das so. Ich weiß nur: Meine Eltern haben mich und meinen Bruder toll erzogen. Mit Freiheit und viel Vertrauen, sie haben uns aber Grenzen gesetzt. Und sie haben sich in der DDR intensiv mit dem System auseinander gesetzt. Es gab nicht ein einfaches Schwarz-Weiß.
Birthler: Aber man hat doch auch das Bedürfnis, mal ganz anders zu sein als die Eltern. Das ist schwierig bei so tollen Eltern.
Haberlandt: Es gab die Phase, in der ich mir die Haare abrasiert habe, weil ich sie schocken wollte. Und als meine Eltern 1991 mit unserer Familie von Berlin nach Hamburg ziehen wollten, hab ich gesagt: Da könnt ihr allein hingehen. Heute merke ich, dass ich keinen wirklichen Streit mit ihnen hab, sondern sie bewundere. Weil sie uns, meinen Bruder und mich, auch in Ruhe lassen können. Das ist total wichtig.
Birthler: In einer bestimmten Phase ist es wichtig, dass klare Grenzen gesetzt sind. Vor Jahren sagten meine Kinder, sie fänden es gut, dass ich ihnen nicht immer alles erlaubt habe. Sie hatten Freiheiten, aber nicht diese Grenzenlosigkeit, die schwierig ist für Heranwachsende.
Haberlandt: Ich konnte mich an meinen Eltern festhalten. Und ich wusste beruflich sehr früh: Das ist mein Weg. Das gab mir Stärke, mich zu behaupten. In diesem Beruf ist es so, dass immer Menschen hinter dir stehen müssen, egal, was du machst. Das ist wichtig, weil du als Schauspieler wackelig auf der Kante stehst, dich immer der Kritik aussetzt.
Marianne Birthler: „In den Stasiakten sind auch viele tolle Geschichten drin. Ist ja logisch. Das Ministerium hat Informationen über starke Leute gesammelt“
Für die Rolle der gläubigen Erika in dem Theaterstück „Der Bus“ mussten Sie Vaterunser und Glaubensbekenntnis lernen. Wie war es, damit auf die Bühne zu treten?
Haberlandt: Schwierig! Ich hab lange gedacht: Das kann ich nicht. Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll: Es schien mir zu privat. Weil ich nicht mit Religion aufgewachsen bin, habe ich eine Distanz zu solchen Bekenntnissen, denke aber trotzdem über sie nach. Für mich heißt in solchen Fällen die Lösung: Die Figur spricht es ja. Es ist Erika, die unbedingt an den Wallfahrtsort Tschenstochau will, nicht ich. Von dem Punkt an ging es.
Birthler: Als Jugendliche erlebte ich so etwas wie eine Bekehrung, ich hatte ein paar sehr fromme Jahre. Vielleicht nicht ganz so wie das Mädchen in dem Theaterstück, aber es war mir schon ernst. Ich gehörte zu einer Gemeinde mit pietistischer Prägung. Dabei waren meine Eltern aus der Kirche ausgetreten. Meine Mutter schickte mich zum Konfirmandenunterricht, aber nur, weil sie wusste, dass mein inzwischen verstorbener Vater das gewollt hätte. Während andere sich in der Pubertät vom Glauben lösen, war es bei mir umgekehrt: Ich hab mich durch meine Identifikation mit Religion und Kirche von meiner Mutter abgesetzt. Das war mein Eigenes, dazu hatte sie keinen Zugang.
Haberlandt: Ich finde Religion gar nicht generell doof, ich habe im Gegenteil eine große Sehnsucht danach. Ich wünschte, ich hätte so etwas in mir verankert, dass ich es mir nicht immer von so weit her angucken müsste. Die Erika in dem Stück hat durch ihren Glauben eine unglaubliche Kraft. Es ist etwas, so stell ich mir das jedenfalls vor, was man immer in sich trägt. Die Leute brechen ihr die Hand, sie schreien sie an, sie schubsen sie, aber sie beharrt auf ihrem Weg.
