Thomas Meyer
"Es denkt in mir"
Das Wort bewegt etwas, auf der Kanzel ebenso wie auf der Leinwand. Ein Gespräch zwischen Nikolaus Schneider und Martina Gedeck
Lena Uphoff
Portrait Anne Buhrfeind, chrismon stellvertretende ChefredakteurinLena Uphoff
09.10.2012

chrismon: Frau Gedeck, in Ihrem neuen Film spielen Sie eine Frau, für die der Rest der Welt hinter einer unsichtbaren Wand verschwindet; sie ist ganz allein. Was geschieht mit ihr?


Martina Gedeck: Durch diese Wand wird ihr alles genommen, von dem man glaubt, dass es wichtig ist. Die Wand steht für ein Trauma, eine Krise. Vielleicht eine schwere Krankheit, ein Verlust – etwas, das einem den Weg zur Welt versperrt...

Nikolaus Schneider: ...und einem aber auch hilft, zu sich selbst zu finden.

Gedeck: Genau. In dieser Frau sind Fähigkeiten lebendig, die raus­wollen. Diese Krise gibt ihr die Möglichkeit, zwingt sie sogar, das zu erfahren. Dem stellt sie sich und erlebt sich selbst auf eine Weise, die sehr viel tiefer gründet.

Schneider: Der Film spricht von etwas anderem, als Filme sonst sprechen – jedenfalls nicht von Liebeshändel und Eifersucht.

Gedeck: Es schwingt bei ihr aber immer die Angst mit, dass das, was sie zur Verfügung hat, nicht ausreicht. Sie sucht ein Mittel gegen die Angst: Sie schreibt. Und nach vier Monaten weiß sie zwar immer noch nicht, was passiert, wenn sie ihr letztes Streichholz aufgebraucht hat, aber sie sagt: Das werde ich dann schon sehen. Erst mal füttere ich die Krähe.

Schneider: Ja. Der Schluss des Buches und des Films ist wirklich offen: Wir werden sehen, wie es weitergeht.

Gedeck: Das ist doch großartig, da sagt jemand: Ich habe viel verloren, aber da draußen wartet jemand auf mich. Es gibt immer jemanden, der auf einen wartet. Man muss es nur wahrnehmen.
 

"Man wird Teil einer anderen Wirklichkeit"
 

Sie sind beide Menschen, die im Beruf mit dem Wort umgehen.Aber was passiert mit dem Wort – auf der Kanzel oder auf der Bühne, bei den Dreharbeiten? Haben Sie das immer im Griff?

Gedeck: Ich muss den Text in mich aufnehmen, verwandeln und wieder abgeben, angereichert natürlich. Es kommt  viel von selbst. Ich mache nur den Raum auf. Das werden Sie wahrscheinlich auch kennen, Herr Schneider. Es gibt so was wie eine Inspiration. Ein Gedanke oder eine Idee kommt zu einem, einfach so.

Schneider: Man wird Teil einer anderen Wirklichkeit, die über den Text hinausgeht. Die greift auf Sie zu, wenn Sie sich öffnen.

Gedeck: So ist es! Ich kann es nicht selbst machen. Ich könnte mir vorstellen, dass es ähnlich ist im Umgang mit dem Wort Gottes.

Schneider: Wenn ich mich für die Predigt mit dem Text ausei­nan­dersetze, merke ich: Es denkt in mir. Das ist auch eine spirituelle Erfahrung: dass Gottes Geist mich anspricht. Und auf der Kanzel kann es passieren, dass es noch mal anders wird. Die ­Predigt entsteht dadurch, dass man predigt. Nicht anders!


Spüren Sie auf der Kanzel, ob das funktioniert?

Schneider: Ja! Ich fühle mich mal stimmig, mal nicht.

Gedeck: Ich glaube nicht, dass es beim Spielen ein Bewertungsbewusstsein gibt. Wenn ich mich öffne im Moment der Performance, kann ich nicht gleichzeitig ein Gefühl für Wirkung haben.

Schneider: Nein, in Ihrer Situation vielleicht nicht. Aber was in der Predigt passiert, das merke ich – und ich weiß, dass ich das nur bedingt in der Hand habe.
 

"Ich hatte das Gefühl, da gehöre ich hin"
 

Herr Schneider, Sie waren zu Beginn Ihrer Laufbahn sieben ­Jahre Pfarrer in Rheinhausen, 1977 bis 1984, Sie standen vor den Stahlarbeitern, die um ihre Existenz kämpften. Wie viel von diesem Pastor ist noch in dem Prediger 2012?

