Martin Suter
Martin Suter, Schriftsteller, Berlin, © 2010 Dirk von Nayhauß
Dirk von Nayhauß
Ein Hühnchen zu rupfen
Gott verlangt etwas von mir, also stelle ich auch Ansprüche an ihn, sagt der Schriftsteller.
Dirk von Nayhauß
07.10.2010

In welchen Momenten fühlen Sie sich lebendig?

Das ist für mich kein besonderes Gefühl, solange ich nicht tot bin, fühle ich mich lebendig. Aber es gibt schon Momente, wo ich mich glücklicher fühle als in anderen. Die haben meistens mit meiner Familie zu tun, wenn ich mit meiner Frau zusammen bin, mit meiner kleinen Tochter, da gibt es viele glückliche Momente. Andere haben mit der Natur zu tun, mit bestimmten Stimmungen. Auf Ibiza sind es meistens frühlingshafte oder herbstliche Stimmungen, wenn das Wetter schlecht war, und plötzlich ist es schön, aber frisch und windig. Beim Kochen habe ich diese Glücksmomente, wenn ich Gemüse aus dem Garten hole, Zwiebeln andünste, das gibt einen Geruch, den ich seit meiner Kindheit kenne. Manchmal hat es mit Alkohol zu tun. Ein Glas Cava oder Champagner am Abend, das sind so ein, zwei Deziliter, da gibt es einen Punkt, wo ich alles schön finde. Nur mehr trinken darf man nicht, dann ist der Moment schnell weg.

Was können Erwachsene von Kindern lernen?

Ich wusste gar nicht, wie viel das ist. Kinder nehmen sich Zeit, sie leben im Moment, das macht sie freier. Dann kann man von ihnen die Unbefangenheit lernen, das Fehlen von Berührungsängsten. Aber auch das Gegenteil: die Strenge, die Unbarmherzigkeit des Urteils, die Kompromisslosigkeit. Ich weiß nicht, ob das alle Kinder haben, aber meine hatten beide diese Unvoreingenommenheit und das Grundvertrauen. Ich auch, ich konnte mir das bewahren. Das ist eine wichtige, eine glückliche Eigenschaft von mir.

Muss man den Tod fürchten?

Den eigenen nicht, aber den Tod der Menschen, die man liebt. Im vergangenen Jahr ist mein dreijähriger Sohn gestorben. Sein Tod hat alles verändert, die Unbeschwertheit von früher ist weg. Ich stehe morgens mit dem Gedanken an Toni auf und gehe mit ihm zu Bett. Es wird nie mehr, wie es war. Ich glaube, das ist etwas, das nie mehr weggeht. Aber ich habe das Glück, ein zweites Kind zu haben, da ist es einfacher, dann kann man nicht einfach trauern, Ana hat ein Recht auf Spaß und gute Laune und Unbeschwertheit. Für unsere Tochter ist Toni noch immer da: Sie spielt mit ihm und spricht mit ihm, er ist ständig präsent für sie, und das hilft mir. Auch das Schreiben hilft, letztlich jede Art, den Kopf mit einem anderen Gedanken zu füllen, das gibt ein bisschen Ruhe. Ich schaue, dass ich mich beschäftige.

An welchen Gott glauben Sie?

Es gibt viele Protagonisten in meinen Büchern, die gläubig sind. Ich war jemand, der diesen Gott suchte, ich hätte gern an ihn geglaubt, man fühlt sich aufgehobener. Ich kenne Menschen, die ganz unbefangen und überzeugt an Gott glauben, das ist schon beneidenswert. Im Moment habe ich aber eine Krise. An einen gerechten und gnädigen Gott glaube ich im Moment nicht, denn wenn es ihn gibt, dann hat er mir ein Kind genommen. Wenn es einen Gott gibt, habe ich ein Hühnchen mit ihm zu rupfen. Dieser Gott verlangt etwas von mir, also stelle ich auch Ansprüche an ihn, und dann nehme ich ihm den Tod meines Kindes übel.

Hat das Leben einen Sinn?

Das ist eine Frage, die mich höchstens in der Pubertät interessiert hat. Für mich ist der Gedanke, dass das Leben keinen Sinn hat, völlig normal. Es wäre schön, wenn man einfach sagte: Das Leben hat keinen Sinn, aber versuchen wir doch, es anständig zu leben, ohne dass es jemandem wehtut. Weit verbreitet ist ja dieser verheerende Fokus auf sich selbst, ob unter Managern, Politikern oder Künstlern. Beim Schriftsteller ist es anrüchig, wenn er zugibt, dass er beim Schreiben an seine Leser denkt. Als reine Kunstform gilt, wenn er nur an sich denkt und nur für sich schreibt. Ich nehme mich hier aus, weil ich an die Leser denke, auch wenn es oft der Leser Martin Suter ist, an den ich denke. Ich stelle mir vor, wie etwas bei mir ankäme, wenn ich es lesen würde.

Welche Liebe macht Sie glücklich?

Die Liebe zu meiner Frau und zu meinen Kindern. Und ihre Liebe zu mir. Die Liebe zwischen meiner Tochter und mir ist unbefangen und unkompliziert. Kinder sind hingebungsvoll, und das ist ansteckend, das macht einen hingebungsvoll. Die Liebe zu meiner Frau ist eine sehr bewährte, wir kennen uns seit 35 Jahren. Das muss man schon wollen. Es braucht eine gewisse Einstellung zum Leben, man darf nicht jede Sekunde denken, man würde etwas verpassen. Man muss irgendwann sagen: "Das ist eine Entscheidung, und dabei bleibe ich." Wir sind beide Leute, die auch anderen Entscheidungen in unserem Leben treu geblieben sind.

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