Illustration: Jon Frickey
Der Zug kam zu spät, die Flugzeuge sind zu laut, die Abrechnung stimmt nicht – da will man sich beschweren. Und bei wem? Bei Menschen, die gar nicht schuld sind: Mitarbeitern der Abteilung Kundenreaktionsmanagement.
Die müssen sich manchmal ganz schön was anhören
Tim Wegner
25.09.2012

„Schalten Sie den Fluglärm ab“

Es hängt vom Wind ab, wie oft sich Leute über den Fluglärm beschweren. Ich habe mehr Beschwerden, wenn der Wind sich dreht. Dann ändern sich auch die An- und Abflugrouten, und die Flugzeuge machen über Leuten Krach, die vielleicht tagelang ihre Ruhe hatten. Wenn es bewölkt ist, rufen weniger an, weil die Wolken den Schall anders verteilen und abmildern. Seit Oktober 2011, als die neue Landebahn eröffnet wurde, gibt es viel mehr Beschwerden. Wenn man plötzlich unter einer Einflugschneise lebt, fühlt man sich vor den Kopf gestoßen.

Die meisten wollen Frust ablassen

Eine Fluglärmbeschwerde dauert im Schnitt fünf Mi­nuten. Wenn die Anrufer eine schriftliche Antwort wünschen, nehme ich zuerst Namen und Anschrift auf. Den meisten Anrufern geht es aber darum, Frust abzulassen.  Manche haben sich bis zu 20 Flüge notiert, die ihrer ­Meinung nach zu laut waren. Die zählen sie dann alle auf. Wenn jemand wütend ist, lasse ich ihn reden. Ich kann nicht sagen: „Ich verstehe Ihren Ärger, aber Ihre Region wird wetterbedingt doch nur an 25 Prozent aller Tage im Jahr überflogen“ – das wirkt belehrend und macht die Wut noch größer. Ich nehme die Beschwerden auf, damit die Fachabteilungen sie abarbeiten können. War ein Flugzeug zu niedrig? Stimmte die Flugroute nicht?
Mehr als zuhören und weiterleiten bleibt mir meistens nicht. Ich rede nicht dagegen an, wenn jemand sofort eine Klimaanlage verlangt, weil er das Fenster nicht mehr öffnen mag. Viele glauben, dass ich sofort helfe, ohne Antrag. Das geht natürlich nicht. Aber ich gebe das Anliegen ­weiter. Dann wird etwas aus der Wut, weil der Anrufer Post mit Informationen bekommt. Vielleicht lebt er ja in einer Schutzzone und weiß nach seiner Beschwerde, wohin er den Antrag auf Lärmschutzmaßnahmen schicken muss. Dann war ich ein nützlicher Blitzableiter.


Manchmal schaffe ich es auch, Anrufer zu beruhigen. Neulich rief eine Frau an, die nicht in den Schlaf finden konnte. Ich erzählte ihr, dass ich oft nachts arbeite und Ohrstöpsel nehme, wenn am Tag nach meiner Nachtschicht bei mir im Haus Lärm ist. Die Frau hat sich bedankt. Aber bei Beschwerden ist das selten. Lob gibt es auch, das bekommen wir, wenn Anrufer Informationen suchen: Welche Bahnlinie fährt zum Flughafen? Gibt es ein Fundbüro? Auf solche Fragen haben wir immer eine Antwort, das kommt gut an.

Wenn jemand am Telefon weint, muss man belastbar sein

Klar, wenn eine Mutter vor Verzweiflung am Telefon weint, weil sie sich um die Kinder sorgt oder um den Wert ihres Hauses fürchtet, muss man belastbar sein. Ich habe gelernt, mit solchen Anrufen umzugehen. Dafür gibt es Schulungen, die über mehrere Tage gehen. Ich finde auch, dass ich das können muss, das Abhaken. Der nächste Anrufer hat ein Recht darauf, dass ich konzentriert bin.


Ich mag meine Arbeit. Als ich zehn Jahre alt war, haben wir einen Ausflug zum Flughafen gemacht. Ich war gar nicht mehr nach Hause zu kriegen. Später zogen wir nach Heusenstamm ins Rhein-Main-Gebiet, da bin ich ganz oft mit dem Fahrrad zum Flughafen. So eine Passion bleibt. Und wenn ich arbeite, habe ich einen faszinierenden Blick auf das Vorfeld!