Schneider: Alles! Ich habe ja mit meinen Leuten gelebt, ich habe Anteil genommen, war bei ihnen, das hat mich geprägt. Ich stand auch nicht vor, sondern mit den Leuten vor der Hauptverwaltung von Krupp. Ich hatte das Gefühl, da gehöre ich hin.

Gedeck: Aber jetzt sind Sie in einer ganz anderen Position.

Schneider: Das kann man wohl sagen! Aber die Erfahrung geht mit. Ich bin unter den Menschen, aber ich stehe ihnen auch gegenüber. Wegen des Wortes Gottes, nicht meinetwegen. Gleichzeitig bin ich Teil meiner Gemeinde, niemand Hervorgehobenes.

Das ist reformatorische Theologie. Der Pfarrer ist einer von uns, er ist nur besonders ausgebildet, die Schrift auszulegen...

Schneider: Und alle anderen sind genauso wichtig, auch für die Predigt. Es kommt darauf an, dass unsere Predigt ermahnt, trös­tet, auf den Weg bringt – ob das gelingt, kann nur die Gemeinde entscheiden.

Frau Gedeck, auch Sie wissen nicht, ob Ihre Botschaft ankommt.

Gedeck: Nein. Beim Film entscheiden noch viele andere darüber. Einiges hängt etwa davon ab, wie geschnitten und montiert wird. Trotzdem kann ich auch innerhalb von zwei, drei Sekunden vieles rüberbringen. Ich muss die Stationen kennen, wo sich der Abgrund einer Figur öffnet, Wendepunkte. Wenn ich mir darüber klar bin, ist es auch für den Zuschauer klar. Das ist meine Freiheit.
 

"Schon als Kind habe ich mich mit Welten außerhalb ­unserer sichtbaren Welt beschäftigt"
 

Den Begriff „Beruf“ verdanken wir Martin Luther, der gesagt hat, der Schuster sei genauso berufen wie der Pfarrer. Der Gottesdienst des Schusters in der Welt besteht darin, gute Schuhe zu machen, seine Kunden fair zu behandeln, seine Familie zu ­lieben. Wann fühlten Sie sich berufen zu Ihrem Beruf?

Gedeck: Ich habe mich schon als Kind mit Welten außerhalb ­unserer sichtbaren Welt beschäftigt. Ich wollte dann zunächst Geisteswissenschaftlerin werden. In den 70er Jahren hat man ja eher von der Religion abgewandt erzogen. Aber die Gottesfrage hat mich immer begleitet.


Sie haben immer Meister Eckhart, den mittelalterlichen Mystiker, in der Tasche...

Gedeck: Ja, auch die Bibel, aber das ist erst in den letzten 15, 20 Jahren entstanden. Als ich jünger war, konnte mir kein Erwach­sener dazu etwas sagen. Das wurde nicht vorgelebt. Das Studium war mir bald zu wenig haptisch, so kam ich zum Schauspiel.


Schneider: Bei mir war es eher so, dass ich gerufen wurde. Ich wollte Sport studieren oder Medizin. Nach dem Abitur musste ich ins Krankenhaus, da kam mich mein Gemeindepfarrer besuchen und sagte, Mensch, du musst Theologie machen, wir brauchen Leute wie dich. Meine Eltern waren erst unglaublich sauer, das Ideal meiner Mutter war der Halbgott in Weiß – und ich das schwarze Schaf der Familie. Kirche fanden die nur merkwürdig.

Gedeck: Sie mussten sich auch erst in den Glauben hinein­finden.

Schneider: Ja, das ging zunächst über den Kopf, weil ich keine religiöse Sozialisation hatte, bei uns wurde nicht gebetet und gesungen. In der Grundschule war ich der Einzige, der nicht am Religionsunterricht teilnehmen sollte. Da hat die Lehrerin gesagt, setz dich dahinten hin, lies ein Buch – das habe ich auch gemacht. Aber die biblischen Geschichten, die sie dann erzählte, fand ich alle viel spannender als mein Buch.


"Ich gehe Wege, die ich nicht kenne"
 

Frau Gedeck, können Sie etwas spielen, was Sie selbst nicht kennen?

