chrismon: Sind Sie Deutscher?
Helmut Frenz: Ja, selbstverständlich. Allerdings wurde mir die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt, weil ich die chilenische Ehrenstaatsbürgerschaft angenommen habe. Eine doppelte Staatsbürgerschaft ist in Deutschland offenbar nicht erwünscht.
In Chile sind Sie Ehrenbürger, obwohl man Sie dort mal für unerwünscht erklärte. Was war damals der Anlass?
Ich wurde ausgewiesen, während ich mich in Genf aufhielt. Es hieß, ich hätte Chile in ein schlechtes Licht gerückt. Gleich nach dem Militärputsch von 1973 hatte ich gemeinsam mit anderen Kirchen zwei ökumenische Organisationen gegründet. Ein Komitee zur Rettung der Flüchtlinge, die aus den umliegenden Militärdiktaturen in das unter Regierungschef Salvador Allende sozialistisch regierte Chile geflohen waren. Das chilenische Militär stufte diese Flüchtlinge schon damals als Terroristen und Söldner für Allendes Revolution ein. Die zweite Organisation war ein Komitee zur Verteidigung der Menschenrechte. Vor allem die katholische Kirche half darin, Allendes Parteigänger zu schützen, die eine sozialistische Gesellschaft mit menschlichem Anlitz wollten. Wir haben Genf ständig informiert: den Hohen Flüchtlingskommissar über die Flüchtlinge und die Menschenrechtskommission über die Einhaltung der Menschenrechte. Das kreidete man mir als Vaterlandsverrat an.
Die Komitees gründeten Sie als Pfarrer im Widerstand?
Das Menschenrechtskomitee haben wir ja nicht hinter dem Rücken der Militärregierung gegründet. Sondern ich habe es im Innenministerium gemeldet. Worauf der Minister sagte, für Menschenrechte sei die Regierung zuständig, die Kirche könne mitwirken. Damit kamen wir zurecht.
Sie scheuten aber nicht den Konflikt.
Während meiner Ausweisung wurde der Sekretär dieses Komitees, ein chilenischer Jesuit, ins Gefängnis gesteckt und das Komitee aufgelöst. Der Kardinal-Erzbischof von Santiago, Raul Silva Enriquez, gründete sofort eine neue Organisation zur Verteidigung der Menschenrechte, die Vicaria de la Solidaridad, und bestellte als Präsidenten einen katholischen Bischof. Er machte das Komitee zur kirchlichen Angelegenheit und damit fast unantastbar. Die chilenische Regierung wagte nicht, in innere Angelegenheiten der katholischen Kirche einzugreifen. Was heute manche als ökumenischen Fortschritt preisen würden, haben wir in den 70er Jahren längst gemacht.
Sie ziehen in Ihrem Buch ein Resümee über Ihr Leben als Pfarrer. Worauf kommt es im Pfarramt an?
Zwei Dinge waren für mich wichtig. Einmal: spontan zu handeln, wenn ich den Eindruck hatte, hier herrscht Not. Nicht zu fragen: "Gehörst du meinem Verein an? Was hast du gemacht? Irgendeinen Grund muss es doch geben, dass du unter die Räuber gefallen bist." Sondern zu helfen. Und zweitens, dies als Pfarrer nicht auf die eigenen Schultern nehmen, sondern die Gemeinde mitzunehmen. Nicht Solist sein, sondern Pastor einer Gemeinde, die bewegt werden will.
Woher kommt der Impuls zu helfen?
Beim Gleichnis vom barmherzigen Samariter heißt es: Und es begab sich, dass ein Samariter zufällig denselben Weg ging, den der Überfallene genommen hatte. Für mich ist das entscheidende Wort "zufällig". Ich habe mir meine Aufgaben ja nicht gesucht, mich auch nicht danach gesehnt. Die kamen wie ein Platzregen über mich. In Chile bat mich eine Jugendrichterin, ich möge mich für straffällige Kinder und Jugendliche engagieren, die in einem Männergefängnis untergebracht waren. Dem konnte ich mich nicht entziehen. Ebenso wenig wie später der Anfrage einer Frau aus einer illegalen Armensiedlung, ich möge ihre Kinder beerdigen. Und genau diesen Platzregen habe ich meiner Gemeinde abgeliefert in meiner Predigt und deutlich gesagt: "Rein zufällig ging der Samariter diesen Weg, aber dieser Zufall hat ihn nicht daran gehindert, spontan - und auf dieses Wort kommt es mir an: spontan - das zu tun, was in dieser Situation geboten war: abzusteigen von seinemGaul und dem Verletzten die Wunden zu verbinden. Das ist auch heute notwendig: nicht lange diskutieren, sondern informieren, sein Bekenntnis dazu geben und sagen: "Kommt, helft! " Einladen, nicht abschrecken. Auch diejenigen, über die man das Vorurteil hat: Ach, die machen sowieso nicht mit.
Als Sie sich vor Allendes Wahl in Chile für ein illegal errichtetes Hüttenlager von Landlosen einsetzten, das "Campamento Lenin", kam es aber zum Streit in Ihrer Gemeinde. Warum?
Die Landlosen hatten fremdes Land in Besitz genommen, und einige in der Gemeinde sagten: "Hier wird Recht gebrochen, hier muss die Kirche 'Halt! ' sagen." Ich hatte aber die Zustände im Lager mit eigenen Augen gesehen und konnte den Kirchenvorstand nach und nach überzeugen zu helfen. Es war Winter geworden, das Leben der Kinder war gefährdet. Das Hüttenlager war auf einer nassen Wiese gebaut. Wir stellten ein vorfabriziertes Häuschen dahin, in dem die Kinder während der kalten Winternächte übernachten konnten. Das war Landfriedensbruch, wir hatten auf fremdem Boden ein Gebäude errichtet. Ein Teil der Gemeinde hatte zwar gespendet, aber immer mit dem Vorbehalt: "Nicht sagen, dass ich Geld gegeben habe! "
Wie ging das weiter?
