Die Walküre Brünnhilde wird von Ihrem Vater Wotan auf einem flammenumloderten Felsen in den Schlaf gesungen: Szenenbild aus der jüngsten Frankfurter "Ring" - Inszenierung - Foto: Monika Ritterhaus
So viel Jenseits in Noten!
Er träumte von Erlösung, erzählte von der Gebrochenheit der Existenz und brachte das Heil zum Klingen. Richard Wagners Botschaft war hoch religiös – aber wenig christlich. Am 22. Mai feiert die Musikwelt seinen 200. Geburtstag
09.04.2013

Im wunderschönen Monat Mai
kroch Richard Wagner aus dem Ei:
ihm wünschen, die zumeist ihn lieben,
er wäre lieber drin geblieben.

Mit diesem Vierzeiler beglückwünscht sich Richard Wagner 1855 zum Geburtstag; vielleicht hat er Angst, es könnte sonst niemand tun. Er gibt gerade Konzerte in London. Kein Mensch, der sich seiner Weltkindschaft einigermaßen sicher ist, käme auf eine solche Idee. Das Urei: prägnante Selbstvorstellung eines Mannes, der bald allen zeigen wird, was es heißen kann, sich selbst auszubrüten.

Selbsthervorbringer gelten schon vom Typus her als nicht sehr gottesanfällig. Und dazu dieses Imperatorengesicht, dieses Welt­erobererkinn. Gottesfürchtige sehen anders aus. Die wollen auch anderes. Vielleicht hat man deshalb kaum bemerkt, wie religiös begabt und bedürftig Richard Wagner war in seiner ganzen ­Gottesungewissheit. Dabei hat schon Friedrich Nietzsche, Bei­nahe­adoptivsohn und intimster Mitwisser des Komponisten, davon gesprochen, dass in Wagners Opern immer jemand erlöst werden will. Doch es klang abschätzig, bloßstellend.

Es kommt darauf an, das Motiv der Erlösungsbedürftigkeit bei Richard Wagner sehr ernst zu nehmen. Richard Wagner hat das Genre der Erlöseroper erfunden!

1855 in London . . .

. . . komponiert er gerade „Die Walküre“. Die ­bevorzugte christologische Position – sich selbst zum Opfer zu bringen – nehmen bei Richard Wagner Frauen ein. Tochter Gottes statt Sohn Gottes! Das Wotanskind, die Walküre Brünnhilde, ist die vielleicht größte und aussichtsloseste seiner Erlöserinnen. Richard Wagner hätte Wichtigeres zu tun, als hier in London Konzerte zu geben. Er müsste eigentlich Brünnhilde in den Schlaf singen.

Imperatorengesicht mit Welterobererkinn - Gottesfürchtige sehen anders aus: Richard Wagner (1813-1883) auf einer Fotografie 1871, er war in zweiter Ehe mit Cosima verheiratet und kündigte seine Festspiele in Bayreuth an - Foto: Franz Hanfstaengl/akg-images
Auf dem flammenumloderten Felsen zu ruhen, um dem Erstbesten – nein, dem Furchtlosesten, also doch dem Erstbesten – zu gehören, ist Wotans Strafe für die Eigenmächtigkeit seiner Lieblingstochter. Brünnhilde hatte das getan, was der Gott selbst wollte, aber – weil er an Verträge gebunden ist – nicht durfte: dem Sohn Siegmund zum Sieg im Kampf zu helfen. Es ist die vielleicht schönste Stelle im „Ring des Nibelungen“. Ein Wiegenlied dringt durchs Feuer, und selbst der anarchische Feuergott Loge beugt sich ein einziges Mal unter eine Tonart, unter E-Dur, die Tonart der Liebe.

Allmächtige Götter sind ein recht spätes Produkt der göttlichen Evolutionsgeschichte. Der „Ring“ kennt keine. Wotan ist zwar Herr der Verträge, aber eben auch ihr Knecht. Er darf nicht, was er will. Das unterscheidet ihn von der Presse. Die „Times“ betrachtet bereits Richard Wagners Anwesenheit in der Hauptstadt Britanniens als Irrtum und wird nicht müde, das ­ihren Lesern immer aufs Neue mitzuteilen.

