Christopher, 34:
Ich habe meine Kindheit als schön in Erinnerung. Meine Adoptiveltern waren immer für mich da. Aber ich habe mich ihnen nie hundertprozentig zugehörig gefühlt. Mir fehlt dieses Urvertrauen. Meine leibliche Mutter hatte mich nur ganz kurz gesehen, nach meiner Geburt. Da stand schon fest, dass ich zu Adoptiveltern kommen würde. Auch meine jüngere Schwester wurde von anderen Eltern gezeugt. Wir sind von vornherein aufgeklärt worden. Ich weiß auch schon immer, dass meine leibliche Mutter deutsch ist und mein leiblicher Vater Italiener.
Irgendwann mal habe ich zufällig meinen Kinderpass gefunden. Das hat mir einfach die Tränen in die Augen getrieben. Vorne auf dem Kinderpass war ein Aufkleber mit meinem Namen und meiner damaligen Adresse. Als ich den abzog, stand da was anderes: die frühere Adresse meiner leiblichen Eltern und ein völlig fremder Name. Bernd! Das heißt, wenn ich nicht Christopher wäre, hieße ich Bernd. Bernd, das ist ein ganz anderer Mensch, der ich trotzdem irgendwie bin.
Meine Eltern wollten mich nicht
Ich hatte als Kind und Jugendlicher unterschwellig immer das Gefühl, ich bin auf die Welt gekommen und meine Eltern wollten mich nicht. Und dann kenne ich auch adoptierte Kinder, die als Erwachsene bei der Suche nach ihren leiblichen Eltern ein weiteres Mal von ihnen abgewiesen, gar verleugnet wurden. Das hat mir Angst gemacht.
Auch meine Adoptiveltern hatten Angst. Sie konnten nicht einschätzen, was passiert, wenn ich meine leibliche Familie finde. Heute verstehen sie, wie wichtig es ist, eine Antwort auf die Frage zu bekommen: Wo komme ich her, was sind meine Wurzeln?
Vor ein paar Jahren hat dann meine Schwester ihre leiblichen Eltern gesucht. Sie fand sie über die Adoptionsvermittlerin, die früher unsere Adoptiveltern betreut hat. Diese Vermittlerin hat mir dann einen Brief geschrieben. Ich habe sie besucht, eine alte Frau, sehr herzlich. Seit ihrer Pensionierung hilft sie Leuten, ihre leiblichen Eltern zu finden. Sie konnte sich sogar noch an mich, meine Adoptiveltern und meine leiblichen Eltern erinnern.
Die Adoptionsvermittlerin erinnerte sich noch an meine leibliche Mutter
Sie sagte, das sei damals alles ziemlich dramatisch gewesen, weil der Vater meiner leiblichen Mutter in dem Jahr, als sie schwanger war, gestorben ist. Meine Mutter war erst 15. Kein Geld, keine Möglichkeiten. Nach dem Treffen mit der Vermittlerin ging es Schlag auf Schlag. Sie rief mich gleich am nächsten Abend an: „Ich hab mit deiner Mutter gesprochen, sie will dich unbedingt kennenlernen.“ Puh.
Wir trafen uns bei der Vermittlerin. Ich trat in diesen Raum und dachte: Das ist meine Mutter? Ich glaube, ich hatte mir so eine tiefe Verbundenheit gewünscht. Die ist dann aber gar nicht da. Da sitzt halt eine wildfremde Person.
Ich erinnere mich an eine Jeansjacke und eine recht fesche Frisur. Zur Begrüßung haben wir uns die Hand gegeben, dann so gequatscht. Sie ist unverheiratet geblieben, hat keine weiteren Kinder. Zu meinem leiblichen Vater hatte sie keinen Kontakt mehr. Bei der Verabschiedung sagte sie: „Komm, ich muss dich mal drücken. So schön, dich endlich kennenzulernen.“
Es fällt mir schwer, eine Verbindung aufzubauen. Ich glaube, sie hat mit der Geschichte auch große Probleme. Manchmal habe ich den Eindruck, dass sie versucht, das alles über mich zu bewältigen. Da ziehe ich mich dann lieber zurück. Wir sehen uns maximal zweimal im Jahr, meist nur zu Familienfeiern.
Irgendwann rufe ich auch meinen Vater an
Irgendwann hat meine leibliche Mutter über eine alte Freundin Kontakt zu meinem leiblichen Vater geknüpft. Bei einem Treffen hat er ihr erzählt, dass er verheiratet ist und zwei Kinder hat. Seit bald einem Jahr habe ich seine Telefonnummer. Ich hab nicht angerufen. Hab mich nicht getraut. Wie fängt man so was denn an? Ruft man an und sagt, „hi, lass uns mal treffen“? Und jetzt habe ich auch noch Angst, dass der sauer ist, weil ich mich seitdem nicht gemeldet habe. Er weiß, dass ich seine Nummer habe. Die alte Abweisungsangst. Aber ich weiß, ich werde es irgendwann tun. Vielleicht in ein paar Monaten.
Protokoll: Moritz Schröder
Anfänge: Wo komme ich her - chrismon 10.2012, S. 62
Guten Morgen!
Neulich im Verlauf eines Vortrags hörte ich folgende Sequenz, die mir hier ergänzend sehr passend erscheint:
"Bin ich eigentlich willkommen? Wer hat mich willkommen geheißen?" -
"Das Leben hat mich willkommen geheißen. Andernfalls gäbe es mich gar nicht."
Ich finde die Idee, sich äquivalent zu biologisch-genetischen Wurzeln über die Energie des Daseins schlechthin (die man möglicherweise auch "Gott" nennen kann) zu definieren, sehr wohltuend und spontan erhellend.
Frdl. Gruß,
HJAppelt
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