Perry Döring ist Mitarbeiter im Communication Center der Fraport AG. Die Einrichtung eines Fluglärm-„Infofons“ war ein Ergebnis der Mediation, die dem Ausbau des Frankfurter Flughafens vorausgegangen war

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„Ich will Ihren Chef sprechen!“

Welche Beschwerden kommen bei Ihnen in der Bundesagentur für Arbeit an?


Anton Schosch: Die dicken Dinger, von denen die Leute meinen, das müsse der Vorstand wissen. Das passiert über E-Mails, Briefe oder telefonisch und wird an meine 20 Kolleginnen und Kollegen und mich weitergeleitet. „Bitte nehmen Sie mir den Kunden ab, der will unbedingt den Chef sprechen!“ – so in etwa geht das los. Der Chef, das ist übrigens der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur, Frank-Jürgen Weise.

Aber Sie sind der Herr Schosch!

Das ist oft die erste Reaktion der Kunden. „Wie, Sie sind nicht der Herr Weise? Ich will aber den Weise sprechen.“ Das geht natürlich nicht, auch wenn Herr Weise immer wieder Einzelfällen nachgeht. Er möchte wissen, was daraus wird. Das ist seiner christlichen Grundhaltung geschuldet. Und bestimmt nicht selbstverständlich – immerhin steht er einer Behörde vor, die über 100 000 Menschen beschäftigt!

Aber Sie müssen trotzdem erklären: „Weise? Direkt? Das geht nicht!“

Ich frage zurück: „Glauben Sie, dass, wenn ich Frau Merkel sprechen will, sie direkt ans Telefon geht?“ Das versteht jeder. Meis­tens wollen die Anrufer dann wissen, wer ich bin, was ich bewirken kann.

Haben Sie ein Beispiel?

Eine laute Stimme am Telefon: „Ihr Weise fordert im Interview, gegen den Fachar­beitermangel vorzugehen. Der Mann hat keine Ahnung! Ich bin ein Facharbeiter, 50 Jahre alt und seit elf Monaten arbeitslos. Einen Vermittlungsvorschlag habe ich ­bisher bekommen, der war nix. Bald bin ich Hartz IV. Ihr seid Schnarchnasen!“

Was können Sie so einem Anrufer sagen, ohne ihn zu enttäuschen?

Ich habe ruhig erklärt, dass ich eine Notiz machen werde und diese noch am selben Tag beim Vorstandsvorsitzenden auf dem Tisch liegen wird. Er war wie verwandelt. Jemand hört ihm zu, seine Situation ist uns eben nicht egal.

Was ist daraus geworden?

Wenn ich dem Chef so eine Notiz vorlege, habe ich das Anliegen in nahezu allen ­Fällen schon mit der Arbeitsagentur vor Ort geklärt. Ich habe die Teamleiterin gebeten, sich den Fall mit ihren Leuten bei einer Tasse Kaffee noch mal genau anzusehen. Der Mann wurde umgehend zu einem Gespräch eingeladen, damit man noch mal  alle Möglichkeiten mit ihm durchgehen kann. So was kann ich nur machen, weil der Chef mir absolut freie Hand lässt.

Sind Anrufer verzweifelt?

Einige ja, und wenn ich merke, dass sie noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft haben, berate ich sie, was sie noch tun können. Bei maximal ein bis zwei Fällen im Jahr kann ich den Menschen nicht so weiter­helfen, wie sie sich das vorgestellt hatten.

Wie geht es Ihnen dann?

Wenn jemandem ein einziger Tag fehlt, um Anspruch auf Arbeitslosengeld I zu haben, bin ich auch machtlos. Das belastet mich nicht, weil ich es nicht ändern kann. Klar, manchmal bin ich für einen Moment traurig. Aber wir sind eine Behörde. Wir  setzen die Gesetze um, die die Politik mehrheitlich beschließt. Wir „verpassen“ keine Sperrzeiten, wir müssen sie kraft der Gesetze nur manchmal umsetzen. Wir „erpressen“ niemanden, eine Eingliederungsvereinbarung zu unterschreiben, das Gesetz fordert es aber. Dieses Wissen hilft mir – und auch vielen Anrufern. Sie werden nachdenklich. Dann können wir gemeinsam nach Wegen durch den Paragrafenwald suchen. Jede Beschwerde ist auch ­eine Chance, zu erkennen, wo in unserem innerdienstlichen Getriebe die Sandkörner stören. Wir müssen Beschwerden sehr ernst nehmen. Manche sind Gold wert.