Birthler: Als ich jung war, hatte dieser Erweckungsglaube eine große Faszination für mich, aber indem ich erwachsener wurde, empfand ich ihn als sehr eng. Später wurde mein Glaube aufgeklärter. In mir sind heute verschiedene Glaubensformen lebendig. Manchmal glaube ich auf eine ganz kindliche Art und bin zu Stoßgebeten fähig wie: „Regel das bitte für mich, ich komm nicht mehr klar“, doch meist glaube ich reflektierter, zweifelnder. Spiritualität ist mir wichtig – und dass ich in biblischen Erzählungen die Grundideen von Emanzipation und Freiheit wiederfinde, die mir auch in der Politik wichtig sind. Vielleicht sind sie der Hauptgrund, weshalb ich an der Bibel hänge.
Wie erklären Sie sich dann, dass die Bibel vielen Leuten nichts mehr sagt?
Birthler: Es ist inzwischen die Ausnahme, wenn jemand mit der Bibel groß wird. Die Welt ist voller Sinnangebote, die Bibel ist eins unter vielen. Eine Rolle spielt, wie die Kirche mit dem Evangelium umgeht. Das spricht oft wenig das Gefühl an. Das katholische Weltjugendtreffen in Köln habe ich mir mit sehr geteilten Gefühlen im Fernsehen angeschaut. Manches war mir unheimlich, zum Beispiel diese Begeisterung Hunderttausender junger Leute, nur weil der Papst zu sehen war. Solche Jubelszenen lösen bei mir unangenehme politische Assoziationen aus. Andererseits war sichtbar, dass viele junge Leute eine Sehnsucht haben, verbindlich zu glauben. Vielleicht fehlt es an Angeboten, die zu ihnen passen. Die evangelische Kirche ist im Vergleich dazu ziemlich trocken und nüchtern.
Haberlandt: Von meinen Bekannten machen viele Yoga. Ich habe es angefangen, aber nicht regelmäßig betrieben. Beim Yoga geht es darum, die Welt draußen auszuschalten und in sich hineinzuhorchen. Ich höre zum Beispiel gern dem Dalai- Lama zu. Aber ich brauche kein festes Gerüst, ich kann nicht behaupten: Dies ist jetzt meins und das werde ich mein Lebtag machen. Ich gucke eher, was mir etwas bringt. Ich bin ein ganz normaler Konsument von dem, was geboten wird. Allerdings habe ich das ausgeprägte Gefühl, dass etwas fehlt.
Und wo finden Sie dann Antworten?
Haberlandt: Texte von Menschen, die sich vor mir über eine Sache Gedanken gemacht haben, sind wichtig. Mit ihnen kann ich ein Stück mitgehen. Und schauen, wo es mich hinbringt.
Fritzi Haberlandt: „Wenn ich Ihnen zuhöre, denke ich: Wieso weiß ich das alles nicht? Wieso kenne ich diese Geschichte nicht?“
Welche Texte sollten alle im Land kennen?
Haberlandt: Die Volkslieder sollte man kennen, na klar, damit sich Verbundenheit zu dem Ort, an dem man aufwächst, entwickelt und damit die Menschen ihre Sprache und Traditionen kennen lernen. Damit meine ich aber nichts Christliches.
Birthler: Ein gemeinsamer Vorrat an Geschichten ist sehr wichtig. Etwa die Märchen, die helfen, Angst zu überwinden. Für mich sind es zudem eine Reihe Geschichten aus der Bibel. Es gibt Erzählungen, in denen jahrhundertealte Erfahrungen verdichtet sind. Zum Beispiel die Geschichte vom Exodus, als das Volk Israel in das Land wollte, wo Milch und Honig fließen. Daraus stammt der Satz: „Ach wären wir doch bei den Fleischtöpfen Ägyptens geblieben!“ Das ist gesammeltes Wissen über Freiheit, Gefangenschaft und Mut, von Menschen erzählt, die viel erlebt haben. Sie sind ja nicht bei den Fleischtöpfen geblieben, sondern haben es gewagt fortzugehen. Das hat mir selbst Mut gemacht. Es wäre schade, wenn das verloren ginge.
