jetzt direkt in die Gegenwart gesprochen klingen
Tokio nach dem großen Erdbeben. Die Pfarrerin der deutschen Gemeinde hilft, sorgt für ihre Seelen, lädt zu Gebeten und Gottesdiensten in die Kreuzkirche – und berichtet nach Deutschland, wie die Menschen in Japan mit den Ereignissen, den Gerüchten und Befürchtungen fertig werden. Am Mittwoch, 16. März, hatte die Deutsche Botschaft allen Deutschen geraten, die Hauptstadt zu verlassen. Einen Tag später machte sich auch Elisabeth Hübler-Umemoto mit ihrem Mann, einem japanischen Theologen, auf den Weg nach Südwesten. In ihrem Blog http://kreuzkirche-tokyo.blogspot.com schildert sie die Tage kurz vor ihrer Abreise.
Montag, 14. März:
Warum sind die Leute hier nicht gelähmt von Schreck und Trauer? Am Freitag bebte um 14.45 Uhr Ortszeit die Erde. Drei Tage ist es jetzt her, dass ein Tsunami an der Ostküste verheerende Verwüstungen anrichtete. Ich glaube, in Japan ist man inmitten dieser Naturgewalten demütiger als anderswo. Man fügt sich dem göttlichen Plan und beugt sich vor der Gewalt der Natur.
Ein typisches Beispiel ist eine Großmutter, die aus einem zerstörten Gebiet herausgetragen wurde. Sie sagte danach zum Helfer: „Sumimasen“, was übersetzt heißt: „Ich kann deine Hilfe nicht zurückgeben.“ Und dann: „Osewani narimashita“ – auf
Deutsch: „Ich fühle mich schuldig, weil du etwas für mich tun musst, was du normalerweise nicht tun musst.“
Tokio wurde in seiner Geschichte schon oft von Beben und Bränden zerstört. Im 19. Jahrhundert erlebte der deutsche Forscher Philipp Franz von Siebold ein solches Inferno. Voller Verwunderung schrieb er, schon am nächsten Tag seien lachend und scherzend Bauarbeiter angerückt, um ein neues Haus zu bauen. Wenn ich jetzt all die Trümmer sehe, beginne ich zu verstehen, warum man hier Häuser für 30 Jahre baut, sie dann abreißt und neu baut. Nichts ist für die Ewigkeit, das Leben kann innerhalb von
Sekunden vorbei sein. Dennoch konsumieren und feiern die Leute hier leidenschaftlich gerne.
Wir verfolgen gespannt die Nachrichten von den Kernreaktoren in Fukushima. Die Explosion heute vormittag schien heftiger als die vor zwei Tagen in Block 1. Man versichert uns, dass die radioaktive Strahlung die Grenzwerte nicht überschreitet.
Doch Zahlen sagen irgendwie nichts.
Mittwoch, 16. März:
Die Bahnen fuhren. Doch die Stadt war am Abend außergewöhnlich dunkel und ruhig. Nur wenige Menschen waren unterwegs. In unserer Kreuzkirche feierte ich mit
sieben Gemeindemitgliedern einen Gebetsgottesdienst. Jeder erzählte von seinen Eindrücken und Empfindungen. Einer sagte, was wir jetzt brauchen, ist Vertrauen. Kontrollieren können wir nicht, ob die Techniker ihre Kunst verstehen.
Misstrauisch alles anzweifeln, was bekanntgegeben wird, hilft nicht weiter. Wir
haben den Männern im Kernkraftwerk Fukushima Erfolg gewünscht. Dankbar dafür, dass sie für uns ihr Leben riskieren. Und wir vertrauen darauf, dass unser Leben noch anders getragen wird. Wir hörten den Bibeltext vom Sonntag Invokavit, 1. Mose
3,1–24: die Geschichte vom Sündenfall. Wie direkt man jetzt solche Texte in die Gegenwart gesprochen hören kann. Das Singen des Kyrielieds aus Taizé hat enorm befreit. So sind wir wirklich fröhlicher Hoffnung nach Hause gegangen.
Auf der Rückfahrt saßen wir zu fünft in der S-Bahn. Wir waren die Einzigen, die sich unterhielten und lachten. Immer wieder musste ich an Apostel Paulus denken: „Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet.“ Die anderen Reisenden
wirkten angespannt. Es war in Tokio das erste Mal, dass ich abends in der Bahn saß und niemand schlief. Normalerweise ruhen die Pendler reihenweise, um sich auf dem Heimweg zu entspannen und abzuschalten. Alle starrten mit wachen Augen
irgendwohin, verschränkten die Hände oder verfolgten über ihre Smartphones die neuesten Nachrichten.