Anton Schosch arbeitet als Kundenreaktionsmanager für den Vorstand der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg

 

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„Kein Sitzplatz in der Kirche am Heiligabend“

Die Predigt war niveaulos, das Orgelspiel ein Geklimper. Wir waren beim Erntedankfest, aber kein Kürbis, kein Weizen, kein Apfel in der Kirche! An Heiligabend gab es keinen Sitzplatz für uns. Warum wird im evangelischen Kindergarten eigentlich nie gebetet? Wir zahlen seit Jahren Kirchensteuer, und der Pfarrer will auch noch eine Extragebühr für die Trauung. Wir haben unserer Pfarrerin mehrere Hochzeitsmärsche vorgeschlagen, keinen hat sie für die Trauung zugelassen. Wir ­wollen unser Kind Samstagnachmittag taufen lassen, aber der Pfarrer sagt, das geht nur im Gottesdienst am Sonntagmorgen. Unsere Kinder sollten im Religionsunterricht das Thema Christenverfolgung durchnehmen, aber die Religionslehrerin findet, die Kreuzzüge waren schlimmer. Die Moschee in unserer Stadt wird höher als der Kirchturm, warum macht die evangelische Kirche nichts dagegen?

Quelle: Mitgliederorientierung der Evangelischen ­Kirche von Hessen und Nassau - und wenn Sie sich beschweren wollen über die Kirche? Am besten direkt die Pfarrerin, den Religionslehrer, den Kirchenvorstand
ansprechen. Wer dort nicht weiterkommt – den leitenden Geistlichen (Bischof oder Präses) Ihrer Landeskirche anschreiben oder direkt dessen Referat für Öffentlichkeitsarbeit.

 

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„Und wie kann ich Ihnen jetzt helfen?“

Herr Wirth, Sie trainieren Menschen, die mit den oft auf­gebrachten Beschwerdeführern zu tun haben. Wie kann man lernen, selbst ruhig und freundlich zu bleiben?


Christian Wirth: Man muss herausfinden, in welcher Rolle der Anrufer gerade agiert; wir nennen das den Ich-Zustand.

Welche Rolle kann das sein?

Es gibt drei Rollen. Das Kind-Ich, das Eltern-Ich, das Erwachsenen-Ich. Das Kind-Ich agiert wie ein kleines Kind, das fordert, rein nach Gefühl: „Ich will das aber so haben!“ Oder: „Ich will, dass jetzt sofort was passiert!“ Das Eltern-Ich agiert besserwisserisch: „Ich bin viel erfahrener und schlauer, also hat das jetzt so zu funktionieren, machen Sie das jetzt so!“ Das Erwachsenen-Ich ist ruhig, sachlich und objektiv.

Und Menschen, die Beschwerden aufnehmen, wollen am besten das Erwachsenen-Ich sprechen?

Ja, weil das Gespräch dann neutral und offen verläuft. Sonst ist das wie von Kind zu Kind oder von Kind zu Eltern – nur Streit. Das heißt: Die Mitarbeiter im Reklamationsmanagement müssen selbst darauf achten, im Erwachsenen-Ich-Zustand zu agieren.

Und wie bekomme ich Anrufer ins Erwachsenen-Ich?

Indem ich freundlich darum bitte, mal kurz innezuhalten. So ein Satz könnte mit „Was ist das Problem und wie kann ich Ihnen helfen?“ beginnen. Oder ich höre zu, wie der Anrufer sich in seiner Kind- und Erwachsenen-Rolle – ­salopp gesagt – auskotzt. Das macht es manchmal auch leichter. Die Luft kann raus, danach geht es auf der sachlichen Ebene weiter.

Braucht es eine bestimmte Vorbildung, um im Beschwerde­management zu arbeiten?

Nein, eigentlich nicht. Aber in der Regel kommen Menschen zu uns, die schon im Kundenkontakt stehen. Kein intelligenter Unternehmer kommt auf die Idee, einen ­Praktikanten dahinzusetzen.


Aber freundlich-zugewandt sollte man schon sein, oder?

