Eindeutig nein. Fünf Fragen und fünf Antworten zum Urteil des Kölner Landgerichts.
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
03.07.2012

Ist die Vorhaut, rechtlich betrachtet, ein schützenswertes Gut?
Eindeutig ja. Das Urteil des Kölner Landgerichts, das vor genau einer Woche veröffentlicht wurde und für jede Menge Aufregung sorgte, ist nach Sachlage völlig korrekt. Ein chirurgischer Eingriff ohne jede medizinische Notwendigkeit ist eine Körperverletzung - zumal bei nicht-einwilligungsfähigen Minderjährigen. Im Fall, der zur Beurteilung anstand, ging es um einen muslimischen Jungen, der zum Zeitpunkt der Beschneidung vier Jahre alt war. Und im Zweifel steht das Recht der Eltern auf religiöse Kindererziehung eben nicht über dem Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und auf Selbstbestimmung. So begründet das Kölner Landgerichts sein Urteil, völlig zu Recht.

Ist die Vorhaut, medizinisch betrachtet, ein schützenswertes Gut?
Sofern sie die schleimige Schicht auf der Eichel schützt, ja. Ohne Vorhaut trocknet die Eichelhaut aus. Dennoch: Auch die freigelegte und an der Oberfläche getrocknete Eichel schmerzt nicht bei Berührung. Das Lustempfinden beim Sex ist nicht beeinträchtigt. Jungen, die aufgrund einer pathologischen Vorhautverengung (Phimose) beschnitten werden müssen, haben gegenüber Jungen mit Vorhaut keinerlei Nachteil. Mehr noch: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt sogar Routinebeschneidungen bei Jungen und Männern in Regionen mit hoher Ansteckungsgefahr von sexuell übertragbaren Krankheiten. Allerdings zweifeln nicht wenige Wissenschaftler den Sinn solcher Empfehlungen an. Insgesamt lassen sich weder Nutzen noch Schaden der Beschneidung wissenschaftlich eindeutig nachweisen.

Wiegt die Religionsfreiheit schwerer als das Recht auf körperliche Unversehrtheit?
Beide Rechtsgüter stehen hier gar nicht gegeneinander. Denn das Recht auf Religionsfreiheit schützt das Individuum, seine Religion frei auszuüben. Sie schützt gerade nicht die Gemeinschaft, wenn sie dem Individuum ihre Religion aufnötigen will. Wenn also Juden ihre Kinder acht Tage nach der Geburt beschneiden, nötigen sie allenfalls dem Kleinkind ihre Religion auf – entgegen dem Grundsatz der Religionsfreiheit. Das heißt aber lediglich: Sie können sich in diesem bestimmten Fall nicht auf die Religionsfreiheit berufen. Eher schon können dies Muslime tun, die ihre Jungen erst achtjährig beschneiden – und dann mit Einvernehmen des Kindes. Doch auch hier gilt der Einwand: Religionsmündigkeit erreicht das Kind allerfrühestens ab Vollendung des zehnten Lebensjahrs. Und dann auch erst stufenweise.

Wird nun eine Klagewelle auf Deutschland zukommen?
Eher nicht. Denn dazu müssten die Geschädigten klagen. Dies sind aber die Jungen, die in ihrer Religion erzogen werden – was in der Regel ihr Einverständnis zur Beschneidung sichert. Und dies sind die Eltern, die von vornherein der Beschneidung schriftlich zustimmen – ansonsten wird sie kein Chirurg vornehmen.

Müssen wir uns nun kollektiv gegen die Beschneidung empören?
Eindeutig nein. Dass Eltern ihren Kindern ihre Religion - mit oder ohne Jungenbeschneidung - aufnötigen, liegt in der Natur des Menschen. Sie könnten ihnen alternativ auch ihre Nichtreligion aufnötigen. So oder so: Um das Aufnötigen kommen sie als Eltern gar nicht herum. Man sollte es besser positiv formulieren: Um ihren Erziehungsauftrag kommen sie nicht herum. Etliche Eltern halten es für einen Teil ihrer kulturellen Identität, dass alle Männer ihrer Gemeinschaft beschnitten sein sollen. In einer freien und bunten Gesellschaft muss es selbstverständlich möglich sein, mit dieser Definition von Identität zu leben - zumal nach allem, was man weiß, beim Beschneiden der Jungen kein medizinischer Schaden entsteht.

Falls sich also deutsche Staatsanwälte infolge des Urteils vom Kölner Landgericht genötigt sehen, gegen jeden zu ermitteln, der nicht-einwilligungsfähige Jungen beschneidet, müsste der Gesetzgeber mit einer Ausnahmeregelung für Klarheit sorgen - für Klarheit zugunsten von Juden und Muslimen. So eine Ausnahmeregelung dürfte allerdings hinfällig sein, sollten medizinische oder psychologische Langzeitstudien doch nachweisen, dass ein beschnittener Mann ein geschädigter Mann ist.

 

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Zitat aus dem Artikel: "Dass Eltern ihren Kindern ihre Religion - mit oder ohne Jungenbeschneidung - aufnötigen, liegt in der Natur des Menschen." Ja wie denn das? Wurde nach dem Glaubensgen jetzt auch noch das Religionsaufnötigungsgen im menschlichen Erbgut gefunden? ______________________________ Zitat: "Sie könnten ihnen alternativ auch ihre Nichtreligion aufnötigen. So oder so: Um das Aufnötigen kommen sie als Eltern gar nicht herum." Lasse ich den Beschneider auf meinen Sohn los, dann nötige ich den Säugling dazu, seine Vorhaut zu verlieren. Verzichte ich auf diese anheimelnde Aktion, dann nötige ich also meinen Sohn dazu, seine Vorhaut zu behalten. Ein sehr interessanter Nötigungsbegriff! Nötige ich in der U-Bahn jemand mit dem Messer, seine Designerjacke herauszurücken, sollte ich mich möglichst aus dem Staub machen, bevor die Polizei kommt. Verzichte ich auf die Nötigung, sondern lese friedlich meine Zeitung, dann habe ich offenbar meinen Nachbarn dazu genötigt, seine Jacke zu behalten. Eine kühne Erweiterung des Nötigungsbegriffes! Sie soll offenbar dazu dienen, der Natur des Menschen etwas anzudichten, was zur Natur der Religion gehört. Es sind die Glaubensinhalte, die Eltern dazu veranlassen, diesen ihren Glauben an ihren Kindern zu praktizieren und ihn auch ihren Sprösslingen schmackhaft zu machen.

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Da in diesem Thread die Namensangabe nicht funktioniert, folgender Nachtrag: Der Kommentar mit dem Titel "Interessanter Nötigungsbegriff" wie auch dieser Beitrag stammt von Iwan dem Schrecklichen.