Fest angeschraubte PCs mit Kabelanschluss ans Netz wirken museal. Der durchschnittliche Internetnutzer surft längst mobil mit Smartphone, iPad und Notebook über drahtlose Verbindungen. Aber es gibt sie noch – die Internetcafés. Viele sind Anhängsel eines Kiosks, Copyshops oder Gemischtwarenladens, versteckt in Hinterzimmern. Die Rechnerplätze bestehen aus Spanplatten.
Nicht wenige finden sich in Brennpunktvierteln mit hoher Migrantendichte. Gemeinnützige Cafés bieten Rentnern und anderen Online-Anfängern einen Internet-Einstieg mit fachlicher Anleitung. Hin und wieder stößt man sogar auf edle Internetsalons.
„Falken’s Maze“ hieß das mutmaßlich erste Internetcafé in Deutschland. Es wurde 1994 in Fürth eröffnet, ihm folgte eine Welle von Gründungen. „Internetcafés haben ihre beste Zeit sicher hinter sich“, sagt ein Sprecher der Bitkom, des Verbands der Informations- und Telekommunikationsbranche. Immerhin existieren noch knapp 2100 im deutschsprachigen Raum – bei weiter sinkender Tendenz, behauptet die Datenbank „online-cafes.net“.
Touristenmagnet mit Gruselfaktor: Internetcafé Helin, Neukölln
Kadir Anlayisli, 43, war an dem Tag im Juni 2012 im Dienst. Er stand vorne an der Theke, als er Luka Magnotta sah. Er kannte sein Gesicht aus Fernsehen und Zeitungen. Luka Magnotta stand im Verdacht, seinen Liebhaber in Montreal, Kanada, ermordet und zerstückelt zu haben. Nun betrat der international Gesuchte das Helin in Neukölln und setzte sich an Rechnerplatz 25. Anlayisli alarmierte eine zufällig vorbeifahrende Polizeistreife, sie nahm den Flüchtigen gleich im Internetcafé fest. In den folgenden Tagen belagerten Reporter aus aller Welt das kleine Café. Im Mittelpunkt ihres Interesses: der schüchterne Angestellte Kadir Anlayisli.
Das Helin, wenige Meter breit, fällt an der wuseligen Karl-Marx-Straße mitten in Neukölln kaum auf. Vorne an der Theke türmen sich Süßigkeiten und Getränke. Die PC-Tische hinten sind aneinandergereiht wie in einer Legebatterie.
chrismon: Schauen Sie sich Ihre Gäste seit Magnottas Festnahme genauer an?
Kadir Anlayisli: Nein, ich zerbreche mir nicht den Kopf, ob ein Gast gefährlich sein könnte. Für mich ist alles wie vorher – außer, dass mir Kunden mit mehr Respekt begegnen.
Erinnert etwas in Ihrem Café an die Festnahme?
Wir wollen kein Wallfahrtsort sein. In den Wochen nach der Festnahme haben uns etliche Touristen aus Sensationslust besucht. Sie ließen sich auf dem Stuhl fotografieren, auf dem Magnotta saß. Wir haben den Stuhl dann weggeworfen. Er war ohnehin alt und zerschlissen.
Wie haben Sie den Medienrummel nach dem Polizeizugriff erlebt?
Die Journalisten haben immer die gleichen Fragen gestellt: Wie hat Magnotta auf Sie gewirkt? Ahnten Sie, dass er ein böser Mensch ist? Schwierig, auf so etwas zu antworten. Er wirkte normal, trug Jeans, eine Lederjacke und eine Sonnenbrille. Aber wegen der Berichte geht es dem Internetcafé mittlerweile so gut wie nie, der Umsatz ist gestiegen, es kommt extrem viel Laufkundschaft.
Haben Sie von Ihrem Chef eine Gehaltserhöhung gefordert?
Nein. Die Polizei hat mir eine Urkunde verliehen und einen Gutschein in Höhe von 100 Euro, das war’s. Dafür bin ich jetzt im Kiez bekannt wie ein bunter Hund. Fremde Leute sprechen mich an: Ich sei der Beweis dafür, dass Neukölln besser sei als sein Ruf. Und dass hier anständige Leute leben.
Internetcafé Weltenbummler, Friedenau: Online-Akademie für Senioren
Michael Szekeres ist so alt wie Rolling-Stones-Star Mick Jagger: 70. In seiner Schulzeit lernte man noch mit dem Rechenschieber, legte Vinyl- statt Schellackplatten auf, kaufte vor Ladenschluss um 18 Uhr ein und wählte zwischen drei Fernsehprogrammen in Schwarz-Weiß. Heute lernt Szekeres, mit Excel-Tabellen zu arbeiten, er lädt sich Hörbücher herunter, shoppt bei Ebay und schaut Filmserien nachmittags auf dem iPad statt spätabends im TV. Sein Stammlokal: das Internetcafé Weltenbummler für Senioren.