Darüber kann man streiten. Ich kann ja auch freundlich sein und mich trotzdem nicht um die Reklamation ­kümmern. Dann werden Sie nur noch wütender, zu Recht! Ich würde eher sagen, man braucht eine gute Auffassungsgabe. Worum geht es, was ist das Problem? Das ist die Basis.

Wenn Menschen, die sich beschweren, pöbeln oder be­leidigend werden. Darf man dann auflegen?

Das ist die schlechteste Lösung. Mein Tipp: „Ich notiere mir Ihre Telefonnummer und rufe Sie in zehn Minuten zurück, nachdem ich Ihr Anliegen intern geprüft habe!“ Dann kann die Welt schon anders aussehen.

Christian Wirth ist Geschäftsführer der TQM Training & Consulting GmbH. Das Unternehmen aus Heilbronn bietet Seminare zum Thema „Reklamationsmanagement“ an

 

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„Der Nachbar ist zu laut“

Die Baugenossenschaft „Wiederaufbau“ in Braunschweig verwaltet 10 000 Wohnungen. Gudrun Schweimler-Löffler leitet die Abteilung „Soziales Management“. Sie sagt: ­„Meistens können wir vermitteln, nur ganz selten müssen wir mit rechtlichen Konsequenzen drohen.“ In den Beschwerden  geht es häufig um ­dieselben Themen:

1. Hausordnung:
Hausordnungen sind eine Hilfe für ein harmonisches Miteinander, manche Mieter sehen sie aber als Regelwerk, geradezu als „Gesetz“. 

2. Hauswoche
Das heißt: Eine Mietpartei ist fürs Putzen der Etage zuständig. Beschwerden gehen darum, dass das nicht oder nicht ausreichend gut gemacht wird.

3. Ruhestörungen
Musik, die nachts durchs Haus schallt, ältere Menschen, die den Ton voll aufdrehen, Kinderlärm – alles Gründe für Beschwerden.

 

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Klagelieder sollt ihr singen!

Dienstagabend, kurz vor sieben, Frankfurter Bahnhofsviertel. An der Kaiserstraße ist das Bimmeln einer Trambahn zu hören, der Verkehr rauscht, Autos hupen. Bis in den Hinterhof des Gründerzeithauses mit der Hausnummer 37 schafft es der Lärm nicht. Aber die Chormitglieder, die nach und nach ins herrschaftliche Treppenhaus streben, hoch zum Probenraum, haben den Stress der Großstadt noch in sich. Oben wartet Philipp ­Höhler. Der Dirigent will sich Gehör verschaffen, aber irgendwie kommen sie nicht zur Ruhe, die vier Männer und sieben Frauen, die zum Frankfurter Beschwerdechor gehören und heute Abend proben wollen. Eine Frau schimpft: Endlich anfangen, bitte! ­Alle haben zu viel erlebt heute, und das muss raus.

Schlechte Erlebnisse werden zu schönen Tönen

Genau dafür gibt es den Chor. Die Idee, schlechte Erlebnisse in Töne zu verpacken, kam vor rund zehn Jahren auf, in England und Finnland. Schnell gründeten sich überall Beschwerdechöre, der Frankfurter kam 2009 dazu. Jeder, der möchte, kann mit­machen, für 15 Euro pro Monat – Vorsingen gibt es nicht.

Philipp Höhler hat nun alle in einem Halbkreis versammelt. Die Sängerinnen und Sänger lockern sich, schlackern mit den Armen. Dann bücken sich alle, die Beine gestreckt. „Wirbel für Wirbel“, sagt der Dirigent, „und macht dabei ‚fff‘, ‚fff‘, ‚fff‘!“ ­Danach kommen Stimmübungen dran, hohe und tiefe „Nnnn“-Laute wabern durch den Raum, wichtig ist, wie die Zunge im Mund liegt. Normalerweise wäre jetzt Gelegenheit, Beschwerden vorzutragen.

Frust über die Bankenkrise? Einfach weggesungen!

Hans-Joachim Steinbrück, der den Chor initiiert hat und am Klavier begleitet, bringt die Klagezeilen in eine Melodie – und der Frust kann weggesungen werden. Der Frust über den Regen, über den Krach der Nachbarn oder den Streit mit der Frau. Oft kommen auch politische Botschaften dabei heraus. Während der Occupy-Proteste hat sich der Chor über das Finanzsystem beklagt.