Auf dem Bahnsteig fallen allmählich Menschen auf, die mehr eingekauft haben als sonst. In einem Supermarkt war Reis ausverkauft, auch Milch und Brot. Leben von Tag zu Tag. Vertrauen, sich fügen und doch weiter hoffen, dass sich alles stabilisiert. Ein Gemeindemitglied hatte die neuesten Messwerte für Tokio: alles normal heute.
Donnerstag, 17. März:
Schienenwege und Küstenstraßen sind zerstört. Daher sind noch immer viele Menschen von Hilfe abgeschnitten. Es ist kalt. Zahlreiche Notunterkünfte können nicht
beheizt werden. Viele Menschen werden krank. Heute sah ich ein Interview mit einem Dialysepatienten: Die medizinische Versorgung im Krankenhaus ist noch gesichert. Doch der Mann hatte seit drei Tagen nichts mehr gegessen, weil keine Lastwagen mit
Lebensmitteln und sonstigen Gütern mehr durchkommen.
Zerstörte Straßen sind das eine Problem, der Mangel an Benzin das andere. Hinzu kommen Gerüchte über atomare Gefahren, die auf eine unverantwortliche Weise hochgespielt wurden. Sie halten viele Lastwagenfahrer davon ab, ins Erdbebengebiet zu fahren. Güterzüge werden über den Westen Japans nach Norden umgeleitet.
Und von dort geht’s wieder in den Süden zurück ins Erdbebengebiet.
Hubschrauber sind pausenlos im Einsatz, aber sie können nicht überall sein.
Aus einem Rathaus im Erdbebengebiet wird getwittert: „Bitte rufen Sie uns nicht mehr an, um uns zu sagen: ‚Gebt nicht auf, wir machen euch Mut!‘ Das ist ein totaler Stress für uns, so mit Anrufen bombardiert zu werden. Außerdem blockieren Sie
unsere Leitungen für die notwendige Kommunikation!“
Donnerstag, 17. März, abends:
Heute sind mein Mann und ich doch nach Nagoya gefahren. Die Stadt liegt etwa 340 Kilometer südwestlich von Tokio. Die Botschaft hatte eindringlich allen Deutschen geraten, Tokio zu verlassen. Zwei Tage hatte es gedauert, bis wir uns dazu durchringen konnten. Aber dann fiel es mir doch leicht. Die ständige Anspannung kommt nicht nur von der Bedrohung, die von der Atomanlage in Fukushima ausgeht.
In den letzten Tagen kamen auch zu viele Anfragen von Medien. Man muss dann hellwach sein, um nicht irgendeinen Blödsinn zu reden. Irgendwann kann man dann nicht mehr.
Auf der Fahrt nach Nagoya fiel mir ständig das Requiem von Johannes Brahms ein: „Herr, lehre mich doch, dass ein Ende mit mir haben muss und mein Leben ein Ziel hat und ich davon muss.“ Fulbert Steffensky hat einmal gesagt: „Nur endliche Wesen sind
geschwisterliche Wesen.“
Wer dem Gedanken nicht ausweicht, dass das Menschenleben endlich ist, wird sich vielleicht leichter mit denen verbinden können, die jetzt so unvorstellbar hart mit dieser Endlichkeit konfrontiert sind – weil sie auf grässliche Weise Angehörige und Freunde verloren haben. Und wer sich nicht endlich denken kann, muss möglicherweise in Zeiten einer so unheimlichen Bedrohung zutiefst um sein eigenes Leben fürchten.
Ich bin sehr dankbar, dass wir doch noch den Gottesdienst gefeiert hatten. Ein wichtige Erfahrung war für mich dabei das Fürbittengebet. Im normalen Leben sind wir so daran gewöhnt, uns mit uns selber zu beschäftigen. Uns weiterzuentwickeln, dazuzulernen, unsere Arbeit zu tun, Beziehungen zu pflegen. In der Fürbitte bewegen wir uns weg von dem Drehen um uns selbst. Und erweitern so unseren Horizont, indem wir auch andere
in den Radius unserer Sorge, unserer Bitten und Wünsche lassen.