Kinderspiele am Tag des Herrn waren verboten, wie ärgerlich! Die Sitze in der Kutsche ihrer Großmutter, mit der man zum Gottesdienst der episkopalischen Gemeinde fuhr – gräßlich eng! Und dann die Familienbibel mit den grausamen Illustrationen, mit der sich Eleanor stundenlang beschäftigte: Nachts bekam sie davon Alpträume. Manches missfiel Anna Eleanor Roosevelt an ihrer christlich geprägten Kindheit. An anderes erinnerte sich die Grande Dame der US-Politik, die nie in ein Amt gewählt worden war, umso lieber: ans Memorieren der Bibelverse sonntagmorgens, an Spaziergänge am Nachmittag, ans Choralsingen nach dem Abendbrot und an die täglichen Gebete.
„Man wuchs mit dem Gefühl auf, dass man an einer großartigen spirituellen Existenz jenseits der Alltäglichkeiten teilhatte“, notierte sie im Dezember 1932, im vierten Jahr der Weltwirtschaftskrise. Da war ihr Gatte Franklin Delano Roosevelt gerade zum Präsidenten der USA gewählt worden. Und sie, die politische Aktivistin und Nichte von Expräsident Theodor Roosevelt (1901–1909), bereitete sich auf die Rolle der First Lady vor.
Keine Frau des 20. Jahrhunderts genießt in den Vereinigten Staaten ein so hohes Ansehen wie Eleanor Roosevelt. Für die heutige Außenministerin Hillary Clinton wie für viele US-Amerikanerinnen ist sie das Vorbild schlechthin. In Deutschland nimmt man vergleichsweise wenig Notiz von der Feministin und Bürgerrechtlerin, die Großes bewirkte, weil sie einen klaren moralischen Kompass hatte und ein Herz für Benachteiligte.
Schon vor ihrem Aufstieg zur Präsidentengattin war Eleanor Roosevelt in den USA recht bekannt. Weil sie sich für einen Verfassungszusatz einsetzte, der die Gleich¬berechtigung der Frau festschreiben sollte. Weil sie mit zwei anderen Frauen innerhalb von drei Jahren eine politische Monatszeitschrift (die „Women’s Democratic News“) gründete, eine private Mädchenschule übernahm und eine Möbelfabrik eröffnete – eines der ersten weiblich geführten Unternehmen des Landes. Und weil sie sich für Arbeiter einsetzte: für geregelte ¬Arbeitszeiten, gegen Kinderarbeit und für eine bessere Gesundheitsversorgung von Müttern und Kindern. 1928 geriet Roosevelt in die Schlagzeilen, da sie verhaftet wurde, als sie für streikende Arbeiter demonstrierte. Jeder Mensch hat seine eigene Würde, hatte sie in ihrer frommen Kindheit gelernt. Als Tochter aus besseren Verhältnissen sah sie sich in der Pflicht, für benachteiligte Menschen einzustehen.
Eleanor Roosevelt eilte ein Ruf voraus, als ihr Mann mitten in der Wirtschaftskrise die Präsidentschaft übernahm. Sie galt als integer und glaubwürdig – und als streitbar. Eine First Lady müsse eine stille Gastgeberin sein, erwarteten viele Bürger. Doch Mrs. Roosevelt gab wöchentliche Pressekonferenzen, schrieb Zeitungskolumnen und reiste durchs Land. Sie schien omnipräsent. Das Magazin „The New Yorker“ machte sich mit einer Karikatur darüber lustig: Ein Bergarbeiter stößt seinen Kumpel unter Tage in der Kohlenmine an: „Ach herrje, ich glaube, da kommt Mrs. Roosevelt!“
Ihren wichtigsten Einsatz hatte Eleanor Roosevelt nach dem Zweiten Weltkrieg. Ihr Mann war kurz zuvor gestorben, sein Nachfolger Harry Truman ernannte sie zur US-Delegierten der Vereinten Nationen. Schnell erwarb sie sich den Ruf einer geschickten Diplomatin. 1947 vertraute man ihr, der juristischen Laiin, die Leitung der Menschenrechtskommission an. Mancher hielt es damals vielleicht für ein aussichtsloses Unterfangen, mit den erstarrenden Machtblöcken in Ost und West universale Freiheitsrechte auszuhandeln. Nicht so Roosevelt. Ein „New York Times“-Reporter schrieb damals: „Die Verhandlungen münden manchmal in ätzende Angriffe auf die USA, wenn Roosevelt abwesend ist. Doch solche Attacken missraten zu Windstößen, wenn sie, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen, pointiert antwortet.“
Nach einem Jahr, am 10. Dezember 1948, nahm die UN-Vollsammlung die wohl bedeutendste Erklärung ihrer Geschichte mit großer Mehrheit an. „Welcher einzelne Mensch sonst hat das Leben so vieler berührt und verändert?“, fragte der amerikanische UN-Botschafter am 10. November 1962, am Tag ihrer Beerdigung. Es sind bestimmt nicht viele.
First Lady, Feministin, Bürgerrechtlerin und Politikerin
Die Präsidentengattin hatte einen wichtigen Job: First Lady. Und noch ein paar wichtigere: als Feministin, Bürgerrechtlerin und Politikerin
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