Heute ist das anders, der Beschwerdechor will bald auftreten, bei „Chor für Chor“, am 6. Oktober in Frankfurt, Motto: „Un­gerade kommt mir gerade recht!“ „Wir haben nur noch drei Proben“, sagt Philipp Höhler, dann geht’s los mit dem Singen. „Erst mal das Beschwerdechorlied.“ Ein Klassiker, niemand braucht das Notenblatt: „Und liegt dir was schwer im Magen / du könntest schreien, heulen, jammern, klagen, oje!“ Die ersten Mienen hellen sich auf, es wird viel gelacht, auch wenn jetzt erst der komplizierte Teil kommt: Für das Chorfest hat Steinbrück, ­früher Kirchenmusiker, ein Lied geschrieben und arrangiert, es ist mehrstimmig, eine Herausforderung für den Chor. „Ungerade ist das Geheimnis / ungerade lebt von so viel / Ungerade sei unser Leben / Ungerade führt auch ans Ziel.“ Alle sind konzentriert, bis die Probe um halb zehn vorbei ist.

Als die Leute am Ende des Abends das Treppenhaus runterkommen, sind sie ruhig und fröhlich – und die Stadt, zehn Schritte entfernt von dem Hinterhof, ist ganz weit weg.

Der Beschwerdechor sucht Mitglieder – und Beschwerden, die man per E-Mail schicken kann: beschwerdechor@gmx.de

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Der Schaffner ist am Zug

Thomas Frick hat die vier blauen Bahnsitze in die Ecke des Seminarraums gerollt. Er brauchte Platz, um sich vor den neun Männern, die im Halbkreis sitzen, aufzubauen und richtig Theater zu machen. Frick, ein großer, stämmiger Mann, ist Seminarleiter und hat sich den Kopf rotgeredet. Er fuchtelt mit den Armen, brüllt einen Mann nach dem anderen an, attackiert sie. Nur die Schaufensterpuppe an der Tür mit der Bahnuniform verzieht keine Miene. Alle anderen lachen, weil ­keiner es auf Anhieb schafft, zurückzubrüllen. „Hören Sie auf, Sie tun mir weh!“, sollen sie rufen. Frick ist das wichtig; das sei viel besser, als „Hilfe!“ zu schreien. ­Warum? „Dann gucken Fahrgäste weg, könnt Ihr sicher sein!“

Die neun Männer sind Kundenbetreuer und -prüfer im Nahverkehr, und wie alle ihre 750 Kolleginnen und Kollegen bei der Deutschen Bahn Regio NRW besuchen sie alle zwei Jahre Fricks Kurs. „Sicherer Umgang mit Kunden im Zug“ steht an der Tür des Seminarraumes. Die Männer, die sonst Regionalzüge begleiten und Fahrscheine kontrollieren, üben den Umgang mit den unanständigsten Formen der Beschwerde:  Pöbeleien, Beleidigungen, Gewalt.
Frick ist ein heiterer Mensch, er redet gern mit den Leuten. Er will nichts dramatisieren, „immer auch an die 99 Prozent denken!“, sagt er, „ich kenne Zugbegleiter, die hatten 40 Jahre keine Probleme“.

Arschloch, Idiot, Nazi: das schockt keinen mehr

99 Prozent sind gute Fahrgäste. Heißt aber auch: 0,5 bis ein Prozent der Kunden – in NRW benutzen täglich eine Million Menschen den Nahverkehr – machen Schwierigkeiten. Darunter fällt das, was Thomas Frick „unangemessene Kommunikation“ nennt: „Worte wie ‚Arschloch‘, ‚Idiot‘, ‚Nazi‘, ‚1-Euro-Jobber‘“.
Bei Tom Gerbenstedt (*Name geändert) sind drei Erlebnisse in Erinnerung geblieben. Seit 1989 ist er Zugbegleiter, Heimatbahnhof Düsseldorf. Der Vater war bei der Bahn, vier Onkel auch. Wenn er „Bahner“ genannt wird, lächelt er, das ist ein Kom­pliment. Macht ihm der Beruf Spaß? „Einigermaßen.“ Einmal hat ihm ein Fahrgast die Mütze vom Kopf gehauen, als es noch Mützenpflicht gab. Ein anderer hat nach ihm geschlagen. Drei Jungs haben ihn bespuckt, weil er im Zug angeblich zu dicht hinter ihnen hergegangen war. Sie stiegen lachend in Duisburg aus.

