{Eddie Gerald}
Granaten in eine Stadt schießen, Autos zerstören: Yehuda Shaul erzählt von seinen Erfahrungen als Soldat in Hebron. Er will die Öffentlichkeit wachrütteln – in Israel und jetzt auch in Berlin.
Ruthe Zuntz
27.08.2012

Herr Shaul, Ihre Organisation „Breaking the Silence“ ­dokumentiert Aussagen von israelischen Soldaten über ihren Dienst in den besetzten Palästinensergebieten. Wie kamen Sie vor acht Jahren darauf, diese Organisation zu gründen?

Shaul: Gegen Ende meines eigenen Militärdienstes diskutierte ich mit den Kameraden aus meiner Einheit. Was uns damals schockierte war, dass unsere Landsleute daheim überhaupt nicht wussten, was israelische Soldaten in den besetzten Palästinensergebieten erleben. Wir beschlossen, unsere Erfahrungen in einer Ausstellung mit Fotos und Videoaussagen von 65 Soldaten aus unserer Einheit öffentlich zu machen. Unsere Einheit war in Heb­ron stationiert. Also nannten wir unsere erste Aktion „Wir bringen Hebron nach Tel Aviv“. Im März 2004 beendete ich meinen Militärdienst, am 1. Juni 2004 begann die Ausstellung. Wir hatten keine Ahnung, wohin das führte, aber es schien das Richtige zu sein.

Soldaten berichteten über Verbrechen, die sie selbst begehen mussten. Wie reagierte Tel Aviv damals auf Hebron?

Shaul: 7 000 Menschen sahen die Ausstellung innerhalb eines Monats. Im Monat darauf wurden wir eingeladen, die Ausstellung im israelischen Parlament zu präsentieren. Junge Veteranen, die gerade entlassen waren, erzählten uns, dass sie gleiche Erfahrungen in Nablus oder Ramallah gemacht hatten.

Wie reagierte die Armee?

Shaul: Sie schickte Ermittler, beschlagnahmte Gegenstände aus der Ausstellung und lud uns zum Verhör ein. Ich wurde acht, neun Stunden verhört. Ich musste mich nicht selbst belasten, aber ich legte einen Teil der Verbrechen dar, die ich begangen hatte. Ich hatte Palästinenser als menschliche Schutzschilder genommen, Autos mit dem Panzer zerstört. Für all meine Verbrechen reichte die Zeit nicht.

Hatten Sie keine Angst?

Shaul: Nein, wieso? Ich hatte mir gewünscht, die Armee stellt mich vor Gericht. Das tat sie aber nicht, dann hätte sie auch den Brigadekommandanten verklagen müssen, der die Befehle gab. Auch hatte ich niemals einen Paläs­ti­nenser geschlagen und nie Privatbesitz geplündert. Ich habe gegen keinen Befehl verstoßen. Der Fehler liegt ja nicht bei den Soldaten, sondern in der politischen Mission. Jede Armee der Welt würde in Heb­ron bei der gleichen Aufgabe genauso handeln. Es geht uns ja gar nicht darum, Soldaten wegen Menschenrechtsverletzung zur Verantwortung ziehen. Dann säße eine ganze Generation hinter Gittern. Alle, die in den besetzten Gebieten ihren Militärdienst leisteten, haben ihre Hände befleckt.

 

Nach einer Woche war das Schießen der Tageshöhepunkt.

 

Was genau war Ihr Auftrag, als Sie Ihren Militärdienst ab 2001 in Hebron leisteten?

Shaul: Die jüdischen Siedlungen in Hebron beschützen. Heute leben dort 175 000 Palästinenser neben 850 Siedlern und 650 Frontsoldaten. Die Siedler wohnen im Tal, die Palästinenser auf den umliegenden Hügeln. Als ich 2001 da war, schossen die Palästinenser von dort aus jede Nacht auf die Siedler. Das Militär hatte drei Kontrollpunkte in der Stadt: zwei palästinensische Häuser und die frühere palästinensische Schule.

Und Ihre persönliche Aufgabe?

Shaul: Ich wurde auf einem Maschinengewehr ausgebildet, das Granaten zwei Kilometer weit feuert. Ich war in der ehemaligen Schule stationiert. Im ersten Geschoss fand ich mathematische Formeln auf der Tafel, einige Schulbücher und niedrige grüne Plastikstühle. Im zweiten Stock war eine Kaserne – Decken, Tarnnetze, Sandsäcke, Munitionslager. Mein Kommandant zeigte mir die Häuser und sagte, wenn die Palästinenser schießen, schießen wir zurück.

Mitten in die Stadt?