15 Jahre zuvor. Paris, Mai 1840.

Richard Wagner, 26 Jahre alt, hat sich selbst hierherberufen, an die Weltspitze der Oper. Er hatte kaum das Reisegeld besessen, und die Hälfte ­seines „Rienzi“, mit dem er die Musikwelt erobern wollte, war auch noch ohne Noten. Doch nun war er am Ende. Er wusste nicht, ob er seinen 27. Geburtstag noch erleben wollte. Jetzt schrieb er den vielleicht fragwürdigsten, aber auch erschütterndsten Brief seines Lebens: an den Komponisten Giacomo Meyerbeer, damals der Stern der Pariser Oper.

Nach vier Seiten Einleitung heißt es: „Ich bin auf dem Punkte, mich jemand verkaufen zu müssen, um Hülfe im substantiellsten Sinne zu erhalten. Mein Kopf u. mein Herz gehören aber schon nicht mehr mir; – das ist Ihr Eigen, mein Meister; – mir bleiben höchstens nur noch meine Hände übrig, – wollen Sie sie brauchen?“ Er will nicht nur seine Arbeitskraft verkaufen, wie es plötzlich so viele tun müssen, sondern sich selbst: „Ich sehe ein, ich muß Ihr Sclave mit Kopf und Leib werden, um Nahrung u. Kraft zu der Arbeit zu erhalten, die Ihnen einst von meinem Danke sagen soll.“ Der Vorteil, irgendjemandes Sklave zu werden, besteht nicht zuletzt darin, sich selbst los zu sein.
 

Die Pariser Erfahrungen . . .

. . . des Nicht-mehr-weiter-Könnens, durchweg von ­einer geradezu absurden, verzweiflungsvollen Tragikkomik, waren nicht nur äußerlich, sozial, physisch, fast mehr noch waren sie innerlich: Welt hinter Glas. Die seelischen Versehrungen und Reifungen, die er hier erfuhr, wird er nie mehr verleugnen können. Das Einzige, was er noch wollte, war Entlastung von dem Fluch, man selbst zu sein. Auch das, das zuerst, meint Erlösung.

Er entwirft den „Fliegenden Holländer“, die Geschichte eines Verfluchten – siehe „Piraten der Karibik“ –, die erste Oper, in der Wagner nach Wagner klingt. Er weiß inzwischen, was eine Seefahrt ist, denn die Reise von Riga über London nach Paris hatte ihn über zwei Meere und beinahe auf deren Grund geführt. Und er weiß nun auch, was es heißt, wie der Fliegende Holländer verflucht zu sein und nirgends mehr an Land gehen zu können, schon gar nicht an seiner eigenen Küste.

Natürlich komponiert Richard Wagner die Erlösung. Er komponiert alles, was er in Paris vergeblich sucht, die vollkommene Selbstlosigkeit zuerst.

Mit den nächsten Opern . . .

. . . „Tannhäuser“ und ­„Lohengrin“ betritt Wagner christlichen Boden. Im „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg“ geht es um den Zwiespalt von sinnlicher und himmlischer Liebe. Welche gewinnt, ist klar. Aber man lasse sich nicht täuschen: Der „Tannhäuser“ sollte eigentlich „Der Venusberg“ heißen – wer wie Tannhäuser die ewige Lustgrotte hinter sich lassen soll, muss erst einmal drin gewesen sein! Und er, der Künstler, darf den Venusberg zum Klingen bringen!

Vielleicht niemand sonst hat die sinnliche Liebe so komponiert wie Wagner. „Tristan und Isolde“ wird ihre Apotheose sein, ein Beischlaf in drei Akten, ins Kosmische geweitet. Oder sollte man sogar hier sagen: ins Religiöse? „Religio“ meint Rückbindung an die Ursprünge. Richard Wagner – und das macht seine Faszination wohl aus – setzt uns auf dem eigenen Ur- und Abgrund aus, und der reicht weiter zurück, als wir denken können. Für Gott, den Herrn, hat Wagner keine Töne, umso mehr aber für „das Reich der Mütter“ und für ein Zurücksehnen nach der verlorenen Schoßgewissheit: Das Motiv der Erda, der entmachteten Urgöttin im „Ring“, ist das der noch unverletzten Natur, aber nach Moll eingefärbt.

Lässt sich von religiöser und nichtreligiöser Musik sprechen?

