Die kommen zu späääät", flüstert die kleine Marie mit gekräuselter Nase. Von der hellgrauen Kirchenbank, auf der sie mit ihrer Mutter sitzt, sieht sie alles, was in der Kirche passiert. Pfarrer Katzmann spricht das Sündenbekenntnis, Eltern mit plappernden Kindern trudeln ein. Sonnenflecken fallen auf Maries Gesicht, die Gemeinde singt das Kyrie. Die Siebenjährige kennt diese Stelle im Gottesdienst. Sie steht schon auf, bevor der Pfarrer zur Kindersegnung einlädt. Mit etwa vierzig anderen Kindern läuft sie daraufhin zum Altar.
Beschaulich wirkt die Bartholomäuskirche in Halle-Giebichenstein von außen, eine romanische Feldsteinkirche mit Schieferdach inmitten eines parkähnlichen Friedhofs oberhalb der Saale.
In Halle ist Religiosität eher die Ausnahme. Nur knapp jeder Zehnte der rund 235000 Bewohner ist evangelisch, etwa zwei Prozent sind katholisch, und abgesehen von wenigen Orthodoxen, Muslimen und Juden ist der Rest konfessionslos. Gut 80000 Menschen verließen die Stadt seit der Wende, trotzdem gelang es der Bartholomäusgemeinde seither, kräftig zu wachsen.
Einfluss pfingstlicher und missionarischer Bewegungen
Mehr als 400 neue Mitglieder hat sie allein seit 1999 dazugewonnen, Umgemeindete aus anderen Stadtteilen, Zugezogene aus dem Westen, auch ein paar Neuprotestanten. Die Zahl der Taufen hat sich verdoppelt auf 34 im Jahr. Kamen vorm Millenniumswechsel um die 90 Menschen zum Gottesdienst, so sind es heute durchschnittlich 150.
Mittwochabends treffen sich Unternehmer, Studenten, Kinder zum Gebet. Sie singen Loblieder mit poppigen Melodien, eine Band macht Musik dazu. Andere Gemeindemitglieder treffen sich bei einem der sieben Hauskreise, beim Chor oder den mehr als zehn Jugend-, Frauen- und Mütterkreisen. Der Einfluss pfingstlicher und missionarischer Bewegungen ist auch im Gottesdienst spürbar. "Mit der Kindersegnung wollen wir zeigen, dass der Heilige Geist wirklich lebendig und spürbar ist", sagt Pfarrer Rainer Katzmann nach dem Gottesdienst.
Marie scheint sich daran gewöhnt zu haben, dass sich ein Mann im schwarzen Talar zu ihr herunterbeugt. Kerzengerade steht sie da, während Katzmann sagt: "Es segne dich Gott, unser Vater, mit geöffneten Augen und Ohren für seine Führungen und Wege, dass du ein Segen sein darfst für alle Menschen, mit denen du lebst." Ob sie etwas versteht?
Zwei Minuten später purzelt ein bunt bejackter Kinderhaufen über den Friedhof zum Gemeindehaus. Jemand hat den Schal vergessen, ein anderer muss mal dringend. Für ihren Gottesdienst ziehen die Klein- und Grundschulkinder in Kinderräume um, die Erwachsenen bleiben in der Kirche unter sich.
Familiengemeinde rund um die Bartholomäuskirche
Fromm geht es in der Bartholomäusgemeinde seit Langem zu. Schon Ende der Achtzigerjahre hatte die Gemeinde eine für ostdeutsche Verhältnisse ungewöhnlich große Ausstrahlung. Zu sogenannten Kirchenwochen kamen damals 200 Menschen für eine Woche auf den Bartholomäusberg, um in der Bibel zu lesen und Spiritualität zu lernen. Vor sieben Jahren schlug ein Familienvater vor, "nicht nur so dahinzuwerkeln", sondern Ziele für die zukünftige Gemeindearbeit zu entwickeln.
Als dann auch ein Gemeindeberatungsinstitut Profillosigkeit und fehlende Anbindung an den Stadtteil Giebichenstein diagnostizierte, formulierte eine Arbeitsgruppe ein Leitbild. Man wolle Gott erleben, einander seelsorgerisch dienen, in Gemeinschaft wachsen, Menschen für Jesus gewinnen und gesellschaftlich verantwortlich leben, hieß es.
Fortan legte die Gemeinde einen Schwerpunkt auf die Arbeit mit jungen Familien, sie wollte sich mehr an wirklichen Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen ausrichten. Sie rief einen Lebensmittelhilfsdienst für bedürftige Menschen ins Leben. Und setzte verstärkt auf den Einsatz Ehrenamtlicher.
Eine Familiengemeinde entstand rund um die Bartholomäuskirche. Vergleichsweise wenige ältere Besucher kommen in den Gottesdienst, einige sind abgewandert. "Ein Punkt, bei dem wir Kritik einstecken", sagt Katzmann. Man habe sich vorgenommen, mehr auf Ältere zuzugehen, gelungen sei das allerdings noch nicht. Seit einem Jahr gibt es zumindest einen Seniorenkreis, der sich mit Fragen rund um Kultur und Christentum beschäftigt. Zudem ist einer der sieben Hauskreise ein Treffpunkt für Ältere.
