Das Brachgrundstück zwischen Moschee und Kirche.
Foto: Dominik Asbach
Der katholische Pfarrer protestiert mit den Muslimen gegen Neonazis, die Moscheemitarbeiterin hat einen Magisterabschluss in evangelischer Theologie. In Marxloh, einem Stadtteil von Duisburg, gibt es eine lebendige Nachbarschaft der Religionen
Portrait Eduard KoppLena Uphoff
23.10.2012

Auf der Weseler Straße spuckt die Straßenbahn um die Mittagszeit neben etlichen Schülern eine Reihe junger verliebter Paare aus. Sie machen sich gleich daran, einen Überblick zu gewinnen über all die ­türkischen Brautmodengeschäfte. In den Schau­-fens­tern sind Kleider für Polterabend und Hochzeit ausgestellt, in allen Farben des Regenbogens und viele übersät mit Stickereien: Strassschmuck, Perlen, Samtrosen, Plüschgirlanden. Auf schwarzen Marmorfassaden der Häuser glänzen die goldenen Buchstaben der Firmennamen. Im Innern der Geschäfte tragen die Verkäuferinnen schicke Kopftücher. Die Weseler Straße in Duisburg-Marxloh hat sich in den vergangenen Jahren zum ­türkischen Brautmodenparadies entwickelt, ganze Hochzeits­gesellschaften statten sich hier aus, nicht nur aus der Region, sondern selbst aus Holland oder Belgien. Samstags ist die Straße fest in muslimischer Hand.

Die katholische Gemeinde St. Peter und Paul liegt gleich um die Ecke in einer kleinen Nebenstraße. Und von der Kreuzung davor kann man auch sie sehen: die stolze türkische Merkez-­Moschee. Dichter dran an der muslimischen Kultur kann eine Kirchengemeinde kaum sein. Auf die Moschee führt geradewegs die Emmastraße zu, darin eine ganze Reihe frisch gestrichener, schmucker Mehrfamilienhäuser, fast alle bewohnt von Migrantenfamilien. Ein Blick auf die Klingelschilder Emmastraße 18 und 20 zeigt es: Basol, Adiguezel, Aydin, Gökcin, Mähler, Isik, Grygorowicz.

Der Pfarrer an der katholischen Gemeinde St. Peter und Paul

Es gibt viel zu zeigen und zu erzählen in Marxloh – über schmerzhaften sozialen Wandel und über besondere Nachbarschaften, über diesen ungewöhnlichen Mix aus Zechenhäusern und bürgerlichen Jugendstilfassaden, alles überragenden Hoch­öfen und beschaulichen Rheinauen. Pfarrer Michael Kemper von der katholischen Gemeinde St. Peter und Paul steckt voller Geschichten. Er kam vor neun Jahren in die Gemeinde, jetzt wird er nach Bochum-Langendreer wechseln. Michael Kemper hat einen nicht geringen Anteil daran, dass in Marxloh ein freundlicher Geist zwischen den Religionsgemeinschaften herrscht. Wobei Kemper, kaum dass wir mit dem Rundgang begonnen haben, gleich seinen wichtigsten Grundsatz erwähnt: „Keinen religiösen oder kulturellen Mischmasch, sondern Respekt füreinander – darauf kommt es an!“

Die Situation fordert viel von der katholischen Gemeinde. Es gibt Veränderungsdruck von vielen Seiten: Die muslimische Community scheint immer stärker zu werden. Die Arbeitslosigkeit wächst (im Bezirk Duisburg-Hamborn, zu dem Marxloh gehört, lag die Quote im Mai 2012 bei 15,9 Prozent), die Kirche schrumpft und wird älter. Und da sind dann auch noch die antiislamischen und antikirchlichen Kampagnen von „Pro NRW“.

Pfarrer Kemper wirkt optimistisch. Er spricht vom Miteinander in den Nachbarschaften. Toleranz hat eine hundertjährige Geschichte in Marxloh: „Unter Tage und am Hochofen gibt es keine Deutschen und Türken, sondern nur Schwarze.“ Er steuert zielstrebig den kleinen Volkspark Schwelgern an, hinter dessen hohen Bäumen die Türme der Hochöfen erkennbar sind.