Es gibt Weltordnungsmusik, Weltordnungsbestätigungsmusik, eine Architektur des Seins in Tönen. Die Trostmächtigkeit etwa der Musik von Johann Sebastian Bach liegt nicht zuletzt in ihrer strengen Ordnung. Dieser Formenkanon löste sich im Laufe der Jahrzehnte mit allen übrigen Großgewissheiten. Die Musik wurde subjektiver, ließ sich in alle Stimmungen der Seele übersetzen – der endlichen Seele, die doch das Unendliche in sich zu fassen vermeint. Vielleicht kann man es an keiner Musik deutlicher machen als an Beethovens IX. Sinfonie, ihrem Schluss­chor: Das ist ganz von dieser Welt, die Selbstfeier des Menschen und seiner Selbsthervorbringung. Das Göttliche ist hier lediglich das Lob der eigenen unendlichen Möglichkeiten.

Bei Wagner, der an Beethoven hörend wurde, ist das anders. Schon im „Fliegenden Holländer“ ist die Gebrochenheit der Existenz zu spüren. Wagner komponiert Doppelaffekte. Keine Lust ohne Schmerz, keine Schönheit ohne ihren Widerruf. Wenn man also religiöse und nichtreligiöse Musik unterscheiden wollte – nicht ihren Gegenständen, sondern ihrem Grundgestus nach –, so zählt Wagners Musik, seltsam unbemerkt bis heute, ohne ­Zweifel zur religiösen Kunst.

Ob es die Erlösung gibt, weiß keiner; wir wissen nur, wie sie klingt: vierfach geteilte Violinen, kaum hörbar, ganz weit oben, immer höher schwebend. Ein Vorhang aus Licht. Sie schwellen an, nur leicht. Der Klang wächst, und dann zwei Oboen und zwei Flöten. So beginnt der „Lohengrin“, die Geschichte vom Gralsritter, der sich nach der irdischen Liebe sehnt. Der eigentlich Erlösungsbedürftige ist er. So viel Jenseits in Noten! Und doch ist das Christentum im „Lohengrin“ historisches Ambiente und der Lohengrin vor allem eine Maske des Komponisten selbst, des Künstlers, dem nur ein Scheinleben bleibt.

Als Wagner im April . . .

. . . die letzte Note dieser Oper niederschrieb, begann die 1848er Revolution in Deutschland, der Kampf um die bürgerliche Verfassung, und Wagner wurde zu ihrem Sprachrohr in Dresden. Kein Künstler seiner Größe hat sich jemals vor oder nach ihm so vorbehaltlos in den Dienst eines Umsturzes gestellt. Die Revolution wurde verraten und blutig niedergeschlagen. Da glaubte Richard Wagner schon längst nicht mehr in herkömmlicher Weise, schon gar nicht an die Lehren der Kirche.

Er glaubte mit den Literaten und Philosophen Heinrich Heine, Heinrich Laube und Ludwig Feuerbach an die freie Liebe und den freien Menschen. Sein folgenschwerstes Gottesbekenntnis formulierte er jetzt: „Der Mensch ist die Vervollkommnung Gottes. Die ewigen Götter sind die Elemente, die erst den Menschen zeugen. In dem Menschen findet die Schöpfung somit ihren Abschluss.“ Der „Ring“ wird den Beweis in Noten antreten.

Das passt doch alles nicht zusammen, dürfte man vermuten. Höchstens im Kopf eines immer aufs Neue Bekehrten. Aber kein geistiger Typus könnte Wagner ferner stehen als der Konvertit. Es gibt keine Umkehrungen in seinem Denken. Sein Leben war eine fortwährende, sich vertiefende Bekehrung zu sich selbst.

Zur Biografie eines Musikers . . .

. . . gehören auch seine nie geschriebenen Opern. Während der Dresdner Revolution fasste er den Plan zu der Oper „Jesus von Nazareth“, in der Jesus zum Sozialrevolutionär geworden wäre, zum Volksbefreier. Zu seinen nie geschriebenen Musikdramen zählen auch „Luthers Hochzeit“ und vor allem „Die Sieger“, ein buddhistisches Glaubensbekenntnis, das den „Wahn der Persönlichkeit“ wegschwemmt.

Man könnte sagen, er habe die buddhistische Religion des Mitleids durch die Philosophie Arthur Schopenhauers entdeckt, wenn Richard Wagner es nicht genauer gewusst hätte: Er hat sie in sich selbst entdeckt. Schopenhauer war ihm nur die übermächtige, nachträgliche Bestätigung. Es gibt Dinge, die erfährt man nicht von außen, die muss man immer schon in sich tragen, um sie zu verstehen.