Jeden Sonntag fünf Kindergottesdienste
"Wir haben die Türen geöffnet", sagt Katzmann. Er meint es wörtlich. Das Gemeindehaus ist nie abgeschlossen, Jugendliche haben Tag und Nacht Zutritt zu den Räumen. Menschen mit seelischen Problemen oder Obdachlose, die etwas zu essen haben wollen, können eintreten und finden im Haus Ansprechpartner und sei es den Pfarrer, der nebenan wohnt.
Seit knapp zwei Jahren gibt es an jedem Sonntag Kindergottesdienste für fünf verschiedene Gruppen. Reinhard Grohmann, im Beruf Chef des gemeinnützigen Vereins Hallesches Familienzentrum, ist an diesem Sonntag für den ersten Teil des Kindergottesdienstes verantwortlich bevor sich die Kinder nach Alter und Geschlecht getrennt auf Gruppen verteilen. Ältere Kinder nach Geschlecht, weil sie sich dann besser mit biblischen Personen identifizieren und darüber sprechen können.
Der Kindergottesdienst folgt einem Konzept der Evangelischen Gemeinde in Neuenburg am Rhein. Deren Arbeitsmaterialien seien kindgerecht, kreativ und beziehungsorientiert, sagt Grohmann. Dafür nehme er eine aufwändige Vorbereitung in Kauf.
Grohmann schmunzelt darüber, dass an manchen Sonntagen der größere Teil der Kirchgänger zu den Kindergottesdiensten verschwindet. "Schon eine verkehrte Welt ob nicht vielmehr die Kinder in der Kirche bleiben und die Erwachsenen rausgehen sollten?", frotzelt er. Während die ein- bis dreijährigen Kinder, die "Bartholomäuse", mit ihren Eltern im Kleinkinderraum verschwunden sind, machen es sich die größeren auf dem sandfarbenen Teppich im Erlebnisraum gemütlich.
In die Gestaltung der Räume wurde viel Geld und Energie gesteckt. Den Eltern war die Atmosphäre der Kinderräume so wichtig, dass sie deren Neugestaltung selbst in die Hand nahmen. Es gibt eine Spielebene, eine Bühne, einen Steinaltar, einen Wickeltisch, an den Wänden in warmen Pastellfarben Palmen und Kamele.
Die Anteilnahme nach dem Tod des Pflegekindes habe ihn tief berührt
Auch die Jugendräume sind neu gestaltet. Für ihr selbst erarbeitetes Konzept gewannen die Jugendlichen der Gemeinde 2001 sogar einen Ideenwettbewerb der Landeskirche 10000 Mark für den Umbau. Mehr als eine Million Euro investierte die Bartholomäusgemeinde in den vergangenen fünfzehn Jahren in Renovierung und Umbau. Neue Horträume entstanden und ein Café im schlichten Design mit mehr Wohlfühlflair als Gemeindesaaltristesse.
Reinhard Grohmann begrüßt die Kinder und hängt sich die Gitarre um: "Mir ist ein Licht aufgegangen, auf deinem Weg ein heller Schein", singt er, mehr als zwei Dutzend Kinderstimmen schmettern laut und inbrünstig mit. Wie fast jedes Mal stellen Konfirmandinnen eine biblische Geschichte in einem Theateranspiel dar auch dies gehört zum Konzept.
Es geht um einen Engel. Was macht man, wenn man einen Engel sieht?, fragt Grohmann. "Ich würde dem lieben Gott einen schönen Gruß ausrichten lassen", sagt Pauline. Wozu denn so ein Engel gut sein kann? Von Jonas kommt es wie aus der Pistole geschossen: "Der kann mir helfen, wenn Einbrecher kommen!" Wie immer sind sechs engagierte Eltern dabei, die sich nach dem Kindergottesdienst Zeit für ein selbstkritisches Feedback nehmen.
Grohmanns sind vor fünf Jahren in die Gemeinde gekommen. Sie haben vier eigene und zwei Pflegekinder. Mit drei anderen Familien leben sie in einer Art christlicher Vereinskommune im alten Bartholomäus-Pfarrhaus an der Saale. Reinhard Grohmann ist als Ehrenamtlicher ein Glücksfall für die Gemeinde, die ihm wiederum persönlich starken Rückhalt gibt. Als vor zwei Jahren eines seiner Pflegekinder starb, war beim Trauergottesdienst die Kirche voll. Die Anteilnahme habe ihn tief berührt, sagt Grohmann.
