chrismon: Im Oktober 1989 arbeiteten rund 91 000 DDR-Bürger für die Staatssicherheit. Politisch und historisch ist das zum großen Teil aufgearbeitet. Aber diese Mitarbeit hat auch weitreichende persönliche Folgen - für die Psyche der Ehepartner und der Kinder. Eine wachsende Zahl Betroffener drängt in psychotherapeutische Beratung. Warum hat es so lange gedauert?
Karl-Heinz Bomberg: Solche belastenden Erlebnisse können Kinder und Partner nicht sofort angehen; erst der zeitliche Abstand ermöglicht es ihnen, das Thema aufzuarbeiten. Außerdem wuchs der Leidensdruck - Unverarbeitetes lässt sich mit zunehmendem Alter eben schwerer unterdrücken. Auch warten manche, bis ihre Eltern gestorben sind. Dahinter steht die Angst, die Eltern zu beschädigen. Die Auseinandersetzung selbst ist schwierig, weil es oft nicht nur ein Elternteil, sondern das ganze Familiensystem betrifft. Man entdeckt auch den Täter in sich selbst, die sogenannte "Identifikation mit dem Aggressor". Das weckt Schuld- und Schamgefühle.
Mit welchen Symptomen kommen diese Menschen denn zu Ihnen?
Sie klagen über Depressionen, Selbstwertprobleme, körperliche Beschwerden oder Lebensängste. Die können sich bis zur Psychose ausweiten. Viele sind in ihren Lebensentwürfen verunsichert, das Leben ist gezeichnet durch Abbrüche, auch in der Partnerschaft. Das resultiert aus der fehlenden Anerkennung durch die Eltern, die das Kind einer Art Zwangsmissionierung unterworfen und dessen Bedürfnisse nicht anerkannt haben.
Bisher werden die Täterkinder in der Öffentlichkeit kaum als Opfer des DDR-Regimes wahr- und ihr Leiden kaum ernst genommen. Viele denken: Andere Opfer des DDR-Systems hat es sehr viel schlimmer getroffen. Aber es sollen bis zu einem Drittel der Täterkinder sein, die unter dem Verhalten der Eltern leiden.
Im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung stehen natürlich die politischen Gegner, Menschen, die in Haft waren, Republikflüchtlinge. Die Täterseite und damit die Täterkinder kommen erst danach in den Blick. Aber zu einer Aufarbeitung der Vergangenheit gehört auch, dass sie als mögliche Opfergruppe sichtbar werden. Damit wird die volle Tragweite der Menschenrechtsverletzungen in der DDR sichtbar. Den Kindern selbst fällt es schwer, sich anderen Menschen anzuvertrauen. Die Schamgrenze ist hoch angesichts der öffentlichen Debatten über die Untaten der Stasi und den Verrat durch inoffizielle Mitarbeiter. Die Kinder haben Angst, zusammen mit ihren Vätern in die Kritik zu geraten.
Ist es wichtig, dass Täterkinder an die Öffentlichkeit gehen?
Ja, die Öffentlichkeit ist wichtig, um Traumatisierungen zu bewältigen. Erst die öffentliche Anerkennung gibt dem erlittenen Unrecht eine Existenz. Wir müssen dabei aber den Selbstschutz der Betroffenen sicherstellen.