Thyssen-Krupp, Hartz IV, St. Paul

Marxloh liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zu Thyssen-Krupp, einem der größten Stahlwerke der Welt. „Diese direkte Nähe erfüllt viele Kruppianer mit Stolz“, sagt Pfarrer Kemper. Er kennt das Werk auch von innen. Was ihn da beeindruckte, aber auch mit Sorge erfüllt: „Man kommt durch riesige Hallen und sieht nur ganz wenige Menschen bei der Arbeit. Irgendwo fern unter der Hallendecke erkennt man einen Steuerstand, von wo aus riesige Kräne bedient und Züge entladen und auch die Thomasbirnen entleert werden.“ Arbeiteten in den fünfziger ­Jahren noch 70 000 Menschen in Duisburg in der Stahlbranche, sind es heute noch etwa 13 000. Die Folge: Mehr als ein Drittel der Gemeindemitglieder ist arbeitslos.

„Die meisten der deutschen Familien in Marxloh leben von Hartz IV“, sagt Pfarrer Kemper. „Wer eben kann, geht weg.“ Wegziehen heißt meist: in einen besseren Stadtteil weiter nördlich gehen. „Viele bleiben hier aber hängen, länger, als sie wollen.“ Es gibt viel Fluktuation, auch im Stadtteil selbst, zum Beispiel wenn es eine größere oder bessere Wohnung für’s selbe Geld drei Straßen weiter gibt. „Dann finden die Ein-Euro-Umzüge statt: Da sieht man ganze Familien mit Einkaufswagen in der Stadt unterwegs.“

Vor einem besonderen Problemfall stehen wir nach wenigen Hundert Metern: Die moderne Nachbarkirche St. Paul wurde im Januar 2008 geschlossen. Seither dämmert sie vor sich hin, Regen sammelt sich im Innern auf dem Boden. In einer großen Strukturreform hatte das Bistum Essen viele Dutzend Kirchen geschlossen. Auch das ehemalige Pfarrhaus steht zur Hälfte leer, die andere Hälfte ist an eine Familie vermietet. Im Juni dieses Jahres wurde eine weitere katholische Gemeinde aufgehoben: St. Konrad. „In Duisburg gab es einen enormen Be­völkerungsrückgang“, sagt Michael Kemper. „2007 gab es in Peter und Paul noch 4379 Katholiken, 2011 waren es 3887. Der Rest ist weggezogen, gestorben.“ Peter und Paul zählt jetzt zu Sankt ­Norbert, einer Großpfarrei mit fünf Gemeinden. Dabei war St. Peter und Paul erst 2003 aus drei Gemeinden hervorgegangen.

Annemarie Maas, Nachbarin von St. Paul

Annemarie Maas, eine resolute alte Dame, wohnt gleich neben St. Paul. Ihr ist das Bedauern, dass „ihre“ katholische Kirche aufgegeben wurde, deutlich anzusehen. Mehr aber beunruhigt es sie, dass sich muslimische Gemeinden für das Gebäude interessieren, es zur Moschee machen wollen. Wieder ein Stück Verlust. Bis vor fünf Jahren betrieb Annemarie Maas ihre Bäckerei mit Lebensmittelgeschäft. 87 Jahre gab es diesen Betrieb in der Wiesenstraße. Gekämpft hat sie darum, das Geschäft trotz des rasanten Wandels am Leben zu halten. Alles dahin. Auf dieser Straße gab es einmal Gaststätten und eine beliebte Metzgerei. Heute sind die Schaufens­ter zugemauert. Die meisten deutschen Kaufleute sind fortge­zogen, die alte nachbarschaftliche Infrastruktur ist zerbrochen. Als Nächstes die Kirche?

Der Schmerz darüber sitzt tief in Frau Maas. Aber soll man deshalb die Kirche besser verfallen lassen, als sie an Muslime zu verkaufen? Pfarrer Kemper lässt den Blick über die ehemalige ­Kirche schweifen und gibt zu bedenken: „Wir glauben doch an den einen Gott. Ich könnte es verstehen, wenn die Paulskirche zur Moschee würde.“ Frau Maas regt das auf, sie sagt: „Aber erst, wenn wir Alten ausgestorben sind. Warum muss es denn ausgerechnet eine Moschee sein?“

Den Moslems nicht allein das Feld überlassen

Dass es St. Peter und Paul noch gibt, liegt auch daran, dass man den Moslems nicht allein das Feld überlassen will. Sieben Moscheen gibt es allein in Marxloh, die neue Ditib-Merkez-Moschee ist die größte von ihnen, überhaupt Deutschlands größte Moschee. Dann gibt es noch zwei weitere türkisch-sprachige Moscheegemeinden, eine des Verbands der Islamischen Kulturzentren VIKZ, eine von Milli Görüs. „Beide sind in Ladenlokalen untergebracht“, wie Michael Kemper bemerkt. Außerdem nennt er eine marokkanische, eine libanesische und eine bos­nische Moschee sowie eine der Aleviten. Da will, da muss eine ­Kirche doch Präsenz zeigen.