Im Mai war der Kirchenvorstand dann überzeugt, dass wir die Sache legalisieren und das Grundstück kaufen sollten. Ich bekam dafür Geld von Brot für die Welt. Doch als wir dem Besitzer anboten, ihm das Land abzukaufen, wollte der nicht - offenkundig um uns Schwierigkeiten zu bereiten. Da wurden etliche in meiner Gemeinde wach und sagten: "Politisch handeln hier diejenigen, die keine Lösung wollen, die den Konflikt brauchen, um damit Politik zu machen." Die Sache ging schnell zu Ende: Im September war Allende Präsident, der Besitzer wurde enteignet, eine Armensiedlung mit festen Häusern entstand. Und zu meiner Freude erhielten die Militärs auch nach dem Putsch die Siedlung. Ich habe sie vor einigen Jahren besucht und nicht wiedererkannt: Da ist ein schmucker Ort entstanden.
Vor 45 Jahren, als junger Pfarrer, gingen Sie in die Dritte Welt. Wofür würden Sie sich heute engagieren?
Ich würde wieder in die "Welt des Elends", heute nach Bolivien. Dort ist ein Volk im Aufbruch unter der Führung von Staatspräsident Evo Morales, der sich ähnlich wie Allende eindeutig auf die Seite derer stellt, die nicht alleingelassen werden dürfen, die vom Staat einiges erwarten müssen. Morales verteilt Güter um, ohne dabei Repressionen auszuüben. Er zeigt Menschlichkeit. Ich sehe mit Bewunderung in dieses Land, obwohl es mir eigentlich zu hoch in den Bergen liegt.
Weltbank und Internationaler Währungsfonds kritisieren Morales, weil er Bodenschätze und Industrie verstaatlicht. Auch in Deutschland hat er keine gute Presse.
Wie bei Allende sind echte Veränderungen im Gange. Allende hatte eine Agrarreform durchgesetzt und für Lohnabhängige menschliche Arbeitsbedingungen geschaffen. Es wundert mich nicht, dass die Presse nicht wagt, sich gegen Unternehmer zu stellen. Auch für deutsche Parteien ist es ja wichtiger, den Mittelstand zu fördern, als Armen Brot zu geben.
Sie haben auch die "Christen für den Sozialismus" unterstützt. Warum?
Ich bin zwar nicht sicher, dass im Reich Gottes sozialistische Strukturen herrschen, auf jeden Fall aber keine kapitalistischen Strukturen. Allendes Sozialismus war ein großes Fest. Die Leute haben auf den Straßen getanzt, die Demonstrationen waren überwiegend gewaltlos - mit Musik, Tanz, Rotwein und Empanadas, also gefüllten Teigtaschen.
Hat sich die Idee des Sozialismus überlebt?
Nein. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass eine gerechtere Gesellschaft als die heutige möglich ist. Und ich weiß dafür kein besseres Modell als das sozialistische, sofern es demokratisch ist. Das kapitalistische System ist auf Ausbeutung ausgerichtet. Das kann ich nicht gutheißen.
Von der politischen Kirche der 70er ist nicht mehr viel geblieben. Ist Ihnen die evangelische Kirche in Deutschland heute zu unpolitisch?
Einerseits sagt man heute nicht mehr, Kirche muss unpolitisch sein. So viel haben wir inzwischen begriffen. Die Kirche soll zwar nicht für eine Partei Stellung beziehen, wohl aber für die Partei nehmen, die Hilfe und Solidarität brauchen. Es mangelt im politischen Bereich daran, die richtigen Worte zu finden. Wie Heiner Geissler, der frühere CDU-Generalsekretär, es heute tut, wenn er sagt: Harz IV heißt, den Menschen dasjenige, was sie zum Menschsein brauchen, wegzunehmen. Da müsste die Kirche viel deutlicher sagen, dass der Staat so etwas seinen schwachen Bürgern nicht zumuten darf.
Als früherer Generalsekretär von Amnesty International beobachten Sie die Menschenrechtslage. Verbessert sie sich?
Sie verbessert sich bestimmt nicht. Neue Dimensionen sind in unser Bewusstsein getreten, besonders Sklaverei. Etwas, von dem wir bei Amnesty sagten, es sei undenkbar in einer modernen Welt, ist nicht nur denkbar, sondern wird auch praktiziert. Ich denke auch an Kinderarbeit und -armut. Millionen Kinder arbeiten, ohne zu verdienen, müssen Sklavenarbeit leisten. Auch die Situation der Frau in bestimmten Regionen ist neu in den Blick gekommen: Zwangsverheiratung, Beschneidung. Die Arbeitssituation überhaupt weltweit ist katastrophal.
Frustriert Sie das?
Dafür bin ich zu lange in diesem Geschäft. Ich gehe ohnehin nicht von kurzfristigen Erfolgen aus. Wir sogenannten Menschenrechtler müssen immer wieder die nötigen Informationen geben. Und dieses Wissen um Sklaven, Kindersklaven, Kindergefangene, Kindersoldaten muss auch emotional ins Bewusstsein der Menschen dringen. Von uns wird oft verlangt, dass wir sachlich bleiben sollen. Aber der Mensch ist keine Sache, er bewegt sich. Deswegen müssen wir uns um des Menschen willen immer neu bewegen lassen.