Drei Tage später. Im Altarraum der Kirche ist ein rotes Tuch aufgespannt, auf dem in handgemalten Buchstaben "Kinderbibeltreff" steht. Knapp 60 Schulkinder sind gekommen, für die mehr als 40 Hortkinder ist der Kinderbibeltreff obligatorisch. Gemeinsam mit den Erzieherinnen führt Kantorin und Katechetin Christine Rehahn die Kinder durch Lieder und Geschichten an Glauben und Bibel heran. Den Kinderbibeltreff gibt es seit September 2006, noch ist er ein Experiment, die Gemeinde will in diesem Frühjahr auswerten, ob er sich bewährt. Christine Rehahn muss ihre Angebote pragmatisch planen, schließlich ist sie mit ihren 75 Prozent auch für die Kirchenmusik und für Kinderarbeit in der Nachbargemeinde zuständig.
Wer so erfolgreich sei, brauche keine Extraförderung
Einige Horteltern haben Probleme damit, dass ihre Kinder sie zu Hause nach Gott fragen, erzählt Christine Rehahn. Sie befürchten Indoktrinierung. Doch Rehahn reagiert auf solche Kritik selbstbewusst. "Schließlich haben die Eltern ihre Kinder im Hort einer Kirchengemeinde angemeldet, und wo Kirche draufsteht, ist auch Kirche drin." Rehahn vermutet, dass die Eltern einfach nicht wissen, was sie auf die Fragen ihrer Kinder antworten sollen. Religiöse Sensibilität fehle vielen, die in der ehemaligen DDR aufgewachsen seien.
Auch die Pfarrstelle von Pfarrer Katzmann sollte im Zuge allgemeiner Kürzungen von 85 auf 75 Prozent gekürzt werden. Die Gemeinde hat sich deswegen mit dem für Pfarrstellenbewertungen zuständigen Kirchenkreis Auseinandersetzungen geliefert. Muss man gerade da kürzen, wo die Arbeit Früchte trägt? Die Kirchenkreisverwaltung erwiderte, wer so erfolgreich sei, brauche keine Extraförderung.
Die Gemeinde setzte sich für Katzmann ein. Vorübergehend musste er in einer gymnasialen Oberstufe Religion unterrichten. "Ein Spagat, der mich innerlich zerrissen hat", sagt Katzmann. Die Streitereien sind vorerst beigelegt. Bei der nächsten Stellenbewertung 2008 werde ihr der Kirchenkreis die hinzugewonnenen 400 Mitglieder anrechnen, hofft die Gemeinde.
"Profilbildung ist doch ganz natürlich", sagt Superintendent Eugen Manser. Er verweist auf die gotische Marktkirche im Zent-rum von Halle, die vor allem Touristen anzieht. Die Paulusgemeinde ist bekannt für ihre Chöre und Instrumentalgruppen, andere Hallesche Gemeinden richten sich vor allem an junge Familien oder an Senioren. Manser schätzt die Bartholomäusgemeinde, die vielen Hauskreise, die vielen engagierten Familien. "Intelligenten Pietismus" nennt er den Frömmigkeitsstil. Als Superintendent schlage sein Herz trotzdem eher für ganz normale Gemeinden, die sich nicht so leicht profilieren könnten.
Mahnwachen und immer einen Kasten Bier
Es ist wieder Sonntag, die Kirchenuhr schlägt elf. Der Gottesdienst ist vorbei. Kinder kommen von der einen, Erwachsene von der anderen Seite auf den Hof. Der ist neu gepflastert, in der Mitte steht eine junge Eiche. Heute wird der Platz eingeweiht. Pfarrer Katzmann hebt die Hände zum Segen und sagt: "Möge der Frieden Christi hier regieren auf dass alle Menschen hier in Frieden zusammenkommen können." Es gibt Glühwein, Tee und Gebäck. Die Sonne blendet, einige setzen sich auf Holzbänke.
Die Bänke hat Jan Sverepa gebaut, seit sechs Monaten kommt er regelmäßig in die Gemeinde. Zunächst wegen seiner fünfjährigen Tochter Charlotte, die vom Kindergottesdienst ganz begeistert ist. Charlotte ist die eine Hälfte der Woche bei ihrer Mutter, die andere bei ihrem Vater. Zum Gottesdienst kommen alle drei, danach ist Übergabe. Inzwischen sei er nicht nur ihr zuliebe da, sagt Sverepa. Er fühlt sich hier selbst gut aufgehoben.
Als Kind war er in die Christenlehre gegangen, eine Art Kinder-Bibelkreis in der DDR. Dort, noch in der Platte in Halle-Neustadt, fand er die ersten Freunde. Zur Zeit der Wende war er in einer anderen Gemeinde. Da wurde viel gebaut, da gab's Mahnwachen und immer einen Kasten Bier. Eine äußerlich rege Gemeinde, aber irgendetwas fehlte Sverepa. "Wenn ich heute jemand von damals treffe, weiß keiner mehr, was man sich erzählen soll." Neulich habe er einen Bartholomäus-Hauskreis besucht, sagt er: "Das ist schon eine andere Welt neben dem ganzen Alltagschaos. Ziemlich nach Plan, diszipliniert und trotzdem zwanglos."
Charlotte hat sich auf eine der Bänke gesetzt, die ihr Vater gebaut hat. Sie guckt zu der kleinen neu gepflanzten Eiche und blinzelt in die Sonne.