Gedeck: Ich mache das eigentlich immer. Ich gehe Wege, die ich nicht kenne, ich lasse mich entführen in eine Realität, von der ich nur spüre, dass sie da ist. Gerade das interessiert mich: mit Hilfe einer Figur, einer Rolle an Orte zu gehen, an die ich mich von mir aus nicht begeben würde.

Kann man das Offenbarung nennen?

Gedeck: Ich denke ja. Man wird in etwas hineingeführt. Und es offenbart sich etwas in dem Moment, in dem ich merke, dass ich die Verantwortung nur bedingt tragen kann. Als Schauspielerin habe ich auch Dinge darzustellen, die nicht einfach sind, ich muss Schmerz durch mich hindurchgehen lassen – oder Angst. Dafür mache ich mich bereit, und im besten Falle findet es dann statt.

Schneider: Bekommen Sie darauf Reaktionen? Und sind die für Sie wichtig?

Gedeck: Ich erlebe das selten, das liegt in der Natur der Sache. Aber nach Lesungen zum Beispiel tauscht man sich aus, beim Signieren erfahre ich, was die Menschen erleben, wenn sie meine Filme sehen: Viele zeigen sich dankbar oder berührt. Das ist beruhigend, aber nicht ausschlaggebend. Das Eigentliche ist, dass man die Möglichkeit hat, wesentlich zu sein innerhalb des Berufs.

Schneider: Das wäre dann die spirituelle Erfahrung...

In unserer Welt repräsentiert eine vordergründige Rationalität den Erfolg – wir messen in Geld, in ­Metern, in Zeit. Welche Rolle spielen da Kunst und Religion?

Schneider:
Die großen Gestalten der ­Bibel waren vordergründig alle mehr oder weniger Verlierer. Abraham musste 100 werden, bevor er überhaupt einen Sohn bekam, Mose durfte nicht ins ­Gelobte Land...

Gedeck: ...und er konnte nicht mal richtig sprechen!

Schneider: Ja, er stotterte und wollte den Job gar nicht. Ebenso wie Jeremiah. Auch Jesus ist nach weltlichen Maß­stäben gescheitert. Dietrich Bonhoeffer ebenfalls, mit all seinen Bemühungen, gegen das Unrechtsregime der Nationalsozialisten anzugehen. Was unseren Glauben ausmacht, ist seine Lebenszugewandtheit. Wichtig ist allerdings auch der Bezug zum Menschen. Man kann Spiritualität nur mit Menschen zusammen erleben.

Gedeck: Weil es dann eine Antwort gibt.

Schneider: Ja! Ich brauche diese beiden Bezüge – und ganz vieles andere brauche ich dann nicht. Frau ­Gedeck, da habe ich noch eine Frage zu Ihrem Film. Der ist ja ausgesprochen menschen­skeptisch. Das Ehepaar verschwindet. Der einzige Mensch, der noch auftaucht, ist eine Katastrophe. Was bedeutet das?


"Ich habe diese Wand für mich ins Innere des Menschen verlagert"

 

Gedeck: Ich habe diese Wand für mich ins Innere des Menschen verlagert: Diese Frau ist von der Welt getrennt, aber nicht vom Leben. Da ist jemand in einem Zwischenreich, vielleicht auch auf dem Weg ins Jenseits. Zugleich ist es ein Heilungsprozess. Es ist ein Zeichen von beginnen­der Heilung, dass wieder ein Mensch auftaucht in ihrem Bewusstsein.


Und die Tiere sind ein Gegenüber für die Frau – nachdem keine Menschen mehr da sind.

Gedeck: Ja, auch wenn menschliche Beziehungen nicht mehr möglich sind, gibt es doch immer so etwas wie ein inneres Gegenüber. Das macht die Würde des Lebens aus.

Schneider: Das habe ich auch so verstanden. Wieder eine spirituelle Erfahrung, die sich über die Tiere, die Natur, die Sterne vermittelt. Eine Möglichkeit, zu sich zu kommen, sich wieder zu fangen und auch auf eine weitere Zukunft zu blicken. Da ist ein Grundvertrauen zu sich und zum ­Leben da.

Herr Schneider, brauchen Sie auch eine Wand zur Welt, um frei zu sein? Brauchen wir zum Beispiel Tabus?

Schneider: Ja. Freiheit ist ja nicht Gren­zenlosigkeit, sondern braucht einen definierten Raum. Sie ist etwas, wofür wir sorgen oder was wir gesellschaftlich organisieren müssen. Insofern haben Tabus und Schranken ihren guten Sinn – auch wenn Tabubrüche manchmal nötig sind.