„Dass die Gemeinde bleiben soll, haben wir gegenüber dem ­Bistum Essen so begründet: Notwendig sind die Stadtteilarbeit, die Seniorenarbeit, der interreligiöse Dialog und die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Familien – vornehmlich der Hartz-IV-Familien.“ Diese Aufgaben stellen sich in Marxloh besonders dringlich. Anfang des Jahres fiel die Entscheidung: Es wird zwar keine Gemeinde im umfassenden Sinne, aber ein „Sozialpastorales Zentrum“ bleiben: Ein Ordensmann, Pater Oliver Potschien,  übernimmt zurzeit die Regie und mit dem Kirchenvorstand auch die Kontakte zur Moschee. 

Eine Brachfläche, umrahmt von etlichen Zechenhäusern, liegt zwischen St. Peter und Paul und der Moschee. Dort wurden Teile des Filmes „Das Wunder von Bern“ gedreht, ein nostalgisch-­beschauliches Gelände, das den Eindruck vermittelt: Hier kann noch ganz viel Neues entstehen. Der Bau der Moschee, heute als „Wunder von Marxloh“ bezeichnet, ist eines davon.

Gottesdienste auch in polnischer, slowenischer und niederländischer Sprache

Gleich nebenan, zwischen Warbruckstraße 16 und 18 hindurch, gelangt man auf einen großen begrünten Platz mit ­Rasen und hohen Platanen, mit Wäschespinnen und zwischen den Bäumen gespannten blauen Leinen. Eine grüne Insel inmitten des Häusergevierts, ein grü­nes Wohnzimmer für türkische Familien. Nur das Eckhaus Warbruckstraße/Sandstraße ist dem Verfall preisgegeben. Auf dem heruntergelassenen Rollladen des ehemaligen türkischen Obst- und Gemüseladens ist ein Schriftzug aufgepinselt: „PRO NRW STOPPEN!“  

Mit den Rechtspopulisten hat nicht nur die große Merkez-­Moschee unangenehme Erfahrungen gemacht, sondern auch die katholische Gemeinde St. Peter und Paul. Als deren Auflösung nach langen Debatten endlich abgewendet war, kommentierte der „Pro NRW“-Bezirksvorsitzende Kevin Hauer im Internet: „In Marxloh braucht es keine Kirchen mehr, weil es kaum noch ­Christen gibt.“ Die selbst ernannten Retter der deutschen Kultur hatten offensichtlich kein Interesse daran, die überlieferte Kultur zu schützen. Doch wann immer „Pro NRW“ gegen die Moschee demonstriert, sammeln sich bei den Muslimen Katholiken und Protestanten sowie etliche politisch Engagierte auf der Gegenseite und machen deutlich: Sie halten zusammen.

Am Abend hat Pfarrer Kemper zur heiligen Messe einge­laden und danach ein paar Mitarbeiter der Gemeinde ins Pfarrhaus gebeten. Sie sollen erklären: Wie geht das mit dem Zusammenleben? Wo gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Christen und Muslimen? Wo wird Toleranz schwierig? Beim ­Gottesdienst hallt der geübte Gesang der wenigen Gemeinde­mitglieder durch das Kirchenschiff. Sankt Peter und Paul ist eine neugotische, einhundert Jahre alte Kirche. Gepflegt und ziemlich groß wirkt sie, bietet Platz für viele Hundert Besucher. Eine Kirche mit einer lebhaften Multikultigeschichte. In der Gründungsur­kunde 1910 steht: Der Pfarrer möge dafür sorgen, dass Gottesdienste gehalten werden auch in polnischer, slowenischer und niederländischer Sprache.

Türkische Musiker beim Gemeindefest

Und die Nachbarschaft funktioniert. 15 Plätze bietet die Übermittagsbetreuung der katholischen Gemeinde für Grundschulkinder, rund ein Drittel wird von muslimischen Kindern genutzt. Zum hundertjährigen Jubiläum lud die katholische auch die muslimische Gemeinde ein. Ein großes Fest. Türkische Musiker kamen und spielten ihre traditionellen Instrumente. Pfarrer Kemper gibt zu: „Für mich sind das immer so kribbelige Momente: Während die einen ihre türkisch-arabische Musik machen, stehen andere am Bierstand und hören nur mit halbem Ohr zu, und manchmal sieht man, dass es ihnen nicht gefällt.“ Aber die Gemeindemit­arbeiter fordern sie auch auf, sich das mal anzuhören, ergänzt Günter Althoff, der gegenwärtig eine Ausbildung zum Diakon durchläuft, sonst aber als IT-Fachmann arbeitet und in der Gemeinde als Küster wirkt. „Und der, dem es erst so gar nicht zu gefallen schien, hat es am Ende doch überstanden.“