Haberlandt: Wenn ich Ihnen zuhöre, denke ich: Wieso weiß ich das alles nicht, wieso kenne ich diese Geschichte nicht? Ich bräuchte jemanden, der mir diese Texte genauso spannend erzählt. Nachlesen ist nicht dasselbe. Deswegen denke ich, das hat nichts mit Kirche zu tun, sondern mit der Art, wie man diese Geschichten weitergibt. Es ist die Erfahrung des Zuhörens, aber die gibt es so selten.
Birthler: Es kann viel verdorben werden. Man muss zum Zuhören einladen und Lust machen.
Haberlandt: Ich bin in Berlin-Köpenick, Friedrichshagen, aufgewachsen. Es gab eine Phase, da sind meine Bekannten in den Kindergottesdienst gegangen. Ich ging mal mit. Und dann haben sie die Geschichte mit Jesus durchgenommen, der übers Wasser lief. Ich war erschrocken. Ich konnte damit nichts anfangen, und es wurde nichts getan, mir etwas zu erklären. Ich dachte: Na, das ist ja ne tolle Gruppe hier. Für mich war das befremdlich, ich bin da nie wieder hingegangen. Es ist wichtig, dass nicht nur erzählt, sondern über die Bedeutung gesprochen wird.
Frau Birthler, als Chefin der Stasiunterlagen- Behörde haben Sie mit erschreckenden Geschichten zu tun, mit Verrat und Bespitzelung. Behält man da noch den Glauben an das Gute im Menschen?
Birthler: Als ich vor fünf Jahren anfing, hatte ich Angst, dass mich der Job niederdrücken könnte. Aber es ist ganz anders gekommen. Manchmal spreche ich mit meinen Mitarbeitern, die Tag für Tag Akten lesen – was ich selber nicht dauernd tue. Sie haben eine Art von Gleichgewicht entwickelt zwischen Mitgefühl und professioneller Distanz, wie eine OP-Schwester vielleicht. Andererseits sind in den Stasiakten nicht nur bedrückende, sondern auch viele tolle Geschichten drin. Ist ja logisch. Das Ministerium hat Informationen über starke Leute gesammelt, die Widerstand geleistet haben oder einfach nur anständig geblieben sind. Aber es steckt auch ein Berufsrisiko darin: Manchmal befürchte ich, dass ich mich verändere, wenn ich immer wieder die gleichen Geschichten höre, lese und weitergebe. Ich mache das mit Leidenschaft, aber irgendwann könnte es zur Routine werden. Das geht Schauspielern wohl genauso?
Haberlandt: Ich suche den Punkt, an dem mich die Geschichte wieder interessiert. Ich verknüpfe sie mit mir selbst. Es ist wie bei Lehrern, die einen Stoff vermitteln sollen. Wenn man früher das Gefühl hatte, der leiert das jetzt zum zwanzigsten Mal runter, dann wollte man als Schüler nicht lernen.
Birthler: Aber was genau macht den Unterschied aus?
Haberlandt: Die eigene Begeisterung. Das klingt einfach. Aber es ist wichtig, dass man mit Überzeugung erzählt, nicht nur einen Job macht.
Frau Birthler, ist es heute noch wichtig, ob ehemalige Stasispitzel in der Politik mitmischen oder nicht?