„Nach meiner Pensionierung saß ich zu Hause und habe mich gefragt: Lässt du das alles an dir vorbeiziehen oder willst du noch ein bisschen mitmischen? Dann kam mein Neffe: ,Onkelchen, ich kriege einen neuen Laptop, willst du den alten haben?‘ Da wollte ich mit dem Ding auch umgehen können.
Ich war nie Autodidakt, brauchte immer jemanden, der mir zeigt, wie etwas funktioniert. Mein Sohn und die Enkel sagten nur: ,Ach, Opa, lass mal sein!‘ In der Zeitung bin ich auf das Internetcafé Weltenbummler des Humanistischen Verbands gestoßen. Die bieten Computerkurse für ältere Leute an. Windows, Internet, E-Mail – neun Kurse habe ich mitgemacht.
Vier, fünf Stunden bin ich jeden Tag im Netz. Meine Frau und ich haben Arbeitsteilung: Sie erledigt die schriftliche Post, ich schreibe Mails. „Stern“ und „Spiegel“ lese ich auf dem iPad, da gibt es Videos und Diashows zu den Artikeln. Seit kurzem mache ich einen Englischkurs. Da müssen Sie online Fragen beantworten, und der Computer sagt dann, ob Aussprache und Grammatik richtig waren. Bildbearbeitung konnte ich hier auch lernen. Gestern habe ich auf der Gartenparty unserer Kirchengemeinde fotografiert, die Bilder sind jetzt schon in der Cloud – Cloud-Computing, kennen Sie, oder?
Wenn sich die Familie meines Neffen in Frankfurt trifft, verabreden wir uns zum Skypen. Meine Mutter hole ich dann zu mir, so kann die auch mal alle sehen. ,Ist das ein Video?‘, fragte sie mich. Die Frau ist 90, sie kann sich das alles nicht mehr so recht vorstellen. Aber meine Generation – wer von uns will denn heute alt sein?
Zum Weltenbummler-Stammtisch kam einmal ein Herr um die achtzig, der wollte das mit dem Internet unbedingt noch lernen. Er hörte zu und sagte irgendwann: ,Entschuldigen Sie, aber was ist denn eigentlich Software?‘ Dann haben wir ihm das erklärt: Was du anfassen kannst, ist Hardware, was du nicht anfassen kannst, ist Software. Das hat der kapiert, und als ich ihn ein paar Jahre später gesehen habe, konnte der wunderbar mit dem Computer umgehen. Man muss einfach wissbegierig bleiben.“
Internetcafé im Übergangswohnheim Marienfelde: Chatroom für Flüchtlinge
Shoayb Osman hastet vorbei am Fußballplatz, über dessen Zaun Teppiche zum Lüften hängen. Gleich beginnt sein Dienst. „Internet!, Internet!“, rufen die Jungen und stürmen hinter ihm her. Ihr Ball bleibt im Tornetz liegen. Um Osmans Hals baumelt der Schlüssel für das Tor zur Welt.
Das Übergangswohnheim in Berlin-Marienfelde war einst Notaufnahmelager für Hunderttausende DDR-Flüchtlinge, heute warten hier 180 Familien aus zwanzig Nationen auf die Bewilligung ihres Asylantrags. Von den Fassaden bröckelt der Putz, in vielen Wohnungen fehlt das Waschbecken. Immerhin bekam die Einrichtung kürzlich ein eigenes Internetcafé.
Osman sperrt Raum 215 auf und knipst die Rechner an. Jetzt heißt es: warten. Die zwölf Computer – alle gespendet – sind alt, laut und träge. Osman behebt technische Probleme und passt auf, dass niemand verbotene Seiten besucht. Nebenbei löst er Deutschaufgaben oder klickt sich durch die Nachrichten aus seiner Heimat. Vor neun Monaten floh er vor dem Krieg in Somalia. Einen Computer hat der 26-Jährige dort nie besessen, aber öfter in einem PC-Shop geholfen. Der Job hier bringt zwar kein Geld ein, aber er gibt ihm zu tun.
Das Internetcafé im Übergangswohnheim ist eines von sieben, die Chu Ebens Verein „Refugees Emancipation“ in Brandenburger und Berliner Flüchtlingsheimen bislang eingerichtet hat. Chu Eben ist aus Kamerun, er trägt ein frisches, faltenfreies Hemd und schicke Schuhe. Er sagt: „Durch das Internetcafé treten die Leute aus ihrer Isolation.“ Das Café ist selbstverwaltet, die Heimleitung organisatorisch nicht involviert. Zumindest virtuell können die Flüchtlinge die engen Grenzen ihrer Residenzpflicht überschreiten. Und sie können sich bei Hilfswerken über ihre Rechte informieren.
Die Hälfte der Hausbewohner sind unter 14 Jahre alt. Ein Grüppchen zieht sich die „20 übelsten Fußballfouls“ auf Youtube rein. Zwei Jungen aus Kamerun und Serbien dirigieren unter wilden Tastaturschlägen virtuelle Fußballspieler über den Schirm; Deutschland gegen Kamerun, es steht 0:2.