Doch Wagners Rechtfertigungen seiner Sujets, ein Leben lang wiederholt, dürften fromme Zweifel kaum gemildert haben: Wo die Religion äußerlich, künstlich werde, wo sie gar mythische Symbole, Allegorien wörtlich nehme, werde die Kunst ihre Erbin, bewahre ihre Motive. Noch in seiner Schrift „Kunst und Religion“ von 1880 schreibt Wagner von den mannigfachen, vom „Glauben empfohlenen Unglaublichkeiten“, die Gott nur verdecken.

So klingt keiner, der zum Christentum zurückgekrochen ist, zurück unters Kreuz, wie Friedrich Nietzsche diagnostizierte. „Parsifal“ ist die Geschichte vom reinen Toren – „parsi“ heißt persisch der Einfältige, „fal“ meint „rein“ –, der sich durch das Mitleiden läutert. Wagner konnte schon 1858, als er den „Tristan“ komponierte, der fernen Geliebten Mathilde Wesendonck, der irdischen Bürgin Isoldes, mitteilen, was sie später im „Karfreitagszauber“ des „Parsifal“ hören werde: das Lied von der Einheit der Schöpfung.

Sein „Weltabschiedswerk“ . . .

. . . hat Wagner den „Parsifal“ genannt. Die Ankündigung ist deutlich genug. Es ist die Verherrlichung der Schöpfung und eine Verherrlichung seiner selbst – als ihr intimes Mitglied. Der Gekreuzigte, der mit diesem Werk die Weltbühne verlässt, ist nicht Jesus. Es ist Wagner selbst. Thomas Mann ­würde einmal von „frommer Verderbtheit“ sprechen.

Im zunehmend gottlosen 19. Jahrhundert übernimmt der Künstler gesellschaftlich die Rolle des Märtyrers, des stellvertretenden Opfers. Andere gehören einer Klasse an oder irgendeiner Gemeinschaft. Der Künstler gehört nur sich an: Selbstmitgliedschaft ist manchmal die schwerste von allen. In „Wieland der Schmied“ – noch einer nie ausgeführten Oper Wagners – ­porträtiert dieser den Künstler als stellvertretenden Christus. Sein Credo: Hätten wir das Leben, wir brauchten keine Kunst. Wir würden sie nicht einmal vermissen!

London, Frühsommer 1855.

Einmal im Jahr geht Queen Victoria ins Konzert, und dass sie ausgerechnet eines mit diesem unmöglichen Musiker Wagner wählen würde, von dem jeder „Times“-Leser weiß, was von ihm zu halten ist, nämlich gar nichts, setzt das musikalische London in Erstaunen. Zumal die Königin ausdrücklich die Wiederholung der „Tannhäuser“-Ouvertüre verlangte, die schon beim vorletzten Konzert erklang.

Die Königin von England kann den Venusberg hören! Ganz erhitzt habe sie dagesessen, sagt Wagner. Ausgerechnet Queen Victoria, die nicht unbedingt im Verdacht steht, eine Förderin der sinnlichen Ausschweifung zu sein. Sie ist gar nicht dick, lässt Wagner seine Frau wissen, aber sehr klein. Und sie habe eine rote Nase. Ihre für königliche Verhältnisse geradezu bestürzende Begeisterung überträgt sich auf den ganzen Saal. Richard Wagner beginnt, zum europäischen Ereignis zu werden.

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Wär hätte je daran gezweifelt, dass Wagners Musik religiös funktionabel war? Deshalb konnte Nazi-Deutschland sie doch so komplett instrumentalisieren.
Allerdings ist sie fundamentales Heidentum: die in Noten gegossene Selbstverkrümmung und Überhöhung des Menschen. Am Ende dieser Selbstvergötterung stehen Dachau und Birkenau, weil Menschen, die sich selbst zu Göttern stilisieren, kein Mitleid mit den Schwachen haben. Und weil bei ihnen der leidende Gottessohn -Christus- nur als Spottfigur ihren Platz hat.
Wozu schwenkt ein evangelisches Portal so überschwenglich den Weihrauchkelch für diese Geisteshaltung?
Mir wird bei Beweihräucherungen immer übel -wenn Wagner der belobhudelte ist -erst recht. Für mich als Christin ist seine Musik brechreizend.

Nietzsche hat berechtigte Kritik an Wagners Musik geäußert. Besser ist die Musik Bizets ("Carmen"). Aber Nietzsche hatte unrecht, als er erklärte: "Gott ist tot". Vielmehr soll das Gottesbild reformiert werden. Es gibt keinen allmächtigen Gott. Sondern es gibt ewig verborgene Dinge in der Natur. Mehr dazu auf meinem Blog (bitte auf meinen Nick klicken).