Beim Ausflug der Ehrenamtlichen im Sommer war eine muslimische Frau dabei, sie erschien auch zum Gottesdienst, das war ihr wichtig. Auch in die Laternenmesse zum Martinstag, zu der ­eine Einladung an alle ergeht, kommen muslimische Eltern und Kinder. „Sie haben auch gefragt, was in unserer Messe da passiert.“ Haben sie mitgebetet? Konni Jünemann, ehrenamtlich Kate­chetin für Kommunionkinder, hauptamtlich kirchliche Ver­waltungsleiterin, sagt: „Beten erkennt man nicht, aber sie folgen mit Interesse dem Gottesdienst.“ Und Günter Althoff hat beobachtet, dass türkische Muslime gern zur Marienstatue gehen, wenn die Kirche geöffnet ist.

Die einzigen Gottesdienste, die Katholiken, Protestanten und Muslime gemeinsam feiern, sind die zur Einschulung – nicht in der Kirche, sondern in einem Pfarrsaal oder in einem Schulraum. Der Abschlussgottesdienst zum Schuljahrsende fand in diesem Jahr in der Begegnungsstätte der Moschee statt, nicht in der Moschee selbst. Es war die katholische Grundschule, die mit den gemeinsamen Schulgottesdiensten begonnen hatte. Dort sind schon seit Jahren viele muslimische Kinder. „Wir wollten nicht, dass christliche Kinder in den Gottesdienst gehen und die muslimischen im Regen stehen. Wir haben die Andachten mit dem evangelischen Pfarrer und dem Imam entwickelt“, sagt Michael Kemper.

Zehra Yilmaz, Ditib-Merkez-Moschee

Zehra Yilmaz, eine vergnügte Theologin von 48 Jahren, ist seit Oktober 2010 Leiterin der Bildungs- und Begegnungsstätte der Ditib-Merkez-Moschee. Sie studierte evangelische Theologie, machte den Magisterabschluss. Eine ideale Brückenbauerin. Lebt sie in Marxloh? „Ich wohne im Duisburger Süden. Da gibt es kaum Ausländer.“ Urlaub in der Türkei? Alle drei Jahre. Und: „Zu Hause sprechen wir deutsch.“ Töchter mit Kopftuch? „Ja und nein. Die Kleine nicht. Die ist inzwischen auf einer weiterführenden Schule, aber sie möchte kein Kopftuch tragen. Das ist okay so. Die Große, 17 Jahre alt, trägt Kopftuch. Das ist ihre persönliche Entscheidung. Ist auch okay so.“ Sie ist in Marxloh nicht nur auf Freundlichkeit gestoßen. „Wenn mich Leute beschimpfen, prallt das heute an mir ab. In der ersten Zeit, als ich frisch anfing mit dem Kopftuch, hat mich das aber jedes Mal sehr verletzt.“

Den Kirchengemeinden fühlt sie sich nahe: „Wir sind eine Minderheit auf beiden Seiten – Menschen, die sich für den ­Dia­log einsetzen. Wir leben nun einmal in einer säkularen Gesellschaft. Und gerade für die Jugendlichen spielen die Religionen keine Rolle.“ Auf einen Punkt ist Zehra Yilmaz gar nicht gut zu sprechen: dass auf Anordnung des Bistums Essen eine Kirche grundsätzlich nicht zur Moschee werden darf. „Wir sind doch auch gottgläubige Menschen. Diese Haltung des Bistums hat mich erschüttert. Wir haben uns doch dafür eingesetzt, dass die katholische Kirche St. Peter und Paul erhalten bleibt. Wir haben in einem Brief an das Bistum geschrieben: Unsere Hauptaufgabe ist der Dialog. Aber zum Dialog gehören mindestens zwei.“

Sie erzählt viel über Erziehungsprobleme in den deutschen wie den türkischen Familien, aber auch über das Interesse der Eltern an Fortbildung in Erziehungsfragen. „Türkische Frauen sagen: Das ist hier nicht die Türkei. Ich weiß nicht, wie ich mein Kind auf diese Gesellschaft vorbereiten soll.“ Viele Eltern sind überfordert. „Wenn die Familien und die Schulen keine Werte vermitteln, ­bieten sie Raum für die Radikalen“, sagt Frau Yilmaz. „Die nutzen das sofort aus und füllen die Leere dieser jungen Menschen mit radikalen Gedanken, sowohl Rechtsradikale auf deutscher Seite als auch Islamisch-Radikale auf türkischer Seite.“