Gedeck: Geht es eigentlich um Freiheit oder um Sicherheit, wenn Facebook-­Nutzer und Internetjunkies alle drei Minuten jemandem etwas schreiben? Es scheint eine Art Versicherung zu sein: Ich bin noch da. Vielleicht hat es damit zu tun, dass die Leute nicht mehr ­wissen, was Leben, was Gott eigentlich ist.

Schneider: Ja, es gab immer die Frage, wie man mit seiner ungesicherten Existenz zurechtkommt. In dem Film heißt die Lösung: Verantwortung und Liebe. Die beiden helfen, trotz Angst und Verzweiflung weiterzuleben. Das ist tief religiös. Die Verantwortung, die ich in der Welt übernehme, und die Liebe zu Gott und den Menschen – das sind die Punkte, die mich leben lassen.

Gedeck: Ja, die Frau übernimmt Verantwortung, sie entwickelt eine Kultur, das ist das Erste, was sie tut. Sie überlegt, was sie mit den Kartoffeln machen muss, inspiziert ihre Vorräte und macht auch gleich eine Ordnung daraus.
 

"Eine persönliche Auseinandersetzung mit Glaube und Religion ist ein Geschenk"


Ist Glauben auch so eine Ordnung, die man üben muss?

Schneider: Ja. Glaube braucht Riten, Formen von Frömmigkeit, Wiederholung, den Rhythmus des Kirchenjahrs.

Gedeck: Das Beten hat ja auch eine Abfolge, das Vaterunser zum Beispiel ist ein Wortraum. Wenn du sprichst, fängt er an, seinen Reichtum zu entfalten, du kannst plötzlich hineingehen in dieses Gebet, und es gibt dir unglaublich viel. Aber nicht, wenn du es einmal in zehn Jahren sprichst.

Schneider: In der Tat. Auch Luthers Morgensegen, sein Abendsegen sind wunderbare Texte, die man bis ­heute beten kann.

Gedeck: Die wenigsten Menschen haben sich damit beschäftigt, was Glaube und Religion sein können. Sie versuchen es gar nicht. Dabei ist eine persönliche Auseinandersetzung ein Geschenk.

Schneider: Diese Auseinandersetzung ist aber auch Arbeit, und sie kann einen in Krisen führen. Wer ständig nur Gleichmaß und Vollkasko haben will, nichts an sich heranlassen, für den ist das schwer. Man muss etwas riskieren.

Gedeck: Und vielleicht aushalten, dass man erst mal keine Antworten kriegt. Oder scheitert.

 

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Nikolaus Schneider und Martina Gedeck über das Gespräch:

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Schade, dass das Foto den Text konterkariert. Das Interview habe ich gern gelesen. Beide Interviewpartner sind gut aufeinander eingegangen, und mit Tiefgang in den Themen haben sie sich auch persönlich geäußert und aneinander angenähert.
Warum aber dieses fürchterliche Foto? Die Interviewpartner werden hineinkopiert in ein Foto vom Saal der EKD in Berlin und posieren wie zwei Darsteller auf dem Glasboden als Bühne. Muss das sein?
W. Wild, Achim

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In der Online-Ausgabe ist die Innenarchitektur des "Blauen Saal" der EKD in der Charlottenstraße in Berlin kaum zu erahnen.
Er hat tatsächlich einen Milchglasboden. Einen leuchtenden. Licht von unten.

Drum herum (Wände, Säulen, Decke) alles dunkeltaubengraublau ohne Rücksicht auf die bauliche Struktur des Saales. An den Schmalseiten diese Vorhänge. Ich weiß nicht genau, woran mich das erinnert oder was ich dazu assoziiere.
Ich bewege mich überlicherweise nicht in vergleichbaren Räumlichkeiten.
Vielleicht Hollywood?

Es ist eigentlich nicht wichtig, dass es diesen Raum in Berlin oder ähnliche Räume sonst wo gibt. Was mich befremdet hat: Es ist ein Saal der EKD.
Was ich nicht verstehe: was soll mit dieser Innenarchitektur bekundet werden?

Wer soll mit dieser Innenarchitektur und auch mit dieser Pose auf dem Foto wo abgeholt werden (um mal einen gebräuchlichen kirchlichen Duktus zu verwenden)?

Ich finde das alles befremdlich.