„Die Erwachsenen kommen am Abend“, sagt Osman. Weil für Skype-Sitzungen Webcams und leistungsfähige Hardware fehlen, findet das Familiengespräch im Chatfenster statt.
St. Oberholz, Mitte: Dockingstation für Freischaffende
Ansgar Oberholz, 40, hatte die Idee für das Internetcafé St. Oberholz, einen „Hotspot“ fürs kabellose Surfen mit dem mitgebrachten Klapprechner. Ein Café also mit kostenfreiem WLAN-Zugang.
Früher hat Oberholz als Werber gearbeitete, er hat eine Modelagentur betrieben und alles Mögliche studiert, Philosophie und Forensik zum Beispiel. „Damals gab es in Berlin viele Leute, die so lebten wie ich. Sie waren permanent an irgendwelchen Projekten zugange, hatten aber keinen festen Platz, um ihre Rechner aufzuklappen.“
Sein Café erinnert an den Lesesaal einer Universitätsbibliothek: ein heller Raum, wo junge Großstadt-Hipster mucksmäuschenstill vor sich hin brüten – die Männer stoppelbärtig, die Frauen dezent geschminkt. Sie scheinen sehr konzentriert zu sein, und manche Stirn ist ähnlich zerfurcht wie die Holzplatten der Tische.
St. Oberholz gilt als Treff der Kreativen von Berlin-Mitte. Hier erledigen Freiberufler, die spät aufstehen, ihre Arbeit. Ein Informatiker entwickelt Apps fürs Smartphone. Eine Architektin bastelt am Grundriss eines Gebäudes. Ein Feuilletonist schreibt einen Essay.
Vor ein paar Jahren haben die schwedischen Computer-Nerds Alexander Ljung und Eric Wahlforss im St. Oberholz programmiert – Woche für Woche. Es entstand „Soundcloud“, ein heute weltweit bekanntes Musikportal mit monatlich knapp 200 Millionen Nutzern.
Ein Stockwerk höher vermietet Ansgar Oberholz Büroplätze für Freischaffende, die längerfristig einen Arbeitsplatz brauchen. Und in den zwei darüberliegenden Etagen gibt es Appartements für Reisegäste.
Maasai Market, Wedding: Surftreff für Schwarzafrikaner
Geoffrey Odhiambo ist ein breitschultriger Kenianer von 34 Jahren und Inhaber des „Maasai Market“ in Berlin-Wedding. „Ich will das ganze Potenzial des Ladens nutzen“, sagt er und meint: Jeder Quadratdezimeter wird hier vollgestopft. Die Internetnutzer klemmen sich auf Barhocker, statt auf bequemen Stühlen zu sitzen. Zigarettenschachteln stapeln sich in einem Wandregal hinterm Chef. Am PC-Platz 1 surft ein älterer Mann im Jobportal einer Berliner Boulevardzeitung. Das Computergehäuse zu seinen Füßen ist mit Pappe geflickt.
Ein Afrikaner wie die meisten Kunden. Ghana-, Guinea-, Kongo-, Sambesistraße, Sansibar-, Senegal-, Togo-, Transvaal- und Ugandastraße heißen Straßen im Wedding. Einst sollte das Viertel der deutschen Kolonialgeschichte huldigen. 100 Jahre später leben tatsächlich Afrikaner im „schwarzen Kiez“. Friseure glätten krauses Haar, eine Redaktion gibt ein afrikanisches Magazin heraus, Restaurants servieren gedünstete Yamswurzel und Foufou in Erdnussbuttersoße.
Auch Mohamed Bah aus Sierra Leone hatte mal ein Internetcafé mit Spätshop. Vormittags liefen da Deutschkurse, abends Versammlungen seines afrikanischen Kulturvereins. Geoffrey Odhiambo war seine Aushilfe. Im Herbst 2010 stahlen Einbrecher Zigaretten, Fernseher und die Kasse mit den Tageseinnahmen. Bah musste schließen und versuchte mit seiner Putzfirma „Mano River Clean“ den Verlust zurückzuverdienen. Heute lässt Geoffrey Odhiambo seinen früheren Chef in einem Hinterzimmer des „Maasai Market“ Putzeimer und Spülmittel lagern.
Fast jeder dritte Gründer in Deutschland hat ausländische Wurzeln, meldet die Website des Bundeswirtschaftsministeriums. Der Grund: Ausländische Abschlüsse zählen hierzulande wenig, viele Einwanderer finden nur schwer eine Anstellung.
Geoffrey Odhiambo hegt große Pläne. Um sich den Wünschen seiner Kundschaft anzupassen, will er künftig ein breites Sortiment afrikanischer Produkte anbieten. Haarteile, Gewürze, kenianisches Bier. Die Rechner sollen bleiben. „Ich dachte eigentlich, Internetcafés sind antiquiert. Aber meine Kunden bestehen darauf“, sagt er.