Birthler: Ich bin keine Anhängerin von Rache und Vergeltung, sondern von Klarheit und Transparenz. Nach meiner Erfahrung wird mit Menschen, die ihre Stasi-Vergangenheit einräumen, eher milde umgegangen. Übel genommen wird, wenn jemand lügt. Die Menschen haben ein Recht darauf, zu wissen, ob jemand, der in öffentlicher Verantwortung ist, Vertrauen gebrochen hat. Denn dann besteht die Gefahr, dass Vertrauen wieder missbraucht wird. Dagegen hilft nur die Wahrheit.
Haberlandt: Um mich mit dem Spitzel-Problem auseinander setzen zu können, müsste ich Genaues über die Geschichte der einzelnen Leute wissen. Ich würde nie sagen: Der war in der SED, also ist der ein Schwein. Das ist mir zu einfach. In der Presse liest es sich manchmal so, als wären die einen die Bösen, die anderen die Guten. Das gibt es nicht. Deswegen finde ich es gut, wenn man die Dinge offen legt. Sonst komme ich mir betrogen vor. Mit Informationen kann ich gut umgehen.
Birthler: Wahrhaftigkeit ist übrigens ein Grundmotiv im Alten und Neuen Testament. Die Geschichten über König David zum Beispiel enthalten auch schlimme Dinge. Er wurde als König verehrt, da hätte so etwas auch unter die Zensur fallen können. Diese Ehrlichkeit ist beachtlich! Wer würde heute wagen, über einen Helden Schlechtes zu sagen?
Kommunizieren wir zu wenig? Zu unkritisch?
Haberlandt: Es wird viel kommuniziert, jeder wird unglaublich zugeschüttet. Aber in die Tiefe gehen, das passiert selten.
Birthler: Ist es nicht eine Mode, zu sagen, es habe alles nachgelassen? Bei meinen Kindern erlebe ich eine intensive Kommunikation. Sie teilen sich mit und zeigen sich dabei. Im Geschäftsleben allerdings leisten es sich die Leute nicht, Schwächen zu zeigen, denn das kann ja den Kopf kosten. Nur in kleiner Runde kann es anders sein. Indem ich ungewöhnlich reagiere, mal mehr von mir zeige oder genau zuhöre, tue ich etwas für Intensität. Plötzlich fällt ein Gespräch aus der Alltagsroutine heraus.
Haberlandt: Wenn ich für einen Film werben muss und 20 Interviews hintereinander habe, rede ich den ganzen Tag und habe eigentlich nichts gesagt. Weil mich keiner was Ernsthaftes gefragt hat. Die Leute sagen, das sei das Geschäft, das müsse man so machen. Aber ich denke: Was ist das für eine merkwürdige Verabredung, die wir hier haben? Einer fragt mich, was keinen interessiert, und ich antworte etwas, was nicht interessiert.
Birthler: So etwas kann ganz schön nerven. Wenn ich abends meinen Tag bilanziere, frage ich mich manchmal, was ich in Erinnerung behalten möchte: Und manchmal finde ich nur eine Menge Nichts. Solche Tage kann man im Kalender streichen.
Wann geschieht etwas Wesentliches?
Haberlandt: Wenn es zu echten Begegnungen mit Menschen kommt. Neulich habe ich eine Kollegin näher kennen gelernt, von der ich dachte, dass ich sie bestimmt nicht mögen würde. Sie war ganz anders als erwartet, nicht arrogant, sondern herzlich und total lustig. Etwas Wesentliches passiert für mich auch, wenn ich einen guten Film gesehen habe oder wenn ich gut gekocht habe. Einfache Dinge eben.
Birthler: Im Grunde ist alles wesentlich, was intensiv ist. Das muss nicht nur mit Menschen zu tun haben. Wenn ich eine Idee habe, wie ich mein Zimmer gestalte, das ist auch was Tolles.
Haberlandt: Weil es eben nicht beiläufig ist und man sich konzentriert hat.
Birthler: Und es ist was Neues entstanden, und ich war ganz bei der Sache. War ganz bei mir und habe die Uhr vergessen.