Shaul: Ja. Bei der der Ausbildung in der Negevwüste waren uns Sicherheitsvorschriften eingeschärft worden: Wer drei Handgranaten abfeuert, muss sich vergewissern, dass sich im Umkreis von anderthalb Kilometern vom Ziel kein Mensch befindet. Wir reden hier von Granaten, die Menschen in einem Umkreis von acht Metern töten. Ich sagte: „Auf keinen Fall werde ich in die Stadt reinschießen!“ Er sagte, ich hätte ohnehin keine Chance, das Ziel zu treffen. Ein sehr erfahrener Schütze treffe beim siebten oder achten Mal.

Haben Sie geschossen?

Shaul: Der Wortwechsel war mittags. Um sechs Uhr abends ­wurde es dunkel, die Palästinenser begannen, auf die Siedlung herunter­zuschießen. Ich erhielt den Schießbefehl. Im ersten Moment war ich innerlich zerrissen. Ich ging zum Maschinengewehr und richtete es auf das Ziel, drückte kurz ab. Dieses Gewehr feuert 88 Granaten pro Minute ab. In den vier, fünf Sekunden, bis die Granaten die Häuser trafen, betete ich, dass bei dem Schuss so wenige Granaten wie nur möglich losgingen und dass ich niemanden treffe. Dann schoss ich wieder. Am zweiten Tag war ich weniger aufgeregt. Nach einer Woche war das Schießen der Tageshöhepunkt.

 

Was wir hier in Hebron tun, ist nicht jüdisch.

 

Was sind das für Siedler in Hebron?

Shaul: Radikale. 1979 waren einige von ihnen erstmals seit Israels Staatsgründung in den zentralen Stadtteil Beit Hadassah eingedrungen. Das Problem sind aber nicht die paar verrückten Siedler in Hebron, sondern eine Regierung, die ihre Gesetze nicht durchsetzt. Laut Befehl war es uns strikt verboten einzuschreiten, wenn ein Siedler einen Palästinenser überfiel. Wir riefen die Kommandantur an, und die alarmierte die israelische Polizei. Wenn aber ein Palästinenser einen Siedler attackierte, mussten wir sofort reagieren.

Wieso ist die israelische Polizei im Palästinensergebiet tätig?

Shaul: Das darf sie aufgrund von Notstandsregelungen und auf Befehl des regionalen Kommandanten.

Was taten Sie, wenn ein Siedler Sie angriff?

Shaul: Nichts.

Wie lernt man diese komplizierten Spielregeln in Hebron?

Shaul: Man lernt sie. Während meiner ersten Wochen in Hebron stand ich mal mit meinem Kommandanten auf einem großen Platz im Zentrum. Siedler hatten da ein Zelt aufgeschlagen und beteten dafür, dass die Armee den palästinensischen Stadtteil Abu Sneina besetzt. Gegen Mittag kamen zwei palästinensische Jungen vom Markt mit Lebensmitteln. Plötzlich schrie einer der jüdischen Beter: „Der hat ein Messer!“, und alle stürmten zu den Jungen. Wir Soldaten stellten die beiden an die Wand und durchsuchten sie, während die Siedler weiterhin auf sie einschlugen. Die Jungen waren unbewaffnet. Also setzten wir sie auf den Boden und stellten uns schützend davor, während die Siedler weiterhin zuschlugen. Auch wir bekamen Hiebe ab, durften die Prügler aber nicht festhalten. Wir baten also die Kommandantur, die Polizei zu alarmieren. Nach zehn Minuten zogen die Siedler dann ab. Die beiden Palästinenser wollten weg. Aber wir junge Soldaten wollten ihnen helfen, eine Anzeige zu erstatten, und selbst für sie aussagen. Erst nach weiteren zehn Minuten kam Polizei, zuckte mit den Schultern und fuhr wieder weg.

Welche Bedeutung hat Hebron für die jüdische Geschichte?

Shaul: Hebron ist jüdischer als Tel Aviv, aber nicht israelischer. Wir haben jahrhundertelang nach Jerusalem gebetet, aber unsere jüdischen Wurzeln befinden sich hier und in Nablus. In Heb­ron sind die Erzväter Abraham, Isaak und Jakob sowie ihre Frauen Sara, Rebekka und Lea begraben.
Vor 1929 lebten schon Juden in Hebron. Bei einem Massaker wurden alle dort lebenden Juden entweder ermordet, oder aber sie mussten fliehen.
Shaul: Ist das relevant? Wir sollten von den Grenzen von 1948 ausgehen, und dann bleibt Israel in Hebron nichts. Es stimmt: Einige Nachfahren der Überlebenden von 1929 unterstützen die Siedler in Hebron. Aber andere sind dagegen. Den Großhandelsmarkt der Stadt hatte zuletzt Haim Hanebi geerbt, der Begründer der kommunistischen antizionistischen Bewegung Matzpen von 1962. Sein Großvater war der letzte Rabbiner der jüdisch-sephardischen Gemeinde in Hebron. Arabische Nachbarn hatten ihn und seine Familie unter lebensbedrohlichen Umständen vorm Massaker 1929 gerettet. Das Letzte, was Haim Hanebi auf seinem früheren Grundstück sehen will, sind Siedler. Auch
der frühere Parlamentspräsident Avraham Burg ist Nachfahre von Juden aus Hebron, ebenso mehrere linksgerichtete Israelis, auch linke Aktivisten. Sie alle sind absolut gegen diese Siedler eingestellt. Nur weil die meis­ten Siedler auf jüdischem Eigentum von 1929 siedeln, besitzen sie es keineswegs. Ihre Gebäude gehören dem Staat Israel und werden den Siedlern verpachtet. So oder so, was wir hier in Hebron tun, ist nicht jüdisch.

