Caro / Waechter/fotofinder
„Was heißt hier typisch Roma?“
Sie stehlen, betteln und wollen Sozialhilfe. Wirklich? So dachte selbst der Balkanexperte Norbert Mappes-Niediek, bis er Roma besuchte und seine Vorurteile bemerkte
Ruthe Zuntz
15.01.2013

chrismon: In Ihrem Buch wollen Sie Vorurteile gegen Roma widerlegen. Was waren denn Ihre Vorurteile?

Norbert Mappes-Niediek: Bevor ich das erste Mal im Norden von Skopje in die Roma-Siedlung Šuto Orizari (Shutka) ging, habe ich im Hotel in Skopje alles abgelegt, was man mir hätte stehlen können. Ich fuhr schlicht gekleidet mit dem Bus in dieses Viertel und kam mir sehr heldenhaft vor. Und war dann nach kurzer Zeit beschämt, weil niemand auch nur den Versuch gemacht hat, mir irgendwas zu stehlen. Im Gegenteil: Ich war umlagert von Leuten, die freundlich auf mich eingeredet und mich am selben Tag sogar zu einer Hochzeit eingeladen haben. Das Erlebnis vergesse ich nicht wieder. Ich war seither in allen großen Roma-Slums, und mir ist nie etwas passiert – weder hat mir jemand etwas gestohlen noch ist irgendjemand aggressiv gewesen. Im Gegensatz zu den brasilianischen Favelas oder den südafrikanischen Townships herrscht da eine kaum vorstellbare Sicherheit.

Ihre unangenehmste Situation mit Roma?

Mappes-Niediek: Eine unangenehme Situation war in Skopje auf so einem Parkplatz, wo man mir abends, während ich im Hotel war, das Auto gewaschen hat, ohne Auftrag. Ich fand am nächs­ten Morgen das komplett gewaschene Auto vor. Am anderen Ende des Parkplatzes standen ein paar Männer, denen ich fünf Euro gab. Ich dachte, das zahlt man in einer besonders teuren mazedonischen Waschanlage. Einer sagte, dies sei aber viel zu wenig. Das war für mich nur schwer zu verdauen. Ich hatte oft das Gefühl, man reicht den kleinen Finger und sie nehmen die ganze Hand. Unsere Dankbarkeitscodes gelten nicht in einer Armutsgesellschaft. Wenn man einem Bettler eine Münze hinwirft, lächelt er freundlich, es ist nur eine Fassade. Aber in Wirklichkeit geben wir ja kaum etwas und verdienen dafür auch keine Dankbarkeit.

Was halten Sie von der deutschen Politik gegenüber Roma?

Mappes-Niediek: Deutschland droht Serbien und Mazedonien damit, die Visumspflicht wieder einzuführen, und beide werden genötigt, die Roma bei ihrer Ausreise zu kontrollieren. Ma­zedonien debattiert über einen Gesetzentwurf, der bis zu vier Jahre Haft für Menschen vorsieht, die anderen die Ausreise in den Westen zum ­Erschleichen von Leistungen erleichtern. Um dieser Strafe zu entgehen, müssten Busfahrer von Reiseunternehmen Roma heraussuchen – und Menschen mit dunkler Gesichtsfarbe und abgewetzten Turnschuhen, die wie Roma aussehen könnten, die Fahrkarte verweigern. Das ist ethnische Diskriminierung und wird Mazedo­nien beim nächsten EU-Fortschrittsbericht als Verletzung der Kopenhagener Kriterien aus­gelegt. Denn die verpflichten alle EU-Beitrittsländer, Minderheiten zu achten und zu schützen.

Wie integrieren sich Roma in Deutschland?

Mappes-Niediek: Seit den 1960er Jahren sind wohl Zehntausende Roma aus Serbien und ­Mazedonien nach Deutschland als Gastarbeiter gekommen. Unter den Gastarbeitern waren Jugoslawen, und zu denen zählten auch die Roma, immer und überall gut integriert. Sie schlossen durchschnittlich viele Ehen mit Deutschen, ihre Kinder hatten eine gute Abiturquote. Roma sagten allerdings nie, dass sie Roma sind, das mussten sie auch nicht. Sie pflegen ihre Tradi­tion in der Familie und reisen einmal im Jahr in ihre Heimat, haben aber keinerlei Integrationsprobleme.

Was möchten Sie mit Ihrem Buch bewirken?

Mappes-Niediek: Ich hoffe, dass man begreift, wo die Ursache für die Probleme der Roma liegt: nicht in ihren kulturellen und ethnischen Be­sonderheiten, sondern in der Armut Südosteuropas. Dort hat sich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs dramatisch viel verändert. In ländlichen Gegenden, wo viele Roma leben, wurde oftmals der öffentliche Nahverkehr eingestellt, man gelangt nicht mehr zu seinem Arbeitsplatz und kann seine Kinder nicht auf weiterführende Schulen schicken. Wo Busse noch fahren, sind sie für arme Roma unbezahlbar. Seit zwölf Jahren fördert die EU viele Hilfsvereine für Roma, die teilweise nützlich sind. Aber die Lage der Roma hat sich dadurch nicht verbessert. Die EU muss Armutspolitik betreiben, keine Roma-Politik. Nur ist Armutsbekämpfung wesentlich schwieriger und teurer.

Wie hat sich Ihre Sicht auf die Roma verändert, als Sie für das Buch recherchiert haben?

Mappes-Niediek: Jetzt stelle ich mir die Frage nicht mehr, was das Besondere an den Roma ist. Das ist mir durch die Recherchen sozusagen unter den Fingern zerronnen. Typische Roma gibt es nicht, auch keine Roma-Merkmale.

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