„Einigermaßen“ – dass Leute so sein können, hat Gerbenstedt die Freude an seinem Beruf verhagelt, die Ausraster haben am Bahnerstolz geknabbert. Manchmal macht er sich Sorgen; er hat gelesen, dass Stresshormone Ablagerungen in den Blutbahnen begünstigen. „Wenn mir zu Schichtbeginn einer blöd kommt, trage ich das zehn Stunden mit mir herum, ich krieg’ das ja nicht aus den Adern gelaufen.“

Beschwerden? Die gibt's über die Zugbegleiter nur selten

Fricks Seminar hilft ihm sehr, es sind die Kleinigkeiten, die er sich vorher nicht bewusst gemacht hat. „Der Thomas sagt, wir sollen nicht nach den Fahrscheinen greifen; wir sollen die Innenseite unserer Hände reichen – wirkt viel freundlicher. Hab ich richtig verinnerlicht.“ Vor fünf Jahren hat die Bahn Frick engagiert. Die Bewertungen, die Kundenbetreuer im NRW-Nahverkehr in Befragungen bekommen, sind seitdem besser geworden; über sie gibt es nur noch selten Beschwerden.

Sein größtes Lob hat Gerbenstedt bekommen, lange bevor es Fricks Kurse gab. Mitte der Neunziger war es, als ein Fahrgast eine ultimative Beschwerde an ihn richtete, eine übers Leben. Er wolle sich umbringen, sagte der Mann kurz vor ­Gütersloh. Gerbenstedt hat dann alles in Bewegung gesetzt, vom Zug aus eine Beschreibung an die Polizei durchgegeben. Die hat den Mann am Bahnhof nach seiner Beschreibung erkannt und angesprochen.

Später hat er ihn im Zug wiedergetroffen. „Er meinte, es war richtig, dass ich mir seine Beschwerde angehört habe.“

 

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Unmut im Internet: Und ewig weht der „Shitstorm“

Ein Fernsehabend, endlich Zerstreuung! Aber die Bilder von toten Vögeln, in denen Miniplastikteile stecken, beunruhigen. „Plastik über alles“ heißt die Dokumen­tation von Ian Connacher. Überall Plastik, das – in Mikroteilchen zerfallen – die Meere verschmutzt. Bah!

Oje, auf dem Couchtisch steht – eine Plas­tikflasche. Immerhin Mehrweg. Aber was heißt das schon? Auf der Homepage des Getränkeherstellers gibt es ein Feld für „Allgemeine Anregungen“. Ich frage: Werden die Flaschen wieder aufgefüllt?

Die Antwort kommt zwei Tage später, die Mitarbeiterin aus dem Kundenservice und Qualitätsmanagement schreibt: Die Flaschen werden bis zu 20 Mal gereinigt, dann sind sie abgenutzt – werden aber zu Granulat zermahlen und recycelt.

Eine beschwert sich, 140 000 gefällt das!

Super! Gewissen beruhigt. Auf Nachfrage erfahre ich, dass der Getränkehersteller fünf Menschen beschäftigt, die ­solche Kundenanfragen bearbeiten – eine eigene kleine Abteilung. Warum? Aus Angst vor dem „Shitstorm“, wie das neudeutsch heißt. Das ist eine Unmutswelle im Internet, die sich per Mausklick verbreitet und den Ruf eines Unternehmens ruinieren kann. Sagt die Pressesprecherin des Wasserherstellers. Beispiele gibt es viele: So hat eine Kundin, die sich vom Kommunikationskonzern Vodafone un­gerecht behandelt fühlte, ihren Frust auf ihrer Facebook-Seite abgelassen. Ihren Beitrag haben 140 000 Menschen gelesen – und zustimmend auf „Gefällt mir!“ geklickt. Dahinter steht eine alte Binsenweisheit. Noch mal die Pressesprecherin des Wasserherstellers: „Wenn Ihnen was Gutes passiert, sagen Sie es ja auch nicht weiter – wenn was Schlechtes passiert, erzählen Sie es jedem, der beim Mittagessen am Tisch sitzt.“

Apropos Mittagessen, in der Kantine hält mir die Kollegin eine Plastikflasche entgegen: „Du auch? Ist aber ohne Kohlensäure – die löst den Weichmacher im Plastik, und der macht impotent.“ – Shit!

 

 

 

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