Was zum Beispiel ist unjüdisch?

Shaul: Graffitis mit der Aufschrift „Araber raus“ oder „Araber in die Gaskammer“, mit Davidsternen geziert. Oder die
eiserne Eingangstür von Palästinenserwohnungen einzuschweißen, damit sie nur durch Leitern und über das Dach hinauskommen können. Ich bin orthodox in meinem Glauben, aber ich lebe im Jahr 2012 mit humanistischen und demokratischen Werten.

 

Die radikalen Siedler wollen ein ganz anderes Israel als ich.

 

Wie kommen ausgerechnet Sie als Kind aus einer orthodoxen, rechtsgerichteten Familie darauf, sich so kritisch zu Ihrem Militärdienst zu äußern?

Shaul: Schon gegen Ende meiner Schulzeit habe ich mich politisch interessiert, las Martin Luther King und Gandhi und überlegte, ob ich überhaupt Militärdienst leis­ten sollte. Schließlich beschloss ich, dass gerade kritische Soldaten sich moralischer als andere verhalten würden. Aber das erwies sich spätestens beim Militär als Illusion.

Wie reagiert Ihre Familie heute auf Ihr Engagement?

Shaul: Manche entfernte Verwandte reden mit mir nicht mehr, aber im engen Familienkreis bleibt man zusammen. Ich komme am besten mit meiner Schwester zurecht, der Siedlerin. Wir reden nicht über Politik.

Was zieht Sie heute noch nach Hebron?

Shaul: An der Stadt mag ich, dass man hier keine Heuchelei erträgt. Nichts kann die Realität in Hebron schönfärben oder vertuschen. Die Trennung zwischen Israelis und Palästinensern wird hier perfektioniert. Was wir in Hebron anrichten, geschieht leider nicht nur unter meiner israelischen Fahne, sondern auch im Namen meines Gottes. Als ich in Hebron Kommandant war, legte ich meine Kopfbedeckung ab. Das war mein Protest. Meine Soldaten wussten, dass ich orthodox bin. Ich wollte ihnen signalisieren: Mein Gott ist nicht der Gott der Siedler. Wir gehören nicht der gleichen Religion an und teilen nicht die gleichen Werte.

Suchen Sie denn Kontakt zu den Siedlern?

Shaul: Wozu? Mit ihnen habe ich ein ideologisches Problem, sie wollen ein ganz anderes Israel als ich.

Ihre Organisation „Breaking the Silence“ veröffentlicht bis heute Videointerviews mit Soldaten und Veteranen.

Shaul: Wir haben bislang über 800 interviewt. Alle leisteten ihren Wehrdienst nach Beginn der zweiten Intifada im September 2000, sind also zwischen 18 und 30 Jahre alt – meine Generation. Wir informieren die Israelis, die uns in die besetzten Gebiete entsenden, was wir in ihrem Namen dort getan haben. Sie sollen den moralischen Preis der Besatzung begreifen.

Wie steht „Breaking the Silence“ heute da?

Shaul: Aus der kleine Gruppe von Freiwilligen wurde eine Organisation. Wir bieten dem Soldaten Rückhalt, der gerade seine Uniform ablegt und seine Wut über den Militärdienst in den Gebieten rauslassen will. Wir haben inzwischen elf Mitarbeiter, davon fünf Vollangestellte, und 25 ehrenamtliche Zeugen, die wöchentlich Führungen, Vorträge oder Infostände organisieren. Bei Sonderveranstaltungen helfen 15 weitere Exsoldaten. Weitere 40 vor allem weibliche Freiwillige verarbeiten die Zeugenaussagen.

Was wird aus der israelischen Präsenz in Hebron?

Shaul: Leute in Jerusalem sagen mir oft, diese Situation sei nicht aufrechtzuerhalten. Aber das geht schon seit 45 Jahren so. Das könnte so weitere 20, 30 Jahre weitergehen. Aber ich glaube, dass ich das Ende dieses Zustandes erleben werde.

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