Zehra Yilmaz sorgt sich um den Zusammenhalt der jungen Marxloher: „Kommen die türkischen Jugendlichen, kommen die deutschen nicht. Kommen die deutschen, dann gehen die türkischen woandershin. Nicht wenige Jugendliche sind nationalistisch eingestellt. Das führt dann auch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen.“ 55 Prozent der männlichen jugendlichen Migranten in Marxloh hätten keinen Schulabschluss oder nur einen Hauptschulabschluss. Der häufigste Grund: Sprachprobleme. „Diese Gesellschaft akzeptiert die jungen Menschen nicht“, sagt die Theologin.

Sylvia Brennemann, Marxloher Bündnis

Ein paar Häuser von der Moschee entfernt wohnt Sylvia Brennemann, Sprecherin des „Marxloher Bündnisses“, einer Art Bürgerbewegung in Sachen Toleranz. Sie kommt auf einen Sprung ins Café der Moschee. Sie ist gelernte Kinderkrankenschwester. Nach der Ausbildung „drei Kinder, drei Erziehungspausen“. Ihr Vater war klassischer Thyssen-­Malocher: Feuerungsmaurer. Zuletzt arbeitete sie im Bürgerbüro der Landtagsabgeordneten Anna Conrads von den Linken.

Marschieren die antimuslimischen Aktivisten von „Pro NRW“ Richtung Moschee, sind dort bereits die Marxloher Nachbarn ­versammelt. Dass es dem Marxloher Bündnis schon gelang, 5000 Menschen „gegen die Naziaufmärsche zu mobilisieren“, darunter etliche Kirchenmitglieder, das ist auch das Werk von Sylvia Brennemann. Im Jahr 2010, bei den heftigsten Demonstrationen  von „Pro NRW“, veranstaltete das Bündnis Straßenfeste und Demonstrationszüge. „Da ist der Stadtteil fast auseinandergeknallt von solidarischen Leuten“, berichtet Sylvia Brennemann stolz. „Jetzt sind wir im Schnitt zwischen 200 und 500 Leute, die sich gegen die Nazis hier versammeln und Protest machen.“ 


Offener Protest und stille ökumenische Zusammenarbeit: Beides hat seinen Platz in Marxloh. Dazu gehört es auch, gelegentlich deutlich zu machen, wo die Auffassungen auseinandergehen. Konni Jünemann von der katholischen Gemeinde sagt: „Ich möchte mir als Frau und Christin zum Beispiel nicht vorschreiben lassen, wo im Gotteshaus ich mich hinzusetzen und zu beten ­habe. Das würde ich in meiner Religion nicht mitmachen. Wenn die Frauen in den Synagogen oder Moscheen damit leben können – ihre Sache. Ich würde es nicht akzeptieren.“ Günter Althoff ­ergänzt: „Fundamentalismus ist für mich inakzeptabel. Wenn jemand seine Vorstellungen über meine Rechte stellt, dann ist das ganz schlecht.“ Dass es dazu nicht kommen darf, ist in den ­Kirchengemeinden und der Merkez-Moschee Konsens.

Auf dem Asphalt der Mittelstraße

Tradition oder Moderne – das ist auch in der türkischen Community ein Streitthema. Auf dem Asphalt der Mittelstraße, direkt vor dem Portal von St. Peter und Paul, liegen sich zwei türkische Mädchen wortwörtlich in den Haaren. Eine der beiden sitzt ­heulend auf der Straße, hält ihre heruntergerissenen Kopftücher in der Hand. Ein älterer türkischer Mann kommt hinzu und wartet, bis sie wieder ihr Haar bedeckt hat. Erst als ein BMW direkt an sie heranfährt, erhebt sich das Mädchen. Es steht da wie betäubt. Auf dem Gehweg fünf pubertäre Jungs. Sie mischen sich nicht ein, unterhalten sich aber lautstark über die Szene. Der Mann, der das Mädchen aufgelesen hat, trägt ihren Rucksack zu ihrem Wohnhaus in der Nebenstraße. Die Jungen, die alles beobachtet hatten, ohne einzugreifen, erzählen, worum es ging: Das Kopftuchmädchen hatte die Kopftuchlose moralisch herunter­gemacht und mit den Worten beschimpft: „Du alte Schlampe!“ Die hatte geantwortet: „Du Hurentochter.“ Dann trollen sich alle.

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